Dokumentation Deutschland – in bester Verfassung?

Konferenz diskutiert Möglichkeiten zur progressiven Umgestaltung und verabschiedet Potsdamer Erklärung.

Information

Veranstaltungsort

Schloss Cecilienhof
Neuer Garten
14469 Potsdam

Zeit

23.05.2012

Veranstalter

Axel Krumrey,

Mit

Luc Jochimsen, Kulturpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE; Kerstin Kaiser, Fraktionsvorsitzende DIE LINKE im Landtag Brandenburg; Dr. Ulrich Wilken, Landesvorsitzender der Fraktion Die Linke im Hessischen Landtag; Dr. Volkmar Schöneburg, Minister der Justiz des Landes Brandenburg; Manfred Coppik, Rechtsanwalt, Rechtspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Landtag Hessen; Wolfgang Neskovic, Mitglied des Bundestages, Bundesrichter a.D.; Prof. Dr. Martin Kutscha, Staats- und Verwaltungsrechtler; Dr. Hans-Otto Bräutigam, ehem. Minister der Justiz des Landes Brandenburg; Christian Bommarius, Journalist/Jurist; Klaus Emmerich, Rechtsanwalt/Staatsrechtler u.a.

Themenbereiche

Staat / Demokratie, Geschichte, Deutsche / Europäische Geschichte

Bericht von Axel Krumrey, Rosa-Luxemburg-Stiftung:

Deutschland nicht in bester Verfassung

Ein bisschen bange war den Mitarbeiter/innen im Büro der Bundestagsabgeordneten Lukrezia Jochimsen im Zuge der Vorbereitungen. Nur einen Tag bevor im Schloss Cecilienhof in Potsdam an historischem Orte das deutsche Grundgesetz auf den Prüfstand gestellt werden sollte, sah die Anmeldeliste mau aus. Am Morgen des 23. Mai, dem Tag, an dem 1949 der Parlamentarische Rat das Grundgesetz der Bundesrepublik verkündete, stellte sich die Befürchtung allerdings als unbegründet heraus. Etwa 75 Gäste ließen den Saal zwar nicht aus allen Nähten platzen, freie Sitzmöglichkeiten wurden jedoch rar. Unter erschwerten klimatischen Bedingungen im denkmalgeschützten Ambiente eröffnete Lukrezia Jochimsen pünktlich um 10.00 Uhr und stellte jene provokante Frage, die gleichzeitig auch als Titel der Konferenz diente: „Ist Deutschland in bester Verfassung?“ Das Gemeinschaftswerk von Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie den Linksfraktionen im Bundestag, im Hessischen und im Brandenburgischen Landtag wartete mit prominenten Redner/innen auf.

Kerstin Kaiser, Fraktionsvorsitzende der Linken in Brandenburg, und Ulrich Wilken, Landtagsabgeordneter und Landessprecher der Linken in Hessen, begrüßten die Teilnehmer/innen. Volkmar Schöneburg umriss anschließend die Entwicklung der Verfassungsgeschichte aus brandenburgischer Perspektive. Er bezog sich dabei unter anderem auf den sozialdemokratischen Staatsrechtler Hermann Heller, der in seiner Schrift „Rechtsstaat oder Diktatur?“ bereits 1930 den Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates geprägt habe.  Ei n solches Verständnis von Staatsorganisation und Partizipation habe schließlich auch Einzug in die brandenburgische Landesverfassung gefunden, die 1992 als Ausdruck des „Brandenburger Weges“ durch Volksabstimmung in Kraft gesetzt wurde. Eitelkeiten, so der linke Justizminister, konnten unter direktem Bezug auf die Erfahrungen der DDR und der Wendezeit damals von den politischen Akteuren zurückgestellt werden. Heute sei der Brandenburger Weg längst aufgekündigt. Schöneburg versäumte es nicht, Hans-Otto Bräutigam, den ersten Justizminister Brandenburgs, der ebenfalls unter den Gästen der Veranstaltung weilte, persönlich zu begrüßen. Sein Geist, so Schöneburg, wehe noch immer im Ministerium. Was durchaus als Würdigung der langjährigen Tätigkeit Bräutigams zu verstehen war.

Manfred Coppik, früher Bundestagsabgeordneter der SPD, kam sich zunächst vor, als wenn „er über eine untergegangene Verfassung berichten soll“. Schließlich sei die hessische Landesverfassung das älteste noch gültige Regelwerk dieser Art. Bereits am 11. Dezember 1946 sei sie durch Volksabstimmung in Kraft getreten. Sie könne auch nur durch Volksabstimmung verändert werden, selbst „wenn es sich nur um ein Komma handelt“. Das Besondere an der Landesverfassung sei zunächst die klare Positionierung gegen den Krieg. Hie, so der Jurist, sei die Landesverfassung auch wesentlich klarer als das Grundgesetz. Denn während in Hessen „jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen wird, einen Krieg vorzubereiten“ verfassungswidrig ist, könne mit dem Grundgesetz sogar ein Angriffskrieg gerechtfertigt werden, wenn er „mit guter Absicht erfolgt“. Als zweiten besonders progressiven Ansatz in der hessischen Landesverfassung stellte Coppik die sozialen Rechte heraus. So fordere beispielsweise Artikel 33, dass das Arbeitsentgelt „der Leistung entsprechen und zum Lebensbedarf für den Arbeitenden und seine Unterhaltsberechtigten ausreichen“ müsse. Das verstanden auch die Teilnehmer/innen der Konferenz als klare Ansage für einen gesetzlichen Mindestlohn. Auch eine „automatische Sozialisierung“ unter anderem des Bergbaus, der Energiewirtschaft und der Eisen- und Stahlproduktion sieht die Landesverfassung vor. Allerdings kam es nie zu einem Durchführungsgesetz, sodass dieser Artikel eine Absichtserklärung bleibt. Zudem überlagere natürlich das Bundesrecht die eine oder andere wirklich gelungene Festsetzung der hessischen Landesverfassung, was es umso nötiger mache, das Grundgesetz zu verändern.

Der ehemalige Bundesrichter und jetzige Bundestagsabgeordnete Wolfgang Neskovic hob in seinem Beitrag hervor, dass das Grundgesetz eigentlich für einen demokratischen Sozialismus geeignet sei. Es lege keine Wirtschaftsordnung fest und schreibe zudem vor, dass Eigentum verpflichtet. Allerdings, so sein Statement, sei eine europäische Zukunft nur mit einer neuen Verfassung möglich, denn Europa komme im Grundgesetz kaum vor. Diesen Ansatz griff auch Gregor Gysi auf, der ein erstes Zwischenfazit der Debatte zog. Ihm sei bislang keine Verfassung bekannt, die die gesellschaftliche Realität auch adäquat abbilde. Andersherum sei Gesellschaft auch nie Abbild der Verfassungsregelungen. Beides müsse man aber durchaus stärker angleichen. Und deshalb halte er den Aufruf, eine neue Verfassung für die Bundesrepublik zu formulieren, für unbedingt nötig. Gysi warb damit für die von den Veranstaltern vorbereitete Potsdamer Erklärung. Wie dargestellt böten die Landesverfassungen aus Hessen und Brandenburg, die beide in völlig unterschiedlichen historischen Situationen entstanden sind, viele progressive Ansätze, die eine Bundesverfassung berücksichtigen sollte. Artikel 146 des Grundgesetzes schreibe vor, dass nur eine „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung“ beschlossene Verfassung das Grundgesetz ablösen könne. Diesen Gedanken müsse man aufgreifen und damit gleichzeitig auch einen Fehler heilen, der 1990 begangen wurde, als der Geltungsbereich des Grundgesetzes ohne Volksabstimmung ausgeweitet wurde. Natürlich müsse man politische und gesellschaftliche Mehrheiten für einen solchen Schritt organisieren. Darauf wies in der Diskussion auch Hans-Otto Bräutigam hin. Man dürfe einen Aufruf für eine neue Verfassung deshalb nicht schon so detailliert formulieren, dass man mögliche Unterstützer/innen abschreckt.

Auch bedenkliche Stimmen kamen in den Abschlusspodien der beiden Konferenzabschnitte zu Wort. Nachdem man am Nachmittag in das Haus der brandenburgisch-preußischen Geschichte gewechselt war, verwies ein Teilnehmer darauf, dass unter Beachtung des derzeitigen gesellschaftlichen Klimas auch eine Verschlechterung des Verfassungstextes, hin zu mehr Repression, weniger Freiheit und mehr Kapitalismus, nicht auszuschließen sei. Ein Umstand, den die Veranstalter nicht von der Hand weisen wollten. Er motiviere sie aber gleichzeitig, eine breit angelegte Diskussion mit pluralen Kräften zu führen.

Die Potsdamer Erklärung im Wortlaut