Nachricht | Europa - Erinnerungspolitik / Antifaschismus „Mein Vater war ein Mörder“

Die Tochter des Gestapo-Chefs von Belgrad stellt ihre Nachforschungen über die Verbrechen ihres Vaters der Belgrader Öffentlichkeit vor

Auf der Suche nach der Wahrheit über ihren Vater Bruno Sattler kam Beate Niemann im Jahr 2001 zum ersten Mal nach Belgrad. Als Chef der Gestapo 1942 bis 1944 stand Sattler in direkter Verantwortung für die Vernichtung der jüdischen Frauen und Kinder aus dem Lager Sajmište („Judenlager Semlin“) im Gaswagen und unterschrieb tausende von Todesurteilen. Auf der Recherche über die Verbrechen Sattlers wurde Beate Niemann ein Jahr lang von dem Dokumentarfilmer Yoash Tatari begleitet. Es entstand der Dokumentarfilm „Der gute Vater. Eine Tochter klagt an”. Im Rahmen des Projekts „Besuch auf Staro Sajmište - Kriterien und Maßstäbe der Erinnerung“ wurde der Film zum Tag der Befreiung am 20. Oktober 2011 erstmalig in Belgrad gezeigt. Nach der Filmvorführung im mit über 300 Gästen überfüllten Saal des Kulturzentrums Rex stellte sich Frau Niemann den Fragen der Belgrader Öffentlichkeit.

Die Geschichte der Familie Niemann ist ein Spiegel der deutschen Nachkriegsvergangenheit. Jahrzehntelang galt der Vater in Frau Niemanns Familie als „unschuldiges Opfer der DDR-Justiz“. Sattlers Kollegen, wie beispielsweise sein Vorgesetzter und Chef des SD Serbien, Emanuel Schäfer, waren in der Bundesrepublik Deutschland längst auf freiem Fuß. Während Sattler in der DDR zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war, wurde Schäfer in der Bundesrepublik nach nur drei Jahren entlassen. Mit der Absicht, ihren Vater posthum zu rehabilitieren, stellte Beate Niemann nach der Wende einen Antrag auf Rehabilitation und beantragte die Einsicht in die Stasi-Unterlagen bei der Gauck-Behörde. Als sie von den grausamen Verbrechen erfuhr, die ihr Vater in Russland, Serbien und anderen von den Nazis besetzten Gebieten begangen hatte, war sie geschockt. Sie beschloss, sich der Geschichte ihres Vaters zu stellen und begab sich auf die Suche nach Dokumenten über seine Verbrechen, die sie 2001 auch nach Belgrad führte.

Im Kontext des Projektes zur Geschichte des lange Zeit vergessenen Konzentrationslager Sajmište, das vom Kulturzentrum Rex mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung durchgeführt wird, kam Beate Niemann im Oktober diesen Jahres zum zweiten Mal nach Belgrad. Bereits am Tag ihrer Ankunft wurde Frau Niemanns Besuch auf der Titelseite der Tageszeitung Blic angekündigt. Fast alle serbischen Tageszeitungen und das öffentliche Fernsehen hatten sich für Interviews angemeldet. Geduldig und mit großer Sorgfalt antwortete Beate Niemann während ihres dreitägigen Aufenthalts auf die Fragen der Journalisten. Auch die kroatische Tageszeitung Jutarnji list hatte ein Team geschickt. Den größten Eindruck bei den Journalisten hinterließ Frau Niemanns Mut, sich gegen die Lügenwelt und das Schweigen ihrer eigenen Familie zu wenden. In einigen Artikeln wurde auch der Umgang der serbischen Gesellschaft mit den Verbrechen während der Jugoslawienkriege hinterfragt.

Auch im Publikumsgespräch nach der Projektion des Films wurde dieses Thema angesprochen. Beeindruckend für viele BesucherInnen war, dass Frau Niemann persönlich die Vergangenheit ihres Vaters erforschte und sich mit seinen Verbrechen direkt konfrontierte, indem sie mit den Nachkommen der Opfer Kontakt aufnahm. Nur wenn wir unsere Geschichte kennen und die Geschichte der anderen, so Frau Niemann, hätten wir eine gemeinsame Zukunft. Mahnmale alleine würden dafür nicht ausreichen. Im Bezug auf ihre Arbeit an Schulen hob sie die Notwendigkeit des Dialogs mit Nachkommen von Opfern hervor.

Die Filmvorführung und das Gespräch mit Frau Niemann haben ein großes Bedürfnis nach weiterführenden Veranstaltungen erzeugt. Das öffentliche Fernsehen RTS und verschiedene Organisationen meldeten bereits Interesse an dem Film über Beate Niemann an. Im Kulturzentrum der südserbischen Stadt Niš wurde am 9. November von einem örtlichen antifaschistischen Kollektiv eine Projektion organisiert.

Autorin: Rena Rädle

Weitere Informationen zum Projekt finden Sie unter "Staro sajmište"