Nachricht | Amerikas - International / Transnational Wenn die Ausgegrenzten ihr eigenes Recht haben

Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt antirassistische Justizreformen in Ecuador und Bolivien.

Information

Autorin

Miriam Lang,

Indigene Justiz, Plurinationalität und Interkulturalität ist der Titel einer zweibändigen Publikation, die das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die Andenregion im Oktober und November in Bolivien und Ecuador vorgestellt hat. Hunderte Justizangestellte, AkademikerInnen, traditionelle indigene Würden- und Amtsträger und sonstige Interessierte kamen zu den entsprechenden Debatten in La Paz, Sucre und Quito.

Hauptanliegen der vergleichenden Forschung ist eine Bestandsaufnahme in Bezug auf die Umsetzung eines Gebots, dass beide Andenländer vor kurzem in ihren neuen Verfassungen festgeschrieben haben: Der Aufbau einer plurinationalen, d.h. genuin interkulturellen Institutionalität und Gesellschaft, die der ethnischen Vielfalt Rechnung trägt und die aus der Kolonialzeit übernommene, rassistische Struktur abschüttelt. Beide Verfassungen räumen der indigenen Justiz, die je nach Ethnie und Dorf unterschiedlich praktiziert wird, ihre historische Legitimität und Gleichrangigkeit mit der von Europa geerbten Staatsjustiz ein. Es ist jedoch ein langer Weg, bis dies ins Bewusstsein der Justizangestellten und Polizei durchgedrungen ist.

Das Projekt wird flankiert von zwei Radiokampagnen in Bolivien und Ecuador, die den oft rassistischen Standesdünkel der Juristen ebenso aufs Korn nimmt wie die medialen Klischees, die eine Verständigung auf Augenhöhe erschweren. Gleichzeitig interveniert es in die Justizreformen, die sowohl die Regierung von Evo Morales als auch die von Rafael Correa in die Wege geleitet haben, indem Materialien zur Ausbildung von AnwältInnen, RichterInnen und StaatsanwältInnen zur Verfügung gestellt werden und teilweise Lehrpläne im interkulturellen Sinn rekonstruiert werden. So kooperiert die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ecuador mit der mit der Justizreform beauftragten obersten Behörder der Judikative, dem Consejo de la Judicatura, und der Behörde für Pflichtverteidiger. In Bolivien wird mit dem Vizeministerium für Entkolonisierung und dem Vizeministerium für indigene Justiz zusammengearbeitet.

Indigene Justiz basiert meist auf mündlichen Konfliktlösungsverfahren, in denen die Dorfversammlung als höchste Instanz fungiert und der gewählte Dorfrat als ausführendes Organ. Sie ist bürgernah und prinzipiell kostenlos, da alle Ämter Ehrenämter sind, und führt meist zu unbürokratischen und schnellen Lösungen. Diese reichen von Wiedergutmachung (Rückgabe oder Ersetzung eines gestohlenen Guts) über Gemeinschaftsarbeit bis zu Reinigungsritualen wie kalten Waschungen oder Brennesselanwendung. Auch ritualisierte körperliche Strafen gehören teilweise dazu. Dies führt oft zu der Frage, ob hier Menschenrechte verletzt werden – wogegen das Forschungsteam der RLS argumentiert, das auch die Menschenrechte im jeweiligen kulturellen Kontext interpretiert werden müssen und durchaus zu überlegen ist, ob lebenslange Haft oder gar die Todesstrafe, die in einigen westlichen Ländern als legitim gilt, nicht mindestens ebensosehr die Menschenrechte verletzen.

Gleichzeitig ist die indigene Justiz natürlich nicht frei von inneren Widersprüchen, da auch indigene Gemeinden von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen durchdrungen sind – was sich beispielsweise in ungerechten Urteilen gegen Frauen widerspiegeln kann, oder in ihrern mangelhaften Beteiligung an der Urteilsfindung. Dies kann allerdings auch von der Staatsjustiz behauptet werden, die aufgrund langwieriger, bürokratischer und kostspieliger Verfahren in beiden Ländern tausende von Fällen über Jahre hin verschleppt, und gleichzeitig bekannt ist für Korruption, Straflosigkeit, Rassismus und Diskriminierung gerade dann, wenn Indigene oder Frauen dort versuchen, zu ihrem Recht zu kommen. Dies wird im Buch über Ecuador in einer Fallstudie von Karla Encalada zu Riobamba anschaulich dargestellt.

Nicht gleichzusetzen ist die indigene Justiz mit Lynchjustiz, die ebenfalls in beiden Ländern vorkommt, sich aber nicht auf indigene Gebiete beschränkt und eher aus der Abwesenheit des Staates und der Verzweiflung der Bürger angesichts ihrer Schutzlosigkeit gegenüber Kriminellen zu erklären ist. Indigene Justiz agiert nicht spontan und aus dem Affekt, sondern folgt bestimmten Verfahrensweisen, und hat immer die Wiederherstellung der Harmonie in der Gemeinschaft im Sinn. So ist das Bild, das in den Massenmedien häufig einen Lynchmob mit indigener Justiz gleichstellt, verzerrt und schürt nur Vorurteile.

“Am Verhältnis zwischen indigener Justiz und Staatsjustiz zeigt sich deutlich, wie der Aufbau einer plurinationalen und interkulturellen Gesellschaft fortschreitet. Man muss sich klarmachen, dass die indigene Justiz schon lange vor der Gründung der Nationalstaaten praktiziert wurde und auch heute kein ‘Projekt’ ist, das erst umgesetzt werden muss, sondern in vielen ländlichen Gebieten schlicht Alltagspraxis", so der portugiesische Rechtssoziologe Boaventura de Sousa Santos, der die Forschung koordiniert hat. Die Studie spürt den Formen nach, wie im Feld indigene und staatliche Autoritätspersonen in Mord- und anderen Fällen kooperieren oder sich gegenseitig blockieren, und macht Vorschläge, um diese notwendige Zusammenarbeit im  Sinn einer interkulturellen Demokratie zu regeln – allerdings nicht unbedingt durch ein starres Gesetz, das den jeweiligen Gegebenheiten und der bestehenden Vielfalt nur schwerlich gerecht werden kann. Jurisprudenz der Verfassungsgerichte wird als ein möglicher Weg genannt.