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Am 19. April 2018 jährt sich zum 75. Mal der Ausbruch des Aufstands im Warschauer Ghetto.

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Autor

Holger Politt,

Damals lebten noch mindestens 60.000 Menschen im Ghetto, das seit dem 16. November 1940 geschlossen war.

Zeitweise lebten im Ghetto bis zu 460.000 Menschen. Niemand indes wusste, welches Schicksal auf die gewaltsam abgetrennte Großstadt innerhalb des von den Deutschen besetzten Warschaus wartet. Am 22. Juli 1942 begann die sogenannte große Aktion, mit der bis zum 21. September 1942 über 300.000 Menschen nach Treblinka gebracht wurden, um sie dort kurzerhand zu vergasen. Nachdem die Transporte eingestellt wurden, blieben im Ghetto 35.000 «legale» Menschen zurück, die in den verschiedenen Arbeitsstätten des Ghettos registriert waren. Die übrigen Menschen – also alle, die offenkundig gar keine Arbeitserlaubnis besitzen konnten – mussten sich verstecken oder versteckt werden. In dieser Zeit bildete sich im Ghetto der feste Wille heraus, den Deutschen beim nächsten Versuch, die Transporte nach Treblinka fortzusetzen, entgegenzutreten. Erstmals geschah das am 18. Januar 1943, als bewaffneter jüdischer Widerstand die Pläne der Deutschen durchkreuzte. Die endgültige Liquidierung des Ghettos wurde verschoben, erst drei Monate später drangen die Besatzer wieder ins abgeriegelte Ghetto ein, um es zu beseitigen. Die Besatzer brauchten mehrere Wochen, um den bewaffneten Widerstand zu brechen. Die Große Synagoge wurde am 16. Mai 1943 in die Luft gesprengt – als Zeichen des endgültigen Sieges der Deutschen über das jüdische Warschau. Der heroische Waffengang der Aufständischen, angeführt von einer Gruppe junger Männer und Frauen unter Führung des linken Zionisten Mordechaj Anielewicz, hat zwar militärisch keinerlei Bedeutung gehabt, aber er zählt überhaupt zu den wichtigsten Aufständen der Weltgeschichte für die Verteidigung der Menschlichkeit.

In Erinnerung an die Aufständischen und die verfolgten Menschen im Warschauer Ghetto werden nachfolgend Auszüge aus zwei Tagebüchern angeführt, die im Ghetto geschrieben wurden. Der Judaist Emanuel Ringelblum war der Leiter des Untergrundarchivs im Warschauer Ghetto, der Schriftsteller und Hebräisch-Lehrer Abraham Lewin einer der Mitarbeiter. Das Archiv trägt jetzt den Namen von Emanuel Ringelblum, die erhalten gebliebenen Teile des Archivs befinden sich heute im Jüdischen Historischen Institut, das ebenfalls den Namen von Emanuel Ringelblum trägt. Ringelblum und Lewin führten in der Ghettozeit jeweils Tagebuch – die Aufzeichnungen haben den Krieg überstanden und legen Zeugnis ab von den letzten Lebensabschnitten der beiden Autoren. Ringelblum konnte im Frühjahr 1943 aus dem Ghetto fliehen und sich mit Ehefrau und Sohn in Warschau zusammen mit über 30 anderen Menschen verstecken. Nachdem das Versteck am 7. März 1944 aufgeflogen war, wurden sämtliche Insassen in der Steinwüste auf dem Gebiet des ehemaligen Ghettos erschossen. Abraham Lewins letzter Eintrag ins Tagebuch stammt vom 17. Januar 1943. Über das weitere Schicksal ist nichts bekannt.

Die angeführten Zitate wurden nach den jeweiligen polnischen Ausgaben übersetzt.
 

Abraham Lewin

21. Mai 1942:

[…] In den letzten Tagen sind im Ghetto sehr viele deutsche Juden aufgetaucht. Sie sind an dem gelben Davidstern mit der Aufschrift «Jude» zu erkennen. Zur Arbeit und zurück gehen sie in geschlossenen Reihen. Sie gehen aber auch einzeln auf den Straßen umher. Bislang wurde noch kein Kontakt hergestellt zwischen ihnen und uns. Zwischen uns steht weiter die Mauer jahrhundertealter Vorurteile und sprachlicher Trennung. Einem Juden aus Hannover fällt es schwer, sich mit einem Juden aus Piaseczno oder Grójec zu verständigen, was auch umgekehrt gilt. Sie können sich einfach nicht verständigen. Mit der Zeit, so hoffen wir, wird es zu einer Annäherung kommen. Sie werden sich durchmischen und sich mit uns assimilieren. So etwas gab es mehrmals in der Geschichte, die Vertriebenen aus Spanien in Deutschland und Polen, zuletzt die jemenitischen und deutschen Juden in Eretz Israel. An dieser Stelle möchte ich die Aufmerksamkeit nur auf das äußere Erscheinungsbild der deutschen Juden richten, auf die anthropologische Seite der Sache. Ich schaue in ihre Gesichter und mich erstaunt die große Ähnlichkeit zu uns; wir sind uns ähnlich wie zwei Wassertropfen. Gäbe es die gelben Zeichen nicht an der Brust, würden wir überhaupt nicht mehr erkennen, dass vor uns ein deutscher Jude seit Generationen steht. Das bedeutet, dass die jahrhundertelangen klimatischen (in einem gewissen Grade), sprachlichen und kulturellen Unterschiede nicht imstande waren, unsere gemeinsame Herkunft und unsere anthropologische Gestalt auszuwaschen und zu vertuschen. An Hand der Beobachtung kann festgestellt werden, dass die Konzeption des westeuropäischen und des osteuropäischen Juden oberflächlich und nicht zutreffend ist. Tatsächlich sind wir aus dem gleichen Ton zusammengesetzt. Wir sind wie zwei Brüder, von denen einer vom Schicksal weit fortgebracht wurde, nach Amerika, während der andere in seinem polnischen oder litauischen Schtetl geblieben ist. Wenn sie sich nach 15 oder 20 Jahren wiedersehen, spüren sie die Fremdheit und werden verlegen. Mit der Zeit wird das Brudergefühl die Fremdheit überwinden, die durch die Zeit und die kulturellen Unterschiede eingetreten ist. […]

(Im April 1942 wurden ungefähr 4.000 Juden aus verschiedenen Ecken des Deutschen Reichs und aus dem Protektorat Böhmen und Mähren ins Warschauer Ghetto transportiert. Untergebracht wurden sie zunächst in einer Quarantänestation und im Gebäude der Judaistischen Bibliothek, in dem sich heute das Jüdische Historische Institut befindet.)

28. August 1942:

Heute haben wir ein langes Gespräch geführt mit Dawid Nowodworski, der aus T[reblinka] zurückgekommen ist. Er hat uns genau berichtet über alles Leiden, dem er ausgesetzt war von dem Moment an, als man ihn geschnappt hatte, bis zur Flucht vom Ort des Entsetzens und der Rückkehr nach Warschau. Seine Worte bestätigen noch einmal, was wir bereits wissen, und sie sind über jeden Zweifel erhaben, dass die Menschen aus allen Transporten umgebracht werden und keiner sich retten kann. Also sowohl diejenigen, die geschnappt wurden, als auch diejenigen, die sich freiwillig stellten. Das ist die nackte Wahrheit. Schauderhaft. Und daran denken, dass in den zurückliegenden Wochen mindestens 300.000 Juden aus Warschau, Radom, Siedlce und vielen, vielen anderen Städten umgebracht wurden. Auf Grundlage seines Berichts haben wir eine Zeugenaussage angefertigt, die dermaßen grauenvoll und erschütternd ist, dass sich das mit menschlicher Sprache gar nicht beschreiben lässt. Das ist wahrscheinlich das größte Verbrechen, das in der Geschichte der Menschheit jemals verübt wurde. […]

(An dem Gespräch mit Dawid Nowodworski nahm auch Emanuel Ringelblum teil.)

 

Emanuel Ringelblum

5. Dezember 1942:

Weshalb wurden zehn Prozent der Juden in Warschau übriggelassen? Nicht wenige versuchen die Frage zu beantworten, denn von der Antwort hängt ab, wie lange sie uns im Ghetto lassen werden, wie lange sie uns leben lassen und ob sie uns überhaupt am Leben lassen werden, wann sie mit uns Schluss machen werden. Nach Meinung vieler der Sache sich bewusst seiender Menschen wurden zehn Prozent der Juden in Warschau nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus rein politischen Gründen übrig gelassen. Denn was schert sie, was die Juden selbst für die Wehrmacht produzieren! Deutschland, das ganz Europa in seine Gewalt bekommen hat, kann die Leerstelle, die infolge der Aussiedlung der Juden entsteht, schnell wieder füllen. Hätten die Deutschen wirtschaftlich gerechnet, dann hätten sie nicht ohne mit der Wimper zu zucken tausende erstklassige Handwerker zum Umschlagplatz geschickt (die SS sucht jetzt händeringend jüdische Handwerker, vor allem Tischler, Maler, überdies zu durchaus guten Bedingungen). Das gleiche in der Provinz, wo viele Städte bereits «judenrein» sind, obwohl die jüdische Bevölkerung dort eingesetzt wurde im Arbeitsprozess für die Wehrmacht, z. B. in Zamość.

Es zeigt sich, dass gegenüber den Juden keine wirtschaftlichen Kriterien zählen, sondern politische, propagandistische. Wenn es so ist, dann stellt sich die Frage noch schärfer: Weshalb wurde der Rest Juden nun übrig gelassen? Die Antwort ist politischer Natur. Hätten sie alle Juden in Warschau und im Generalgouvernement beseitigt, würde sie das Judenargument verlieren. Denn schwieriger wäre es dann, den Juden die Schuld für alle Schwierigkeiten und Misserfolge aufzubürden. Der Jude muss bleiben ganz nach dem geflügelten Wort: Möge Gott dafür sorgen, dass dir alle Zähne ausfallen außer der letzte, damit du nicht vergisst, was Zahnschmerzen sind.

Und es gibt noch etwas, was die Deutschen veranlasst, die Reste der Juden einstweilen noch in Warschau zu belassen. Das ist die Weltöffentlichkeit. Denn in keiner ihrer Erklärungen wird eingeräumt, Millionen Juden hingemordet zu haben. Als 40.000 Juden in Lublin beseitigt wurden, erschien in der Warschauer Zeitung eine Korrespondenz, in der berichtet wurde, wie gut es den Lubliner Juden nun gehe, wie erfolgreich Schmuggler und Spekulanten nun zu produktiven Elementen umgeschult worden seien, die derzeit nach einfacher Menschenart in Majdan lebten.

Das gleiche Spiel in Warschau. Sie wollen gegenüber der Weltöffentlichkeit nicht zugeben, alle Warschauer Juden ermordet zu haben, also wurde der Rest Juden übriggelassen – nicht nur für den Zahnschmerz, sondern auch für die übrige Welt –, die sie aber beseitigen werden noch bevor die Uhr zwölf geschlagen haben wird. Hitler setzt alle Mittel ein, um sein Versprechen der «Befreiung» Europas von den Juden wahrzumachen. Nur ein Wunder kann uns retten vor der vollständigen Vernichtung, nur eine rasche und blitzschnelle Niederlage könnte uns erlösen.

Ein schwarzer Pessimismus hat die jüdische Bevölkerung ergriffen. Morituri – das ist die treffende Bezeichnung für die Warschauer Juden. Die Mehrheit der Menschen ist auf Widerstand eingestellt. Ich denke, sie werden nicht mehr wie unschuldige Schafe zu der Schlachtbank gehen. Sie verlangen, das der Feind teuer bezahlen wird für ihr eingesetztes Leben. Sie werden sich auf ich werfen mit Messern, Hackklötzern, Säure. Sie werden keine Straßenblockaden mehr zulassen. Sie werden sich nicht mehr auf der Straße schnappen lassen, denn sie wissen, jedes Arbeitslager bedeutet jetzt den Tod, sie wollen aber zu Hause sterben und nicht irgendwo in der Fremde. Es wird zum Widerstand kommen, falls er natürlich vorher organisiert werden wird und falls der Feind keine Blitzaktion durchführen wird, so wie z. B. in Kraków. Dort wurden Ende Oktober in der Nacht in nur sieben Stunden 5.500 Juden geschnappt und in die Waggons gesperrt.

Es bestätigt sich das bekannte psychologische Gesetz, dass ein Sklave, der fast restlos zugrunde gerichtet wurde, keinen Widerstand mehr leisten könne. Doch es zeigt sich, dass sich die Juden nach den fürchterlichen Stößen, die ihnen versetzt wurden, etwas aufgerichtet haben, die Erlebnisse ein wenig abschütteln konnten und jetzt die Rechnung aufmachen: zur Schlachtbank zu gehen hat die Tragödie nicht verringert, im Gegenteil, sie wurde noch größer. Alle, mit denen man spricht, sind sich einig: Man hätte es nicht zur Aussiedlung kommen lassen dürfen. Man hätte auf die Straße gehen müssen, alles anzünden müssen, die Mauern in die Luft sprengen müssen und sich auf die andere Seite durchkämpfen müssen. Die Deutschen hätten Rache genommen. Das hätte mehrere zehntausend Opfer gekostet, aber nicht 300.000. Jetzt schämten wir uns vor uns selbst und vor der ganzen Welt, weil unser Gehorsam überhaupt nichts genützt habe. Noch einmal dürfe sich das nicht wiederholen, jetzt müssten wir Widerstand leisten, alle ohne Ausnahme müssten dem Feind die Stirn bieten. […]

(Vom 17. März bis 11. April 1942 wurden über 30.000 Menschen aus dem Ghetto in Lublin nach Bełżec gebracht. Ungefähr 4.000 Menschen wurden ins neu geschaffene Ghetto im Lubliner Vorort Majdan Tatarski gebracht, um Arbeitsleistungen zu erbringen. Zusätzlich hielten sich etwa 3.000 Menschen dort auf, die keine entsprechenden Arbeitsnachweise hatten und von April bis Oktober 1942 in mehreren Transporten auf den Weg in den Tod geschickt wurden. Das Ghetto in Majdan Tatarski wurde am 9. November 1942 aufgelöst, die meisten Menschen fanden in Majdanek den Tod. 

Vom 27. bis 29. Oktober 1942 wurden 11.000 Menschen aus dem Ghetto in Kraków in  ein Übergangslager gebracht, von dem aus die meisten nach Bełżec transportiert wurden.)