Publikation Staat / Demokratie - Partizipation / Bürgerrechte - Stadt / Kommune / Region - Migration und Metropolen Die Solidarität der Städte

Episode 1: Städte als Orte einer neuen politischen Phantasie

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Mario Neumann,

Erschienen

Januar 2019

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Mario Neumann
Mario Neumann

«Solidarische Städte» sind nicht bloß eine kommunalpolitische Antwort auf globale Migrationsbewegungen. Als konkrete Utopien können sie einen Paradigmenwechsel begründen, der eine Antwort auf die Krise der politischen Linken bietet – weil sie das Nationale von innen und von unten herausfordern und darin Migration als Kraft umfassender gesellschaftlicher Transformation sichtbar machen..

Der Beitrag ist Teil des aktuellen Online-Schwerpunktes «Migration und Metropolen». Wir beschreiben die Visionen, Versuche, Schwierigkeiten und Chancen auf dem Weg in eine «Stadt für alle» am Beispiel Berlin. In der Auseinandersetzung mit unzähligen solidarischen Initiativen, widerständigen Praktiken und (post)migrantischen Realitäten hat sich die Stadtpolitik zu einem Labor linker Migrationspolitik entwickelt.

Der 2017 verstorbene Zygmunt Bauman attestiert in seinem letzten zu Lebzeiten vollendeten Buch eine «globale Epidemie der Nostalgie». Gemeint ist damit, dass quer zu allen politischen Zugehörigkeiten eine Umkehrung der Idee von Veränderung zu beobachten sei. Politische Utopien sind nicht mehr länger Visionen einer zu gewinnenden und noch zu entdeckenden Zukunft, sondern bedienen sich aus einer «untoten» und verklärten Vergangenheit, zu der sie zurückkehren wollen. In einer globalisierten, verflochtenen und chaotischen Situation – so seine Diagnose – erscheint daher auch vielen Linken die Rückkehr zur «territorialen Souveränität» und zu einer Zeit wohlfahrtstaatlich geschützter Heimat als Retropie – als eine Vergangenheit also, die zum politischen Gegenentwurf zur unheilvollen Gegenwart und bedrohlichen Zukunft taugen soll. (Bauman 2017)

Und in der Tat genügt ein Blick in gegenwärtige linke Debatten auf dem Feld der Migrationspolitik, um diese These zumindest nicht direkt zu verwerfen. Da wird nämlich nicht selten ein Gegensatz konstruiert, in dem alle widersprüchlichen, globalen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ausschließlich als Verstärker oder Katalysatoren neoliberaler Globalisierung klassifiziert werden - und wo diese letztlich eine bloße Verfallsgeschichte zu sein scheint, in der die sozialen Kämpfe der letzten Jahrzehnte keinerlei Spuren hinterlassen haben. (Mezzadra und Neumann 2017) Einziger Maßstab der Utopie ist darin die Vergangenheit des nationalen Wohlfahrtsstaates.                        

Die Kritik an nationaler Zugehörigkeit wird dann als «Kosmopolitismus», die Migrationsbewegungen als Teil einer «neoliberalen Open-Border-Politik» und das der Vielfalt in den Metropolen entsprechende Bewusstsein als das einer «urbanen Mittelschicht» abgetan. Dieser Diskurs produziert schon in seinen Grundstrukturen letztlich das, was Bauman behauptet: Gegenwart und Zukunft scheinen nur mit den Instrumenten der Vergangenheit zu bändigen, weil alle ihre Prozesse einseitig ins Negative weisen. Und die Rückkehr zu dieser Vergangenheit ist letztlich – auch wenn sie als «kommunitaristisch» verklärt wird – ein Prozess der Renationalisierung und Rückgewinnung von nationaler Souveränität. Darin verspielt die Linke zugunsten des «Untoten» eine Kraft, die sie aus den lebendigen sozialen Kämpfen der Gegenwart gewinnen könnte, allen voran jene der Migrationsbewegungen.

Think glokal!

Doch es gibt Auswege aus «Retrotopia», politische Möglichkeiten jenseits der Wahl zwischen einer schlechten Gegenwart und einer verklärten Vergangenheit. Bewegte Ideen, die nicht zwischen einem «kommunitaristischen» Nationalen oder einem «kosmopolitischen», aber abstrakten Weltbürgertum wählen. Politiken, in denen das Lokale und das Globale nicht als Widerspruch konzipiert und dann letztlich vom Nationalen durchschnitten werden – und wo folglich Migration nicht als permanentes Außen, sondern als konstitutives Innen mitgedacht wird – als eine Kraft der Demokratisierung. Es ist noch viel zu tun, aber: Die Konzepte und realen Praxen Solidarischer Städte sind auf dem Vormarsch – und sie scheinen zumindest potentiell Orte einer wirksamen linken Opposition gegen den autoritären Neoliberalismus zu sein.

Ada Colau, ehemalige Aktivistin der PAH, Mitglied der Büger*inneninitiative «Barcelona en Comu» und heute Bürgermeisterin von Barcelona drückte es kürzlich in Vermont auf Einladung von Bernie Sanders bei einer Rede über die Erfahrungen des Munizipalismus in Spanien folgendermaßen aus: «We need a new way of doing politics. We decided to start at the local level … We needed to provide real and concrete solutions through actions, that change peoples live … The local level is the best place to improve democracy. It‘s where we live our daily lives and where the government is close to the people.» Und in der Tat: Städte sind Orte einer konkreten Utopie von unten, die aus gelebter Praxis entsteht und die gegenwärtigen Kämpfe der Migration und der Solidarität in sich aufnimmt und weiterentwickelt. Sie können lebendige Laboratorien und Umschlagplätze einer Politik von unten sein. Darin überkreuzen sich die Debatten um Solidarity Cities mit denen um einen neuen Munizipalismus (Brunner u. a. 2017). Sie werden jedoch nur dann solche Orte sein, wenn damit nicht der Verzicht auf nationale und transnationale Politik gemeint ist – oder sogar der Rückzug auf Praktiken, die nur noch auf kleine, konkrete Verbesserungen des Lebens der Vielen abzielen. Vielmehr geht es darum, mit der Kraft solidarischer, migrantischer und alltäglicher Praxen eine neue Phantasie für eine demokratische, soziale Linke zu entwickeln.

Jenseits der Gewalt des Nationalen: Alle, die hier sind, sind von hier

Das Plädoyer für eine Linke der Städte ist daher kein Versuch, den Rückzug auf den Nationalstaat nun mit einem Rückzug auf das Kommunale zu unterbieten. Die Rechnung geht andersherum: Eine Politik der Städte hat sowohl eine lokale als auch eine transnationale Dimension. Städte sind lokale Orte der Globalisierung und damit Orte eines sozialen und politischen Gemeinsamen, die den Nationalstaat sowohl unterlaufen als auch übersteigen. Orte, an denen Migration, Differenz und Globalisierung von unten eine alltägliche Realität und unumkehrbare Gegenwart sind – und damit eine weitaus plausiblere Geschäftsgrundlage lokaler Politik als die politische Gewalt des Nationalen, die von hieraus als ebensolche durchschaut werden kann.

Anstatt also der allgegenwärtigen Fokussierung auf die Nation mit dem abstrakten Sprung in die Weltpolitik zu begegnen, entdecken die Praxen der solidarischen Städte das Globale im Lokalen. Sie bestreiten nicht, dass der Nationalstaat ein bedeutendes Terrain politischer Auseinandersetzung ist. Aber sie bestreiten entschieden, dass die durch Staatsbürgerschaft, stratifizierte Rechte und Aufenthaltsgesetze gelegten «Grenzen der Demokratie» (Balibar 1993) als Bedingungen demokratischer Politik akzeptiert werden müssen. Der Nationalstaat bleibt ein Terrain der Auseinandersetzung, jedoch ohne die von ihm produzierten politischen Formen und hierarchisierten Gruppen zu übernehmen. Der Macht des Nationalstaates, über Zuwanderungsgesetze, Asylrecht oder Staatsbürgerschaft soziale und politische Rechte zu definieren, wird das universelle Recht aller Anwesenden und Ankommenden entgegengesetzt und zur unhintergehbaren Grundlage des Politischen gemacht.

Soziale Rechte und demokratische Politik werden so tendenziell von der staatsbürgerlichen Zugehörigkeit und den verschiedenen politischen Setzungen des Nationalstaates entkoppelt: Alle, die hier sind, sind von hier – die politische Gemeinschaft wird nicht vom Staat definiert, sondern besteht aus allen Anwesenden. Dieses Paradigma strahlt von der Stadt in die Welt und kann sich in (trans)nationale Politiken übersetzen – davon zeugt die Aufmerksamkeit, die Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando für seinen vielzitierten Satz europaweit generierte: «Wenn Sie fragen, wie viele Flüchtlinge in Palermo leben, antworte ich nicht: 60 000 oder 100 000. Sondern: keine. Wer nach Palermo kommt, ist ein Palermitaner.»(NZZ 2017)

Was ist eine Solidarische Stadt?

Solidarische Städte und ihre konkreten Politiken sind mittlerweile auch in Europa in aller Munde. Sowohl in Spanien (wo in Barcelona eine munizipalistische Bewegung die Stadtregierung unter Ada Colau stellt) als auch in Italien (wo einzelne Bürgermeister*innen in Riace, Palermo, Neapel und anderswo für Aufsehen sorgten und sich als «solidarische Städte» gegen Innenminister Salvini auflehnen) gibt es eine neue Konjunktur einer politischen Opposition, die sich nicht einfach auf eine Zugehörigkeit im nationalen System der Repräsentation beschränkt, sondern an konkrete lokale Praktiken und Regierungen gebunden ist. Verschiedene Netzwerke entstehen, in denen sich einerseits progressive Stadtregierungen, andererseits Basisinitiativen und soziale Bewegungen zusammenschließen.

Ausgangspunkt vieler Ansätze sind Erfahrungen aus Nordamerika, die seit den 1980er Jahren entwickelt wurden und darin wiederum auf lange politische Diskurse (etwa zum «Urban Citizenship») zurückgreifen konnten. Hier wurde und wird in Städten wie Toronto, New York oder San Francisco eine neue Zusammenarbeit von sozialen Initiativen und Stadtregierungen erprobt, die sich gemeinsam den nationalen Behörden und ihren Ausländerpolitiken widersetzen. Zentraler Ausgangspunkt dieser Bewegung der Sanctuary Cities sind die illegalisierten Einwohner*innen der Stadt – und darin der Versuch, sie einerseits vor Abschiebungen zu schützen und andererseits und darüber hinaus den Zugang zu städtischer Infrastruktur und sozialen Rechten zu organisieren. Die vielfältigen Praktiken reichen dabei von Dienstanweisungen an lokale Behörden, die die Zusammenarbeit mit den nationalen Einwanderungsbehörden verbieten, bis hin zu städtischen Ausweispapieren («City-ID», die an Illegalisierte vergeben wird) und dem legalen Zugang zu Bildung, Gesundheit und Kultur (für eine ausführliche Darstellung vgl. (Bauder 2017; Heuser 2018; Kron und Lebuhn 2018; Mayer 2018). Auch in der BRD sind Städte nicht zum ersten Mal das Terrain einer progressiven Migrationspolitik (vgl. das Interview mit Sabine Hess (2018) in diesem Dossier sowie Hess und Lebuhn 2014)

Utopische Praxis

Bei aller Vielfalt dieser Experimente besitzen sie doch einige Merkmale, die Impulsgeber für die europäischen Debatten über Solidarische Städte sind. Zunächst ist entscheidend, dass der Logik nationalstaatlicher Inklusion und Exklusion eine städtische Demokratie entgegengesetzt wird, die Migration nicht problematisiert, sondern stattdessen in ihrer Faktizität anerkennt und von dort die Notwendigkeit sozialer Rechte und gesellschaftlicher Teilhabe für alle ableitet. In einem nächsten Schritt sind es dann häufig solidarische Initiativen und antirassistische Akteure, die bestimmte Solidaritätspraktiken verallgemeinern wollen oder institutionelle Unterstützung anfordern, die sich in der Regel immer direkt oder indirekt nationalstaatlichen Politiken widersetzen. So kommt es häufig zu einer Herausforderung der Grenzen nationaler Demokratien und zu Projekten ihrer Erweiterung – wie z.B. dem Zugang von illegalisierten Menschen zur Gesundheitsversorgung. Ein zentraler Effekt der erfolgreichen Durchsetzung solcher Politiken ist dann wiederum, dass auch weitere Gruppen von den Maßnahmen profitieren, sie sich so über die Gruppe illegalisierter Personen erweitern. Dies kann auch jüngst in Berlin beobachtet werden, wo sich die Arbeit des «Medibüros» für die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Papiere derzeit in eine offizielle Anlaufstelle weiterentwickelt hat, die auch Obdachlose, EU-Migrant*innen und Menschen, die aus der Krankenkasse geflogen sind, nutzen (Medibüro Berlin 2018). Gleichzeitig besitzen viele Praktiken nicht die Struktur institutionalisierter sozialer Rechte, sondern finden häufig in Grauzonen statt, in denen Behörden, Stadtregierungen und Initiativen miteinander interagieren. (Jungfer und Kopp 2018)

Der Schutz vor Abschiebungen und der Zugang zu sozialen Rechten ist darin ein Ausgangspunkt, der Prozesse einer Demokratisierung der Stadtgesellschaften in Gang setzt und dabei zum Teil neue Sozialpolitiken erkämpft, die auch anderen Gruppen zugute kommt. Ein weiteres Feld, das vor allen Dingen in Europa hinzukommt, ist die Frage, inwieweit Städte an den repressiven Grenzpolitik von EU und Nationalstaaten vorbei Akteure der Neuaufnahme von Migrant*innen sein können. Trotz der rechtlichen Grenzen des wesentlich in nationaler Zuständigkeit liegenden Einwanderungs- und Asylrechts haben viele Städte hier eine bedeutende Rolle gespielt – sowohl in der Auseinandersetzung um sichere Häfen in Italien als auch in der Bewegung für sichere Orte der Ankunft, wie sie beispielsweise die Seebrücken-Bewegung fordert und dabei von mittlerweile über 30 Städten in Deutschland unterstützt wird. Klar ist bei all diesen Prozessen jedoch auch, dass auf lange Sicht die Bereitschaft von Stadtregierungen, sich als «rebellische Städte» in Auseinandersetzungen mit der nationalen Politik zu begeben und sich entsprechend zu solidarischen Städten zu verbinden, ein entscheidendes Kriterium dafür ist, ob sie effektiv eine Rolle in den gesellschaftlichen Kämpfen spielen können.

Hervorbringung neuer Politiken von unten

Natürlich geht es nicht darum, dass Politiken der solidarischen Stadt das Initiativrecht auf Seiten der Basisinitiativen legen würden. Ideen und Kreativität kommen auch mancherorts aus den Rathäusern und Behörden. Nichtsdestotrotz ist es essentiell, dass - von Toronto bis zur Seebrücke – die Phantasie sozialer Initiativen und die konkreten Erfahrungen des Alltags in der Stadt eine zentrale Rolle bei der Hervorbringung neuer politischer Konzepte spielen. Dabei ist es wichtig, einen umfassenden Begriff dieser Kräfte zu entwickeln, anstatt sie auf ein einseitiges Verständnis politischer Bewegungen zu reduzieren. Die solidarischen Praxen der Stadt umfassen diverse Unterstützungsstrukturen, persönliche Solidaritäten, anwaltliche Arbeit, ehrenamtliche und hauptamtliche Sozialarbeit und Gesundheitsversorgung und vieles mehr.

Viele von ihnen sind in ihrem Grundverständnis Akteure einer Post-Zivilgesellschaft: Initiativen, die nicht einseitig auf politische Durchsetzung von Forderungen orientieren, sondern aus guten Gründen eigene, autonome Praxen und damit eine soziale Macht entwickeln und von dort aus Strategien ihrer Stärkung und politischen Durchsetzung auflegen. Sie fragen nicht zuallererst, wie die Gesellschaft durch die Regierung verändert werden kann. Sie fragen, wie die Realität der postmigrantischen Gesellschaft, der Mobilität, der sozialen Heterogenität, der Solidaritätsinitiativen in Politik und soziale Rechte übersetzt werden kann.

Das gleiche gilt für den Beitrag der Migrationsbewegungen zu den innovativen Praktiken: Es ist die Autonomie der Migration und ihre Unaufhaltsamkeit, die über die Anwesenheit der Migrant*innen das Außen der globalisierten Welt in das Innere der Städte holt – und damit eine neue politische Konstellation ermöglicht, in der Akteure sich nicht mit dem Nationalstaat und seinem Wunsch nach Migrationskontrolle identifizieren, sondern mit den sozialen Bedürfnissen ihrer Nachbar*innen. Die Stadt ist so gesehen eine Chiffre für eine Politik, die die sozialen Beziehungen und das Zusammenleben der Vielen zu einem Ausgangspunkt macht: Die politische Utopie kommt aus der sozialen Realität. Eine Politik der Städte erkennt die Zusammensetzung der Stadt, ihre Offenheit und ihre postmigrantische Realität bedingungslos an. Sie kann zeigen, dass die Nation nichts Natürliches ist, sondern die Praxis der Hierarchisierung von Menschen und Rechten als eine politische Technik entzaubern. So werden – idealtypisch – neue soziale Rechte durch Migrationsprozesse und solidarische Praktiken von unten produziert.

Chance für die Linke

Solidarische Städte sind Orte, an denen neue linke Politiken erprobt und entwickelt werden können. In der Stadt kehrt sich das Verhältnis von Bewegungen und Politik auf eine produktive Weise um. Regierungen sind Teil einer umfassenden Strategie sozialer Veränderung, die sich auf die faktischen Realitäten in der Stadt stützen kann: Die Bedeutung der Migration, die Existenz solidarischer Initiativen und der Alltag einer Gesellschaft, der aus sich heraus die Natürlichkeit des Nationalen herausfordert und dechiffriert. Ihr Ausgangspunkt ist die Realität des alltäglichen Lebens – die soziale, kulturelle und politische Faktizität der Gesellschaft der Vielen. Städte und ihre Kämpfe können also für die Linke eine methodologische Bedeutung haben, weil sie die Orte sind, an denen soziale Praktiken politisch ausgespielt werden können und die Frage ihrer Übersetzung in neue politische Formen gestellt wird. Diese Prozesse können beispielhaft und vorbildlich sein für die Entdeckung neuer politischer Formen in Stadt, Land, Bundespolitik und darüber hinaus.

Die Grundstruktur der Praxis solidarischer Städte gibt eine konzeptuelle Antwort darauf, wie linke Politik sich aus den Widersprüchen ihres gegenwärtigen Denkens lösen kann. Sie zeigt, wie Migration und Alltagssolidarität als Kräfte der Transformation wirken können und wie die «soziale Frage» nicht bloß gestellt, sondern von links beantwortet und zur Frage der Demokratie in Beziehung gesetzt werden kann. Sie öffnen einen Raum, in dem Narrative und konkrete Projekte entwickelt werden können, wo institutionelle Politiken und Solidaritätsstrukturen interagieren, wo lokale und transnationale Räume sich kreuzen und Bewegung und Regierung in ein neues Verhältnis treten. Das alles löst die Widersprüche darin nicht auf, kann und soll Konflikte nicht stillstellen – erst Recht nicht den zwischen den Institutionen und den Basisakteuren. Sie sind jedoch ein Mechanismus, diese Widersprüche produktiv zu machen.

Solidarische Städte sind keine geschlossene Utopie. Sie sind keine Lösung, aber ein Beginn einer anderen Politik der Übersetzung von unten nach oben, der Konstituierung der Städte als politische Akteure und einer linken Migrationspolitik, die aus dem Paradigma der Integration ausbricht. Dass das alles nicht so einfach geht? Ist klar. Bewegungen und Regierungen können manchmal interagieren, doch niemals eine Einheit sein. Stadtregierungen sind nicht nur Umschlagsplätze für eine Politik von unten, sondern sogar bei besten Absichten den Zwängen des Nationalstaates und der Logik der Institutionen verhaftet. Können Städte rebellieren? Davon mehr im nächsten Beitrag …

 
Mario Neumann ist Politikwissenschaftler und Aktivist aus Berlin. Er ist im Netzwerk «We'll Come United» aktiv, arbeitet an der Universität Kassel und ist gemeinsam mit Sandro Mezzadra Autor von «Jenseits von Interesse und Identität: Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968» (Laika-Verlag).

Literatur
  • Balibar, Etienne (1993): Die Grenzen der Demokratie. Argument-Verlag.
  • Bauder, Harald (2017): «Sanctuary Cities: Policies and Practices in International Perspective». In: International Migration. 55 (2), S. 174–187.
  • Bauman, Zygmunt (2017): Retrotopia. Erste Auflage, Sonderdruck, Deutsche Erstausgabe. Berlin: Suhrkamp (edition suhrkamp Sonderdruck).
  • Brunner, Christoph; Kubaczek, Niki; Mulvaney, Kelly; u. a. (2017): Die neuen Munizipalismen Soziale Bewegung und die Regierung der Städte.
  • Hess, Sabine (2018): «Es gibt auch in Deutschland eine Kontinuität städtischen Ungehorsams» - RLS
  • Hess, Sabine; Lebuhn, Hendrik (2014): «Politiken der Bürgerschaft. Zur Forschungsgeschichte um Migration, Stadt und Citizenship». In: suburban. zeitschrift für kritische stadtforschung. 2 (3), S. 11–34.
  • Heuser, Helene (2018): «Sanctuary Cities in der BRD – Netzwerk Fluchtforschung»
  • Jungfer, Eberhard; Kopp, Hagen (2018): «‹Umkämpfte Räume› – Mit Solidarity Cities für Bewegungsfreiheit und gleiche soziale Rechte für alle». express- Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. 2018.
  • Kron, Stefanie; Lebuhn, Hendrik (2018): «Solidarische Städte: Globale Soziale Rechte und das Recht auf Mobilität» - RLS
  • Mayer, Margit (2018): «Cities as sites of refuge and resistancex. In: European Urban and Regional Studies. 25 (3), S. 232–249, doi: 10.1177/0969776417729963.
  • Medibüro Berlin (2018): «Anonymer Krankenschein» - Medibüro
  • Mezzadra, Sandro; Neumann, Mario (2017): Jenseits von Interesse und Identität Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968. laika.
  • NZZ (2017): «Wie Palermos Bürgermeister vom Mafiajäger zum Flüchtlingsvater wurde»