Dokumentation Rassismus und Antiziganismus in Mittel- und Osteuropa

ExpertInnen trafen sich in Ostrava, Tschechische Republik vom 7. - 9.12. 2012. Dokumentation des Austausches über die Diskriminierung der Roma in Europa.

Information

Zeit

07.12.2012 - 09.12.2012

Veranstalter

Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen ,

Mit

Fritz Burschel, Pedro Aguilera Cortés, Amaro Foro, Andreas Koob, Dejan Markovic, Vladan Jeremic, Marika Tändler, Kumar Vishwanathan u.a.

Themenbereiche

Erinnerungspolitik / Antifaschismus, Westeuropa, International / Transnational, Migration / Flucht

Ein Seminar in Ostrawa? Fünf Jahre nach dem sogenannten «Ostrava-Fall» (die Tschechische Republik wurde 2005 vom EGMR der Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 2 1. Prot. EMRK) beschuldigt. Hintergrund war die überdurchschnittliche Unterbringung von Romakindern, zu 56%, in Sonderschulen) war ein Seminar in der nordtschechischen Stadt durchaus geeignet, um mehr darüber zu erfahren, ob sich die Situation der Roma in der tschechischen Republik verändert hat und wie sie sich in den Nachbarstaaten  in Mittel- und Osteuropa inzwischen darstellt.

Etwa 35 TeilnehmerInnen aus der Tschechischen Republik und aus Deutschland, durchweg ExpertInnen zum Thema, trafen sich vom 7. bis zum 9. Dezember 2012 in Ostrava um Erfahrungen auszutauschen, sich einen größeren Überblick über die Lage der Roma in der genannten Region zu verschaffen und um sich stärker zu vernetzen.

Das Programm war anspruchsvoll und zeitlich sehr dicht. Es beinhaltete verschiedene Aspekte des Antiziganismus, Länderberichte aus Ungarn, Rumänien und der Tschechischen Republik, Berichte zu offiziellen Politiken und schließlich «Best Practice»- Erfahrungen zum Inhalt.

Antiziganismus

Der Begriff bezeichnet Rassismus und Vorurteile gegen Roma und diese nahmen im 14. Jahrhundert ihren Anfang, als Roma als Sklaven eingestuft wurden. Roma wurde verboten Handel zu treiben, außer untereinander, ihnen wurden spezielle Siedlungen zugewiesen, das Wandern wurde untersagt und es wurden ihnen, wie 1896 in Norwegen sogar die Kinder weggenommen, um sie in staatlichen Einrichtungen zu «erziehen». Und schließlich wurden in Nazideutschland Roma aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der als minderwertig eingestuften Rasse in den Vernichtungslagern gequält, ausgebeutet und ermordet.

Gepaart mit wieder erstarkendem Nationalismus und wirtschaftlichen Schwierigkeiten gewinnt der Antiziganismus vor allem in Mittel- und Osteuropa erneut an Bedeutung. Vorurteile und Hass gegen Roma, die es früher gegeben hatte, erwachen neu und äußern sich in zunehmenden Angriffen und Verfolgungen von Roma. Antiziganismus bezeichnet heute, wie Anna Striethorst in der ersten Präsentation des Seminars anschaulich erklärte:

  • Gewaltausbrüche und Hassrhetorik, die sich auf Stereotype wie kriminell, korrupt, asozial, wertfrei, unmoralisch, freizügig, unzivilisiert, parasitär, faul und nomadisierend berufen und diese auf die Gesamtheit der Roma anwenden.
  • Administrative Maßnahmen, die Roma den Zutritt zu Staaten oder die Ansiedelung in ihnen (Großbritannien, Italien, Frankreich) erschweren bzw. verunmöglichen sollen.
  • Schikanen und Ausgrenzungen durch Mauern und Umsiedlungen in Behausungen, die diese Bezeichnung nicht verdienen.
  • Systematische Diskriminierung* durch Verweigerung des Rechts auf gleichwertige Bildung (Ostrava Fall u.a.).
  • Physische Gewalt
  • Ignoranz (die Roma Problematik wird nicht wahrgenommen, Rechte werden verweigert, Gesetze zum Schutz der Roma nicht angewendet, das Bleiberecht als EU-Bürger ignoriert etc.)

Dieses ignorante Verhalten wird oft mit dem Stereotypen, insbesondere im Sinne der Verbrechensbekämpfung gerechtfertigt.

Roma kennen ihre Rechte nicht. Es gibt das Jahrzehnt der Roma 2005-2015, es gibt die Europäische Rahmenstrategie von 2011, die einige sinnvolle Empfehlungen enthält aber leider nicht bindend ist. Es gibt eine Reihe europäischer Rechte, die zugunsten der Roma angewendet werden können.

Darüber hinaus gilt es über die Lage der Roma zu berichten, den Völkermord an den Roma stärker im europäischen Bewußtsein zu verankern, damit Roma nicht wieder zu Opfern werden. Weiter müssen Roma in Fragen der Bildung, des Zugangs zu akzeptablem Wohnraum, zu Sozial- und Gesundheitssystemen unterstützt und gestärkt werden.

*Eine Untersuchung der EU Agency for Fundamental Rights von 2009 in den Ländern Bulgarien, Tschechische Republik, Ungarn, Rumänien, Polen, Slowakei und Griechenland (an 500 Roma pro Land) beschreibt die Bereiche in denen Roma sich diskriminiert fühlen:

  • Bei der Suche nach Arbeit
  • Bei der Arbeit (die Höchste Anzahl beschäftigter Roma findet sich in der Tschechischen Republik, die niedrigste Rate lag in Bulgarien 10 und Rumänien mit nur 5% vor))
  • Bei der Wohnungssuche
  • in Gesundheitsbehörden und –einrichtungen
  • in Sozial- und Arbeitsämtern
  • im Schulbereich
  • in Cafes, Bars und Restaurants
  • beim Betreten von Geschäften
  • Bei der Eröffnung eines Bankkontos oder bei Kreditwunsch

Im Schnitt fühlen sich in allen Ländern 49% der Roma diskriminiert. In der Tschechischen Republik und in Ungarn war die gefühlte und erlebte Diskriminierung mit 64% und mit 62% am höchsten.

79% der Diskriminierungen und Verfolgungen werden von den Roma nicht gemeldet oder angezeigt! Dies gilt auch für Fälle in denen Roma Opfer krimineller Angriffe werden (im Schnitt 32% erlebten diese Form der Diskriminierung. Auch hier liegt die Tschechische Republik mit 46% an oberer Stelle, gefolgt von Ungarn mit 46, höher fiel diese rate nur in Griechenland aus 54%.

Der überwiegende Teil der befragten Roma (97-100%) hatte die Nationalität des Staates, in dem er befragt worden war. Eine Ausnahme bildet die Tschechische Republik mit 12 eingewanderten Roma.

Diese beiden Länder haben weniger Diskriminierungsfälle, weil Roma hier stärker, als in den anderen Staaten isoliert und abgeschnitten von der Gesamtgesellschaft leben (Bulgarien 72%separate abgeschiedene Unterkünfte und Rumänien 66%), so dass es auch weniger zu Kontakten mit Nicht-Roma kommt.

Ungarn

Es erstaunt nicht wirklich, dass die Regierung Ungarns unter Viktor Orbán die, häufig von der rechtsradikalen Jobbik-Partei angezettelten oder zumindest unterstützten Verfolgungen von Roma weder unterbindet noch strafrechtlich verfolgt. Die unter Orbán mundtot oder eben regierungsfreundlich gemachten Medien unterstützten auf ihre Art die Anti-Roma-Ausschreitungen, indem sie Opfer zu TäterInnen machen und in ihren Darstellungen Roma-Stereotype aufgreifen und noch verschärfen. Über solche Fälle, die die Gesellschaft Ungarns zunehmend prägen und langfristig verändern, ging Andreas Koob in seinem Vortrag ein.

Geschichte der Roma in der Tschechische Republik

Seit wann Roma auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik leben, ist nicht wissenschaftlich zu erfassen. Die erste Erwähnung von Roma auf tschechischem Gebiet stammt vom Ende des 14. Jahrhunderts, hier wurde im Hinrichtungsbuch der Herren von Rosenberg ein Mitschuldiger als «schwarzer Zigeuner» bezeichnet. Tatsächlich gelangten Roma im 14. Jahrhundert nach Mitteleuropa. In dieser Zeit wurden sie noch von Aristokraten empfangen, erhielten Schutzbriefe und verschiedene Privilegien. Ein tatsächlicher Beweis für die Anwesenheit der Roma auf tschechischem Gebiet ist ein Schutzbrief, der am 17. April 1423 auf der Zipser Burg vom römischen Kaiser und böhmischen König Sigismund erteilt wurde.

Es war die Kirche, die die Roma zuerst nicht als Gottes Diener einstufte und infolgedessen mit ihrer Verfolgung begann. Mit ihrer Exkommunizierung im Jahre 1427 durch den Pariser Erzbischof änderte sich die Haltung der Bevölkerung gegenüber den Roma radikal. Es begannen vier Jahrhunderte grausamer Diskriminierung. Es begann sogleich ihre systematische Verfolgung. Die Herrscher einzelner Länder gaben Erlasse heraus, in welchen sie die Roma aus ihren Ländern auswiesen. Ihnen drohten Folter, Verstümmelung und Hinrichtung, wenn sie gefangen wurden. Die Verfolgung in Tschechien begann, als Roma per Dekret für vogelfrei erklärt wurden. Die Ermordung von Roma wurde von da an nicht als Verbrechen betrachtet.

Waren die Roma durch die türkische Expansion, die die Grenze des osmanischen Reiches im 16. und 17. Jahrhundert bis zum Gebiet der Südslowakei ausdehnte, noch als Bürger geschätzt, da ihre Dienste  z.B. als  Schmiede gebraucht wurden , so änderte sich die Situation im Zuge der Industrialisierung. Schulpflicht und Fabrikarbeit führten zu einer Veränderung der Mentalität der tschechischen Gesellschaft. Aus einem Volk geschickter Handwerker und begabter Musiker wurde im Verlauf der Industrialisierung, der sich die Roma nicht schnell genug anpassen konnten, eine sozial abgehängte Bevölkerungsgruppe.

Vor dem Ersten Weltkrieg waren praktisch alle erwachsenen Roma Analphabeten aber auch gebildete Roma fanden in der Gesellschaft keine Anerkennung. Die einschneidenste Veränderung brachte jedoch der Zweite Weltkrieg, als Roma im Zuge der nazistischen Rassentheorie als minderwertige Rasse galten. Der Großteil der «tschechischen» Roma kam im Verlauf des zweiten Weltkrieges ums Leben. Im Sudetenland wurden Roma erfasst und zusammen mit deutschen Roma in das Lager Auschwitz II-Birkenau deportiert. In der Süd- und Ostslowakei waren die Roma der Verfolgung der ungarischen Amtstellen ausgesetzt, was in der Deportation einzelner Roma ins Konzentrationslager Dachau mündete.

Das Lager in Auschwitz war auf die Auslöschung der Roma-Bevölkerung insgesamt angelegt.

Die ursprüngliche tschechische Roma-Bevölkerung wurde in dieser Zeit nahezu gänzlich ausgerottet. Während vor dem Krieg auf tschechischem Boden rund 8000 Roma-Angehörige wohnten, waren es nach dem Krieg kaum mehr 600. Aus Ungarn und Rumänien kamen zahlreiche Roma in die Tschechoslowakei, und weitere Roma, die in Siedlungen in der Ostslowakei wohnten, wanderten in die tschechischen Grenzgebiete ein und wurden als billige Arbeitskräfte in den Industriegebieten Böhmens und Mährens integriert.

Im Jahre 1958 wurde ein Gesetz zur dauerhaften Ansiedlung der Fahrenden verabschiedet, welches lokale Behörden anwies Roma beim Übergang zu einem sesshaften Leben behilflich zu sein. In der Praxis führte dieses Gesetz jedoch dazu, dass die Polizei die Roma schikanierte, indem sie an den Wohnwagen die Räder entfernten und ihnen die Pferde wegnahmen. Ein weiteres Gesetz von 1965 besiegelte die Seßhaftwerdung der ostslowakischen Roma. Insgesamt behandelte die staatliche Sozialpolitik Roma wie Menschen zweiter Klasse und staatliche Maßnahmen sicherten gerade so das Überleben. Ansonsten wurden sie sich selbst überlassen, was wiederum Konflikte und Ressentiments der Nicht-Roma verstärkte. Diese sind der Nährboden, auf dem aktuelle die Verfolgung der Roma gedeihen konnte.

Materialien:

Anna Striethorst: Einführung Antiziganismus im heutigen Europa (Manuskript)

Pedro Aguilera Cortés on: Antiziganism in Europe (PPT-Presentation)

Vladan Jeremic and Dejan Markovic: Political strategies against Antiziganism (Presentation)


Programm und weitere Einzelheiten

Kontakt: Ramona Hering, hering@rosalux.de

Siehe auch:

Porajmos
Erinnern an die Ermordung der europäischen Roma und Sinti
Dokumentation von Veranstaltungen, Publikationen und extern geförderten Projekten der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Geschichte des Genozids an den europäischen Roma und Sinti, zu Antiziganismus und zur Roma-Politik heute.

Verweigerte Wiedergutmachung
Die Deutschen und der Völkermord an den Sinti und Roma.
Standpunkte 14/2012 von Wolfgang Wippermann.