Publikation Parteien / Wahlanalysen - Mexiko / Mittelamerika / Kuba Machtverlust der Eliten?

Eine Analyse der Lokal- und Regionalwahlen in Kolumbien

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Reihe

Online-Publ.

Autor

David Graaff,

Erschienen

November 2019

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Claudia López, ein Symbol für den Kampf gegen die Korruption in Kolumbien, wurde am 27. Oktober 2019 als erste Frau zur Bürgermeisterin der Hauptstadt Bogotá gewählt. Foto: Raul Arboleda / AFP

Südamerika ist in Aufruhr. Während es in Chile und Ecuador zu Massenprotesten kommt, die sich gegen die neoliberale Politik richten, waren die Menschen in Kolumbien zu Wahlen aufgerufen. In dem nach Chile sozial ungleichsten Land des Kontinents, in dem politische Gewalt auch nach dem Friedensschluss mit der Guerilla Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) 2016 zum Alltag gehört, fanden am 27. Oktober Regional- und Lokalwahlen statt. Das erste Mal seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens wurden mehr als 1.100 Bürgermeister*innen, rund 12.000 Stadt- und Landrät*innen, die Gouverneur*innen der 32 departamentos[1] des Landes sowie deren Regionalversammlungen und weitere lokale Posten gewählt. Die Partei des rechten Präsidenten Iván Duque geht geschwächt aus dem Urnengang hervor und es deutet sich ein Einflussverlust der lokalen politischen Eliten an. Was bedeutet das für die politische und gesellschaftliche Linke?

Erfolg der Unabhängigen

David Graaff lebt in Medellín, lehrt und forscht an der kolumbianischen Nationaluniversität und schreibt als freier Journalist für verschiedene Medien über Kolumbien.

Generell zeichnete sich besonders bei den Bürgermeisterwahlen in größeren Städten ein Trend ab: Die bewusste programmatische Wahlentscheidung für einen Kandidaten oder eine Kandidatin (voto de opinión) gewinnt gegenüber dem Einfluss der lokalen politischen und wirtschaftlichen Eliten an Bedeutung. Normalerweise ist es in Kolumbien für unabhängige Kandidat*innen, die nicht zum politischen Establishment gehören, schwierig, gegen die gut finanzierten Kampagnen lokaler Wirtschafts- und Politeliten zu gewinnen, weil diese ihre Wahlerfolge vor allem durch Klientelismus und Stimmenkauf organisieren.

Das nach der Präsidentschaft politisch wichtigste Amt Kolumbiens, das der Bürgermeisterin der Hauptstadt Bogotá, übernimmt die Kandidatin des Mitte-links-Lagers, Claudia López. Die ehemalige Kongressabgeordnete der Partido Alianza Verde (Grüne Allianz), die auch von der sozialdemokratischen Linkspartei Polo Democrático Alternativo (PDA) unterstützt wurde, ist die erste Frau, die an die institutionelle Spitze der Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole gewählt wurde. Sie bekennt sich offen zu ihrer Homosexualität und hat sich über Jahre hinweg ein Image als resolute Anti-Korruptions-Kämpferin erworben.

In Medellín, Kolumbiens zweitwichtigster Stadt, siegte überraschend der unabhängige Kandidat Daniel Quintero, erst 39 Jahre alt und Sohn eines Mechanikers. Er konnte sich gegen die Kandidat*innen des Establishment der Stadt behaupten und überzeugte die Wähler*innen unter anderem auch, weil er ein kriselndes Megaprojekt der lokalen und regionalen Elite, den Staudamm Hidroituango, offen kritisierte.

In Cali übernimmt Jorge Iván Ospina, Sohn eines Guerilleros der ehemaligen Rebellengruppe Movimiento 19 de Abril (M19), mit Unterstützung der Partido Alianza Verde nach 2008 erneut das Bürgermeisteramt. 

In der Hafenstadt und Touristenmetropole Cartagena gewann der Anti-Korruptions-Kandidat William Dau gegen die lokalen Elitengruppen, in Cúcuta, Grenzstadt zu Venezuela, siegte Jairo Yañez gegen Jorge Enrique Acevedo, den Kandidaten des einflussreichen Lokalkaziken und ehemaligen Bürgermeisters Ramiro Suárez Corzo, der wegen Verbindungen zum Paramilitarismus in Haft sitzt. In Buenaventura an der Pazifikküste setzte sich Victor Hugo Vidal durch. Er war als Vertreter verschiedener Basisorganisationen angetreten, die 2017 mit einem 22-tägigen Streik die wichtigste Hafenstadt Kolumbiens blockiert hatten, um gegen soziale Missstände, Korruption und Gewalt zu protestieren. Auch in den Städten Villavicencio, Hauptstadt des departamento Meta, und Palmira bei Cali gewannen Kandidaten, die nicht dem örtlichen Establishment angehören. In einem Vorort von Cartagena übertrumpfte Guillermo Torres (alias Julián Conrado) die Kandidat*innen der politischen Elite. Er war Kämpfer und bekannter Liedermacher der FARC-Guerilla. Die Liste der unabhängigen Gewinner*innen dieser Wahl ließe sich fortsetzen.

Weniger Risiken, mehr Gewalt

Die Urnengänge und der ihnen vorangegangene Wahlkampf waren erneut von Unregelmäßigkeiten, drohendem Wahlbetrug und Gewalt geprägt. Im Vorfeld der Wahl hatte die kolumbianische Nichtregierungsorganisation Misión de Observación Electoral (MOE) das Risiko der Wahlmanipulation in 152 Gemeinden als hoch eingestuft. In 40 Gemeinden bestand ein besonders hohes Risiko (siehe Karte).[2]

Städte und Gemeinden mit hohem Risiko für einen irregulären Wahlverlauf: Die Beeinflussung der Wahlen durch Risikofaktoren wie möglicher Wahlbetrug, illegale Wahlkampffinanzierung, bewaffneter Konflikt, Drogenhandel und Gewalt. Besonders hohe Risiken bestanden dort, wo kaum staatliche Strukturen existieren und bewaffnete Gruppen um die Kontrolle strategisch wichtiger Gebiete kämpfen, die unter anderem für den Drogenanbau und -handel von Bedeutung sind.
Quelle: Misión de Observación Electoral: Mapas y factores de riesgo electoral, Resumen Ejecutivo, Bogotá, 1.10.2019, S. 10, unter: https://moe.org.co/wp-content/uploads/2019/09/Librito-Lanzamiento-MRE-2019.pdf
 

Laut der NGO Pares wurde in den zwölf Monaten vor der Wahl alle 36 Stunden ein*e Kandidat*in Opfer von Gewalt, 170 Kandidat*innen wurden bedroht und 22 ermordet. Im Vergleich zu den Wahlen vor vier bzw. acht Jahren sind zwar immer weniger Gemeinden von solchen Risikofaktoren betroffen, die Gewalt ist aber gestiegen. Am Wahltag selbst gingen bei der MOE, für die nationale und internationale Freiwillige die Wahl beobachten, mehr als 1.200 Meldungen über möglichen Wahlbetrug und andere Unregelmäßigkeiten ein. Dazu zählten insbesondere der Kauf und Verkauf von Stimmen – eine verbreitete und fast normalisierte Praxis bei den Lokal- und Regionalwahlen in Kolumbien –, illegale Wahlwerbung und Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe (fehlende Wählerlisten, Fehlverhalten der Wahlhelfer*innen) im Wahllokal.[3]

Die Staatsanwaltschaft berichtete von 23 Festnahmen im Zusammenhang mit der Abstimmung, darunter Personen, die mit hohen, mutmaßlich für den Stimmenkauf vorgesehenen Geldsummen ertappt wurden. Ein Kandidat trug umgerechnet mehr als 77.000 Euro bei sich.[4] Die Wahlbeteiligung war mit 60 Prozent sehr hoch.

Angeschlagene Rechte

Zu den Verlierern der Wahl zählt landesweit vor allem die rechte Regierungspartei Centro Democrático (CD) rund um den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe (2002–2010), die mit Iván Duque den aktuellen Präsidenten stellt. Sie geht schwer angeschlagen aus den Wahlen hervor. Nicht nur in Medellín und dem dazugehörigen departamento Antioquia, eigentlich eine Bastion des Uribismo, erlitt die Partei herbe Niederlagen. Auch viele Regionalregierungen und Bürgermeisterämter fielen, entgegen den Erwartungen, nicht an die Kandidat*innen Uribes oder konnten nur in Allianzen mit anderen traditionellen politischen Kräften erobert werden. Der CD-Kandidat in Bogotá, Miguel Uribe Turbay, landete gar chancenlos auf einem abgeschlagenen vierten Platz.

Grund für den bröckelnden Einfluss des Uribismo, der die politische Landschaft Kolumbiens seit fast zwei Jahrzehnten prägt, scheint nicht nur die Unzufriedenheit mit der Regierung von Präsident Duque zu sein. Zahlreichen der oft jungen Kandidat*innen seiner Partei fehlte es an politischem Profil: Ein Wahlplakat, das den oder die Kandidatin mit Uribe zeigt, reicht für einen Sieg heute nicht mehr aus. Besonders in den Großstädten versuchte die Partei mit einer entsprechenden Wahlkampf- und Kommunikationsstrategie die Kandidat*innen als vom Establishment unabhängig darzustellen, wenngleich ihre Abhängigkeit von alteingesessenen, teils verrufenen Politgrößen in vielen Fällen allzu offensichtlich ist. So ist beispielsweise der für Medellín aufgestellte Kandidat, Alfredo Ramos, der Sohn von Luis Alfredo Ramos, ein bekannter Regionalpolitiker, ehemaliger Gouverneur und Uribista, der wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Paramilitärs eine Gefängnisstrafe verbüßen musste.

Hinzu kommt, dass die politischen Schwerpunktthemen des Uribismo – die öffentliche Sicherheit, der Kriegskurs und die Ablehnung der Friedensgespräche mit der Guerilla Ejército de Liberación Nacional (ELN) sowie die populistische Ausschlachtung der Situation in Venezuela[5] – laut Umfragen für die Menschen zunehmend an Bedeutung verlieren. Nicht mehr die Bekämpfung illegaler Gruppen oder die Migration aus Venezuela machen vielen Menschen Sorgen, sondern steigende Arbeitslosigkeit und Korruption.[6] Themen, bei denen die Regierungspartei, in der sich ein Teil der regionalen Eliten versammelt, kaum glaubwürdig ist. Selbst der Übervater Uribe, der heute die CD-Fraktion im Senat anführt und auf den die Partei zugeschnitten ist, sieht sich einem Verfahren wegen Bestechung und Prozessbetrug durch Zeugenmanipulation[7] gegenüber. Eine von der Senatsfraktion des Centro Democrático zwei Wochen vor dem Urnengang wahlkampftaktisch lancierte Gesetzesinitiative, auf die steigende Arbeitslosenquote mit einer weiteren gesetzlichen Flexibilisierung der Arbeitnehmergesetze zu reagieren, scheint ebenso wenig verfangen zu haben.

Damit ist das Vorhaben der CD, ihre politische Macht im Hinblick auf die Kongress- und Präsidentschaftswahlen 2022 in den Regionen zu konsolidieren, gescheitert. Uribe gestand die Niederlage seiner Partei noch am Wahlabend ein.

Gesellschaftliche Machtverschiebung?

Der Erfolg unabhängiger Kandidat*innen zeigt, dass die Dominanz lokaler und regionaler Eliten und die Effektivität ihres ausgeklügelten, teils offen korrupten Systems zur Sicherung des Machterhalts abnehmen. Diese Tendenz ist jedoch nur bei den Bürgermeisterwahlen zu beobachten. Gouverneur*innen ebenso wie Stadträt*innen werden nach wie vor meist von Vertreter*innen der lokalen politischen Eliten gestellt, die sich teils innerhalb der Strukturen der etablierten Parteien, teils in «politischen Bewegungen» organisieren.[8]

Das System zur Sicherung des Machterhalts der Eliten geht auf bereits seit Jahrzehnten etablierte politische und klientelistische Strukturen zurück. Gestützt auf wirtschaftlichen Einfluss, in verschiedenem Maße durch Vetternwirtschaft und politische Gefälligkeiten abgesichert und mit illegalen Praktiken, Wahlbetrug und zum Teil mit Androhung und Ausübung von Gewalt, stellen sie so alle vier Jahre den Zugriff auf die Gebietskörperschaften und Verwaltungseinheiten sicher. Die Wahlentscheidung der Menschen geht daher vor allem in den ländlichen Regionen oft nicht auf einen individuellen Meinungsbildungsprozess zurück, sondern wird entsprechend einer direkten materiellen Gegenleistung gefällt. Dem Rechercheportal La Silla Vacía zufolge kann die «Wahl» zur Stadt- oder Gemeinderätin, zur Bürgermeisterin oder zum Gouverneur in der atlantischen Küstenregion die Kandidat*innen (und den hinter ihnen stehenden politischen Clans) zwischen acht und 24 Millionen Euro kosten.[9]

Machterhalt und Parteiensystem

Geschichtlich lassen sich die Klientelstrukturen, mit denen sich die politischen Eliten über das Parteien- und Wahlsystem ihre Macht sichern, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. Die Einbindung der verschiedenen Klassen erfolgte in dem lange Zeit starren Zwei-Parteien-System Kolumbiens seltener über demokratische Prozesse als über die Strukturen der beiden Großparteien, denen der Zugang zu staatlichen Institutionen und deren Kontrolle sicher war: Unmittelbare individuelle und kollektive politische Interessen durchzusetzen war (und ist auch heute oft) nur innerhalb dieser Strukturen möglich, weshalb es notwendig war, Teil des Netzwerks zu werden, sich mit den politischen Eliten zu arrangieren oder mit ihnen zu kooperieren. Daher werden diese politischen Akteur*innen bis heute von den popularen Klassen weniger als Eliten denn als Wohltäter und Gönner wahrgenommen, wenn sie auf Forderungen unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen oder lokaler Gemeinschaften eingehen.

Diejenigen, die aus diesem System ausscherten oder sich dagegen auflehnten, wurden als «interne Feinde» gebrandmarkt und mit Gewalt verfolgt. Die Stigmatisierung linker Parteien und sozialer Bewegungen als «Castro-Chavisten» (in Anspielung auf die politischen Prozesse in Venezuela und Kuba) durch die Rechte um Álvaro Uribe ist hierbei nur die aktuelle Erscheinungsform eines Denkens, das bis in die 1920er Jahre zurückreicht, als sich die entstehende Arbeiterklasse organisierte und mit Gewalt unterdrückt wurde.

Mit der zunehmenden Dezentralisierung des politischen Systems durch die Einführung der Bürgermeisterwahlen 1988 und der neuen Verfassung von 1991 brach die Vorherrschaft der beiden Großparteien allmählich auf. Besonders bei den Lokal- und Regionalwahlen dienen vor allem die Parteien des bürgerlichen Lagers den lokalen Eliten heute in vielen Fällen nur noch als wahlrechtlich notwendige Organisationen und machtpolitische Steigbügelhalter. Ihre ideologische oder politische Ausrichtung verwässert zugunsten finanzieller oder machtpolitischer Interessen.

Denn während einige, politisch-ideologisch kohärente Parteien ihre Kandidat*innen durch parteiinterne Verfahren und aufgrund politisch-strategischer Überlegungen auswählen oder – und das in zunehmendem Maße – Allianzen mit anderen Parteien eingehen, um einen gemeinsamen Kandidaten ins Amt zu tragen, findet in vielen Fällen die Vergabe dieser avales aber auch durch finanzielle Gegenleistungen statt. So wird einer Person, die gegebenenfalls außerhalb der Parteistrukturen steht, die Kandidatur wahlrechtlich erst ermöglicht.

Diese Kandidat*innen sind nicht an die Parteien gebunden, geschlossene Listen für die Wahl der Stadt- und Gemeinderäte (concejos) oder die der Regionalversammlungen (asambleas) gibt es nicht. So kann beispielsweise eine parteiferne Anwärterin auf dem «Ticket» einer Partei kandidieren oder ein progressiver Kandidat für eine Partei des Establishments in den Wahlkampf ziehen (der Unabhängige Jairo Yañez wollte zuerst für die Partei Centro Democrático ins Rennen gehen, trat dann aber für die Partido Alianza Verde an). [10]

Diese Entwicklung führt zu einer Individualisierung des Wahlkampfs: Da die Kandidat*innen mit einfacher Mehrheit gewählt werden und sich eigenständig, gegebenenfalls unabhängig von der Partei, deren «Segen» sie erhalten haben, um ihre Wählerstimmen bemühen müssen, sind sie auf politische und wirtschaftliche Unterstützung angewiesen. Diese kommt oft von etablierten politischen «Ziehvätern», Unternehmer*innen oder Interessenverbänden – die Grundlage für spätere politische und wirtschaftliche Abhängigkeiten, sollte der oder die Kandidat*in den Sprung ins Amt schaffen. In den Fällen, in denen ein*e Kandidat*in lediglich Statthalter*in der Interessen eines etablierten Lokalkaziken oder eines politischen Clans ist und deren politischen Einfluss sichern soll, kommt die Finanzierung ohnehin aus diesem Kreis.

Kein Grund für Aufbruchsstimmung

Die Tatsache, dass es von lokalen Eliten unabhängigen Kandidat*innen zunehmend zu gelingen scheint, gegen diese Eliten und ihr System zum Machterhalt anzukommen, bedeutet jedoch nicht die völlige Auflösung der Klientelstrukturen oder einen allgemeinen Linksruck. Erstens ist dieser Trend lediglich in größeren Städten und urbanen Gemeinden zu beobachten und nicht bei den Wahlen der Stadträt*innen, Abgeordneten der Regionalversammlungen und insbesondere nicht bei der Wahl der Gouverneur*innen (bei der viele Wähler*innen als Zeichen des Protests einen leeren Stimmzettel abgaben). Von einem flächendeckenden Einflussverlust der Eliten und der Ineffizienz ihres Systems kann also nicht die Rede sein.

Zweitens ist der Sieg eines unabhängigen Bewerbers nicht unbedingt Ausdruck eines Linksrucks. Kandidaten wie Daniel Quintero in Medellín, William Dau in Cartagena oder Jairo Yañez in Cúcuta verfolgen, wenn überhaupt, eine progressive, aber keine dezidiert linke Politik und scheuen die öffentliche Unterstützung der gesellschaftlichen Linken teils bewusst. Sie konnten vor allem mit einem Anti-Establishment- und Anti-Korruptions-Diskurs punkten.

Für die parteipolitische Linke fällt die Bilanz der Wahlen unterschiedlich aus: Während die bürgerliche Mitte-links-Partei Partido Alianza Verde wichtige Erfolge feierte (neben der Bürgermeisterin in Bogotá kamen auch die Stadtvorderen in den Provinzhauptstädten Cali, Manizales, Cúcuta und Florencia über die Partei ins Amt), verlief die Wahl für Colombia Humana, die Bewegung des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und Bürgermeisters von Bogotá, Gustavo Petro, durchwachsen. Die Bewegung stand unterer besonderer Beobachtung, weil Petro in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen gegen Iván Duque 2018 ein Rekordergebnis für einen Linkskandidaten eingefahren hatte (Duque holte 54 Prozent der Stimmen, Petro 42 Prozent). Nun errangen Kandidat*innen, die von Colombia Humana und anderen Parteien und Bewegungen unterstützt wurden, in einigen großen Städten Bürgermeisterämter (Villavicencio, Buenaventura, Santa Marta, Cali), im departamento Magdalena reichte es für den Kandidaten Carlos Caicedo zum Gouverneur. 

Im Vorfeld hatten zahlreiche eigenmächtige Entscheidungen Petros aber für Unmut in den eigenen Reihen und bei anderen linken Organisationen gesorgt: Er hatte über den Willen der lokalen Strukturen seiner Bewegung hinweg eigene Kandidat*innen bestimmt, womit er seinen alleinigen Führungsanspruch innerhalb der Bewegung unterstrich und wichtige Verbündete vergraulte. Seine aufgestellten Kandidat*innen, darunter der Journalist Hollmann Morris in Bogotá und einige Gouverneursanwärter*innen, unter anderem sein Sohn Nicolás, unterlagen.

Ein machtpolitisch weniger relevanter, aber symbolisch wichtiger Achtungserfolg war die Wahl des ehemaligen FARC-Sängers Guillermo Torres. Torres war jedoch ebenso wie die anderen zu Bürgermeistern gewählten ehemaligen FARC-Kämpfer (Edgardo Figueroa in Puerto Caicedo im südlichen departamento Putumayo und Marino Grueso in Guapí in der Cauca-Provinz) nicht oder nicht ausschließlich für die FARC-Partei (Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común; dt. Revolutionäre Alternative Kraft des Gemeinwohls) angetreten.

Von den 308 Bewerber*innen, die die Partei der Ex-Rebell*innen bei ihrer ersten Teilnahme an Regional- und Lokalwahlen insgesamt aufgestellt hatte, erreichten zwei das Amt eines Stadtteilvertreters in Randvierteln von Bogotá (wo sie insgesamt rund 26.000 Stimmen holten). Zudem stellt sie in zwei kleineren municipios je ein Gemeinderatsmitglied.

Insgesamt sieht sich die Partei zahlreichen politischen und internen Problemen gegenüber. Das ist ein Grund dafür, dass Kandidaten wie Torres sich entschieden, nicht für sie anzutreten. Viele linke Parteien und Bewegungen hatten aus Angst vor Stigmatisierung durch politische Gegner*innen und Verlust der Wählerstimmen der FARC im Vorfeld Allianzen verweigert. Die Partei ist politisch isoliert. Hinzu kommen die prekäre Sicherheitslage für die ehemaligen FARC-Kämpfer*innen und fehlende politische Garantien. Erst wenige Tage vor der Wahl wurde ein ehemaliger Guerillero in einer der Übergangszonen (in denen die FARC-Kämpfer*innen ihre Waffen abgaben und zahlreiche Demobilisierte immer noch leben) erschossen. Seine Frau kandidierte als Stadträtin für die Partei.

Desolat ist neben der Sicherheitslage und dem Fehlen politischer Garantien aber auch die interne Situation der Partei. Im August dieses Jahres hatten sich die Fraktion um den ehemaligen Verhandlungsführer der Friedensgespräche (2012–2016), Iván Márquez, und weitere ehemals hochrangige Kämpfer*innen von der Partei losgesagt und die Fortsetzung des bewaffneten Kampfes angekündigt. Im Oktober wandte sich eine weitere Gruppe von der Parteiführung um Rodrigo Londoño ab. Ein ursprünglich für August 2019 geplanter Parteitag soll nun erst im Januar 2020 stattfinden.

Aussichten

Lokal- und Regionalwahlen in Kolumbien können aufgrund der Eigenheiten des Wahl- und Parteiensystems nur eingeschränkt Aufschluss über die politische Situation und die Machtverhältnisse geben. Sie sind selten mit den Organisationsdynamiken der sozialen Bewegungen und deren Protesten verzahnt. Der Sieg Victor Hugo Vidals vom Zentralkomitee des Zivilstreiks (Comité Central del Paro Cívico) in Buenaventura ist eine Ausnahme und ein Beispiel dafür, dass es Basisbewegungen gelingen kann, ihren Kandidaten in ein Amt zu tragen.

Es muss sich erst zeigen, ob politisches Gestalten auf lokaler Ebene und innerhalb der Institutionen soweit reichen kann, dass die gesellschaftlichen Um- und Missstände, die zu Mobilisierungen geführt haben, verändert werden können. Die Durchsetzung linker Politik gegen die Interessen der lokalen Eliten wird auf deren Widerstand stoßen, der sich nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch mit Gewalt äußern wird. Auch wenn ein gewisser Einflussverlust der Eliten und der traditionellen Parteien zu beobachten ist, bleibt der Wettbewerb um die Ämter gegen deren Übermacht und deren ausgeprägten Klientelnetzwerke ein ungleicher – und gefährlicher. Einige der Weggefährten Victor Hugo Vidals, dem neu gewählten Bürgermeister Buenaventuras, fürchten deshalb um sein Leben.

Ein allmähliches Aufbrechen der Vormachtstellung der Eliten kann einer gesellschaftlichen Veränderung nur zuträglich sein. Aus dieser positiven Tendenz jedoch eine Aufbruchsstimmung abzuleiten, die eine baldige Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse ankündigt, ist verfrüht und greift analytisch zu kurz. Denn die Wahlen haben ebenfalls gezeigt, dass die wirtschaftlichen und politischen Eliten in vielen Regionen des Landes trotzdem nach wie vor fest im Sattel sitzen.

Im Hinblick auf die politische Gesamtlage und die Präsidentschaftswahlen 2022 hat der Urnengang gezeigt, dass das Regierungslager um die Uribe-Partei Centro Democrático einen Rückschlag erlitten hat. Der amtierende Präsident Iván Duque ist geschwächt und gerät immer stärker unter Druck: Die Wirtschaft stockt, die Arbeitslosigkeit steigt und der Peso ist gegenüber dem Dollar dauerhaft schwach. Nach einem Massaker an Indigenen im Cauca kurz nach der Wahl und dem Bekanntwerden, dass bei einem Bombardement eines Guerillacamps sieben Minderjährige getötet wurden, musste sein Verteidigungsminister Guillermo Botero zurücktreten.[11] Duques Beliebtheitswerte sind schlecht und ein starker Bewerber der Rechten, der ihm ins Amt folgen könnte, ist derzeit nicht in Sicht.

Eröffnet die Schwäche der CD Chancen für eine Präsidentschaftskandidatin, die nicht aus den Reihen oder Strukturen der politischen Eliten kommt? Zumindest gehen die Partido Alianza Verde und in etwas geringerem Maße die PDA gestärkt aus den Wahlen hervor. Sollten sich beide Parteien wie in Bogotá auf einen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl einigen – möglicherweise der ehemalige Bürgermeister Medellíns Sergio Fajardo –, besteht die Möglichkeit, dass dieser in die Stichwahl einzieht.

In der Bewegung Colombia Humana, die bei den Präsidentschaftswahlen zahlreiche linke gesellschaftliche Gruppen vereinen konnte, scheint der Erfolg Petros bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr verpufft zu sein. Er hat mit seinem Führungsstil die Etablierung regionaler Strukturen behindert und andere wichtige Mitglieder seiner Bewegung Colombia Humana verloren. Bündnisse mit anderen Parteien und sozialen Organisationen werden dadurch erschwert. Letztere werden in der verbleibenden Amtszeit der Regierung ohnehin mehr auf Proteste und Mobilisierungen setzen. Aktuell kommt es erneut zu Demonstrationen der Studierenden und für den 21. November 2019 ist ein sektorübergreifender Nationaler Streiktag (paro nacional) geplant, der sich unter anderem gegen die anhaltende politische Gewalt, Duques Kriegskurs gegen Dissident*innen der FARC und der ELN und gegen die geplante Renten-und Arbeitsmarktreform richtet.

Klassen- und regionenübergreifende Massenproteste wie in Chile und Ecuador gegen neoliberale Politik sind in Kolumbien aber nicht abzusehen. Die Machtsicherung der Eliten durch ein mit Gewalt gepanzertes Klientelsystem, das auch bei diesen Wahlen seine Wirkung entfaltete, ist ein Grund dafür.


[1] Als departamentos werden in Kolumbien die 32 Provinzen bezeichnet, in die das Land unterteilt ist. Die Aufgaben der ihr vorstehenden Gouverneur*innen betreffen unter anderem die wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Die departamentos haben aber weit weniger Kompetenzen als etwa die deutschen Bundesländer und ihr Budget ist oft geringer als das der in ihnen liegenden großen Städte und Gemeinden (municipios).

[2] Misión de Observación Electoral: Mapas y factores de riesgo electoral, 1.10.2019, S. 9, unter: https://moe.org.co/riesgos-por-fraude-y-por-factores-de-violencia-confluyen-en-152-municipios-del-pais-moe/.

[3] Misión de Observación Electoral: Informe de Cierre, 28.10.2019, unter: https://moe.org.co/informe-de-cierre-mision-de-observacion-electoral-moe/.

[4] Fiscalía reporta 23 capturados por fraude electoral, in: El Tiempo, 27.10.2019, unter: www.eltiempo.com/justicia/delitos/fiscalia-reporta-23-capturados-por-delitos-electorales-427592.

[5] Die politische und wirtschaftliche Situation in Venezuela unter Hugo Chávez und dessen Nachfolger Nicolás Maduro ist für Álvaro Uribe und seine Partei seit vielen Jahren ein wichtiges politisches Thema. Sie haben ebenso wie Präsident Duque die Maduro-Regierung wiederholt stark kritisiert und unterstützen die venezolanische Opposition, darunter auch den Politiker Juan Guiadó, der sich im Januar 2019 zum Übergangspräsidenten erklärt und damit eine politische Krise ausgelöst hatte. Rund 1,5 Millionen Venezolaner*innen sind aufgrund der Wirtschaftskrise mittlerweile ins Nachbarland Kolumbien migriert.

[6] Desempleo y corrupción, principales preocupaciones de colombianos: encuesta Invamer, Blu Radio, 1.9.2019, unter: www.bluradio.com/nacion/desempleo-y-corrupcion-principales-preocupaciones-de-colombianos-encuesta-invamer-222350-ie435.

[7] Schwarz, Frederike: Kolumbien: Expräsident Uribe wegen Zeugenmanipulation vor Gericht, amerika 21, 14.10.2019, unter: amerika21.de/2019/10/232530/uribe-vor-gericht.

[8] Die Konservative (Partido Conservador) und die Liberale Partei (Partido Liberal) wurden im 19. Jahrhundert gegründet und haben als klassenübergreifende «Volksparteien» die Politik Kolumbiens mehr als ein Jahrhundert lang bestimmt. In den vergangenen drei Jahrzehnten sind immer wieder Abspaltungen entstanden. Zu den wichtigsten bürgerlichen Parteien gehören heute neben der Konservativen und der Liberalen Partei derzeit die Partei Centro Democrático, die Partido Social de Unidad Nacional, Cambio Radical und die Partido Alianza Verde. Hinzu kommen verschiedene «politische Bewegungen». Das sind teils nur eine Wahlperiode andauernde Bündnisse oder Zusammenschlüsse, die berechtigt sind, Kandidat*innen aufzustellen.

[9] La Silla Vacía: Votos por billete, 21.10.2019, unter: youtu.be/rdxsM56ZeuU.

[10] Eine Wahlanalyse, die sich ausschließlich auf die Wahlergebnisse der Parteien konzentriert, ist daher insbesondere bei den Lokal- und Regionalwahlen nur teilweise zielführend. Vielmehr muss vor allem das Abschneiden der verschiedenen lokalen Eliten und Politclans in Augenschein genommen werden.

[11] Wojczenko, Katharina: Eine Amtszeit voller Skandale, in: die tageszeitung, 7.11.2019, unter: taz.de/Ministerruecktritt-in-Kolumbien/!5636751/.