Dokumentation Europa - in schlechter Verfassung?

Reihe „Baustelle Europa. Europapolitiker im Gespräch mit Bärbel Romanowski“ im Magnus-Haus

Information

Veranstaltungsort

Magnus-Haus
Am Kupfergraben 7
10117 Berlin

Zeit

26.05.2005

Mit

Dr. Lászlo Gonda, Botschaftsrat in der Botschaft der Republik Ungarn; Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments

Themenbereiche

Staat / Demokratie, Westeuropa

Europa braucht eine Verfassung. Aber nicht diese, sagt nicht nur die deutsche Linke. Die Mitgliedsländer haben viele Rechte an die EU abgegeben: Währungsangelegenheiten, Wettbewerbspolitik oder Zölle. Was aber soll in Brüssel, was in den Staaten, was in den Kommunen entschieden werden? Soll es eine Volksabstimmung geben?

Einen Tag vor der mit Spannung erwarteten Bundesratssitzung, auf der das Abstimmungsverhalten des von einer SPD/PDS-Koalition regierten Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern zur Europäischen Verfassung im Brennpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stand, und drei Tage vor dem entscheidenden Verfassungsreferendum in Frankreich hatte die Rosa-Luxemburg-Stiftung im Rahmen ihrer Reihe „Baustelle Europa“ zum Thema „Europa in schlechter Verfassung?“ eingeladen. Die bekannte Fernseh-Journalistin Bärbel Romanowski befragte dazu Dr. László Gonda, Botschaftsrat der Republik Ungarn, und Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments.

Obwohl das Thema breiter gefasst war, ging es in der Podiumsdebatte zunächst um die Europäische Verfassung. Sowohl Dr. Gonda als auch Dr. Kaufmann betonten, dass der vorliegende Verfassungsentwurf einen Kompromiss der am Verfassungsprozess beteiligten Staaten darstellt und ein halbes Jahrhundert Geschichte der Europäischen Union und ihrer Vorläuferorganisationen spiegelt. Nicht alles, was wünschbar gewesen sei, hätte im Verfassungsentwurf berücksichtigt werden können. Genannt wurde der Wunsch Ungarns nach einem Gottesbezug in der Verfassung, der unerfüllt geblieben sei. Auch in der Frage der nationalen Minderheiten sei eine von allen beteiligten Staaten akzeptierte Formulierung schwierig gewesen. Beide Gesprächspartner votierten angesichts des Erreichten für die Annahme des Verfassungsentwurfs und hofften auf einen insgesamt erfolgreichen Ratifizierungsprozess in den 25 Mitgliedsstaaten.

Auf die Vorhaltung der Moderatorin, Frau Kaufmann befinde sich mit ihrem Ja zum Entwurf der Europäischen Verfassung im Gegensatz zu den Beschlüssen ihrer eigenen Partei – der PDS, erklärte die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, nicht sie habe ihre Position geändert, sondern ihre Partei. Ursprünglich habe sich der Parteivorstand der PDS für den Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents ausgesprochen, an dem sie mitgearbeitet habe. Doch dann habe der Vorstand unter dem Druck der Debatten in Teilen der Partei seine Haltung geändert.

Später ging es in der Podiumsdebatte um Fragen der Erweiterung und Vertiefung der europäischen Integration, um Fragen einer europäischen Außenpolitik und um wirtschaftspolitische Fragen der EU. Dr. Gonda sprach sich für einen Beitritt der Türkei zur EU aus; Voraussetzung sei allerdings, dass die Türkei – wie andere Mitgliedsstaaten vor ihr – die Beitrittsbedingungen erfüllt. Ein schwieriges Problem seien die zugespitzten Finanzfragen in der EU, waren sich Dr. Kaufmann und Dr. Gonda einig. Wenn dem Wunsch einiger Länder – wie der Bundesrepublik Deutschland – stattgegeben würde, ihre Beiträge zum EU-Haushalt zu reduzieren, würde es nicht möglich sein, die erweiterte EU mit ihren gewachsenen Aufgaben hinreichend zu finanzieren.

Die anschließende, für das Publikum geöffnete Diskussion konzentrierte sich auf die Bewertung der Europäischen Verfassung. Überwiegen die Nachteile die Vorteile oder ist ein Kompromiss erzielt worden, der unter dem Strich einen Fortschritt gegenüber der Vergangenheit – insbesondere gegenüber dem Vertrag von Nizza – darstellt?

Hier äußerten insbesondere Teilnehmer der Veranstaltung ihre Bedenken zum Verfassungsentwurf. Der Verfassungsentwurf sei insgesamt neoliberal und verpflichte die Mitgliedsstaaten zur Aufrüstung. Die im Teil I postulierte „soziale Marktwirtschaft“ würde durch die im Teil III ausgeführten Passagen zur „freien Marktwirtschaft“ ausgehebelt. Zudem werde das Streikrecht verboten, und die in der Menschenrechtscharta (Teil II) formulierten Rechte seien nicht einklagbar.

Dr. Gonda und Dr. Kaufmann betonten in der Diskussion insbesondere die Fortschritte, die mit dem Verfassungsentwurf verbunden sind. So werde die Möglichkeit eines europäischen Referendums in der Verfassung fixiert, und die Rechte des Europäischen Parlaments würden enorm gestärkt. Frau Kaufmann sprach in diesem Zusammenhang sogar von einem Quantensprung. Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments unterstrich, dass mit der Fixierung der „sozialen Marktwirtschaft“ als Verfassungsziel im Teil I ein Paradigmenwechsel eingeleitet worden sei. Das sei ein großer Fortschritt, weil die bisher geltende Rechtslage – angefangen von der 1951 gegründeten Montanunion – immer von der „freien Marktwirtschaft“ ausgegangen sei.

Sylvia-Yvonne Kaufmann nutzte die Gelegenheit, mit einigen – wie sie sagte – Legenden aufzuräumen, die im Zusammenhang mit den Debatten über den Entwurf der Europäischen Verfassung (auch von verschiedenen linken Kräften) verbreitet werden. So sei das Streikrecht keineswegs verboten worden, und die in der Menschenrechtscharta (Teil II) formulierten Rechte seien vor dem Europäischen Gerichtshof und vor nationalen Gerichten einklagbar. Die EU-Verfassung beziehe sich hinsichtlich des Einsatzes von militärischer Gewalt erstmals eindeutig auf die UN-Charta. Als Pazifistin kritisiere aber auch sie das im Verfassungsentwurf fixierte Aufrüstungsgebot und befinde sich damit nicht im Widerspruch zu anderen Linken. Insgesamt sei die Europäische Verfassung ein Qualitätssprung für die Europäische Union von der reinen Wirtschaftsunion hin zu einer politischen Union, die die Linke eigentlich immer angestrebt habe.

(Jochen Weichold)