Nachricht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - Kapitalismusanalyse - Globalisierung - Afrika - Westafrika «Die Kräfte der Veränderung müssen aus dem globalen Süden kommen»

Samir Amin ist am 12. August gestorben. Ein Nachruf von Claus-Dieter König.

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Samir Amin hielt im September 2016 eine Luxemburg Lecture zum Thema «Kapitalismus am Ende? Alternativen denken!» CC BY 2.0, Fraktion DIE LINKE / flickr

Er war ein Intellektueller und Ökonom, dessen Werk weltweit Generationen von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen beeinflusst hat.

Sein Buch Die ungleiche Entwicklung (Le développement inégal, 1973) habe ich in einem Sommerurlaub gelesen, lange bevor ich ihn persönlich kennengelernt habe. Die Welt hat sich selbstverständlich verändert in den 45 Jahren nach der Veröffentlichung dieses Buches, doch für mich halten weiterhin viele der dort präsentierten Argumente. Dieses Buch zusammen mit seinen vielfältigen weiteren Publikationen haben  Samir Amin neben André Gunder Frank, Paul Sweezy und Dieter Senghaas zu einem der wichtigsten Vertreter der Dependenztheorie gemacht.

Viele Jahre später sitze ich in seinem Büro in Dakar, wo er Direktor des von ihm gegründeten Third World Forums war. Er raucht ein Zigarillo und wir trinken gemeinsam einen starken Kaffee an, so lässt es sich diskutieren. Undenkbar, dass er in einem Nichtraucherbüro arbeiten könnte. Spaßeshalber sagte er manchmal, dass Raucher zu den am schärfsten verfolgten Gruppen weltweit gehörten.

Während ich für die RLS in Dakar gearbeitet habe, hatte ich hin und wieder die Gelegenheit, Samir zu treffen und mit ihm zu diskutieren. Er sprach damals oft und gerne über die Notwendigkeit Nationaler Souveräner Projekte im globalen Süden. Dabei handelt es sich um eine politische Strategie, die konsequent aus seiner Variante der Dependenztheorie abgeleitet werden kann. Denn der kapitalistischen Weltwirtschaft ist eine Logik inhärent, die Schere zwischen Zentrum und Peripherie immer weiter zu öffnen, indem das Zentrum die ökonomischen Ressourcen der Peripherie nutzt, um selbst wirtschaftlich weiter zu erstarken. Der Peripherie hingegen bleibt eine extravertierte und inkohärente Wirtschaftsstruktur ohne Potenzial, sich unabhängig zu entwickeln. Ohne Delinking und ohne eine eigene, autozentrische Entwicklungsstrategie können die Länder des globalen Südens nicht aus ihrer peripheren Position ausbrechen.

Delinking heißt also, aktiv eine Industrie- und eine Landwirtschaftspolitik zu verfolgen, in der der Staat eine zentrale Rolle spielt. Instrumente sind die Nationalisierung von Schlüsselindustrien und Banken, die Kontrolle von Finanztransaktionen und des Handels. Zölle und andere Mittel der Handelspolitik werden genutzt, um die Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung des eigenen Landes zu gewinnen. Dazu gehört insbesondere die Wiederbelebung und Modernisierung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Samir hat den Begriff der Ernährungssouveränität nicht erfunden, doch bildet einen notwendigen Bestandteil einer Delinking-Strategie. Der Begriff «Souveränität» wird in Samirs Nationalem Souveränen Projekt in gleicher Weise ausgeprägt. Delinking ist selektiv, es handelt sich nicht um Isolation.

Ein Nationales Souveränes Projekt bedarf auch einer politischen Seite. Um es mit Gramsci zu sagen: ein hegemoniales Projekt der wirklichen nationalen Selbstbestimmung. Dazu gehören neben der Wirtschaft unabhängige Medien und das Organisieren von Bewegungen und in der Zivilgesellschaft.

Im weiteren Verlauf des Gespräches fragen wir uns, wer die sozialen Kräfte sind, z.B. in Westafrika, die solche souveränen Projekte formulieren und umsetzen können. Samir verweist auf die vielfältigen Kämpfe von Kleinbäuer*innen, die oft kaum von den Medien oder von den linken Kräften in der Hauptstadt wahrgenommen wurden: Kämpfe gegen Landgrabbing und die Industrialisierung der Landwirtschaft. Er verweist auf die Unruheherde in den Vorstädten Dakars. Wir stellen fest, dass diese noch nicht die Stärke entwickelt haben, die Machtfrage auf nationaler Ebene zu stellen. Er war extrem kritisch gegenüber der liberalen Demokratie und der Art und Weise, wie sie die Bevölkerung wirklicher Mitbestimmung beraubt und ihr die marginale Rolle überlässt, periodisch die Führungspersonen eines unverändert durch und durch der Kapitallogik gehorchenden Staates zu wählen.

Dennoch betonte Samir stets, dass die sozialen Kräfte um die Welt progressiv zu verändern vor allem aus dem globalen Süden kommen müssen. Der Norden sichert seine Privilegien durch sein Festhalten an der Kontrolle der Technologien und des globalen Finanzsystems, durch die Verfügung über die Ressourcen (wenn notwendig, durch Gewalt abgesichert), durch die militärische Stärke und durch die Erzeugung der Wahrheit durch die Leitmedien. Dass unsere Lebensweise auf diesen Privilegien basiert, bedeutet, dass es schwer ist, im Norden eine starke Bewegung auszubauen, die gleichzeitig radikal und konsequent genug gegen die internationale Ungleichheit und globale Machtverhältnisse kämpft. Eine politische Linke im Norden, die nicht in erster Linie internationalistisch ist, riskiert in letzter Instanz kontraproduktiv zu werden. Es ist ihre Aufgabe, die Kontrolle des Nordens über den Süden anzugehen. Tut sie dies nicht, vertritt sie letztlich nur die positionellen Interessen der Menschen des Nordens gegen diejenigen im globalen Süden. Dies klar und unverblümt immer wieder zu betonen, ist eines von Samir Amins wichtigsten Vermächtnissen.