Nachricht | Geschichte - Deutsche / Europäische Geschichte Enttäuschte Hoffnung

THEMA Rosa Luxemburg und das Ausbleiben einer Revolution für den Frieden am Beginn des 20. Jahrhunderts

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Autor

Holger Politt,

Als überzeugte Kriegsgegnerin setzte Rosa Luxemburg noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs auf die revolutionäre Aktion des Proletariats – eine Spurensuche in den Schriften der Sozialistin.

Ihre Überzeugung war unerschütterlich: Entweder wird der Kapitalismus aus der Welt geschafft, oder die Kriegsgefahr wird bleiben. Wie schwierig es sein würde, die kapitalistische Wirtschaftsordnung abzuschaffen, hatte Rosa Luxemburg im Verlauf der Revolution 1905/06 im Russischen Reich mehrfach unterstrichen. Zwar war in ihrem Verständnis dieser letzte Ausbruch der europäischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts bereits durch umfassende Hegemonie der proletarischen Aktion gekennzeichnet, eine Besonderheit gegenüber den illusionsgeschwängerten Revolutionen im Westen Europas. Doch musste auch diese bereits weitgehend proletarisch geprägte Revolution letztlich im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft bleiben, weil die Eigentumsfrage noch nicht gestellt werden konnte.

Doch das Tor zu weitergehenden Aktionen schien ihr trotz der Niederlage in Russland weit aufgestoßen. Die zunehmende Kriegsgefahr in den Folgejahren in Europa nährte ihre Hoffnung, dass der nächste Revolutionsausbruch in der bürgerlichen Gesellschaft schneller kommen müsse und dann bereits weitergehende Fragen auf die Tagesordnung setzen werde. Im Mai 1911 schrieb sie: «Unsre Aufgabe besteht nicht bloß darin, die Friedensliebe der Sozialdemokratie jederzeit kräftig zu demonstrieren, sondern in erster Linie darin, die Volksmassen über das Wesen des Militarismus aufzuklären und den prinzipiellen Unterschied zwischen der Stellung der Sozial­demokratie und derjenigen der bürgerlichen Friedensschwärmer scharf und klar herauszuheben. […] Die Friedensfreunde aus bürgerlichen Kreisen glauben, dass sich Weltfriede und Abrüstung im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung verwirklichen lassen, wir aber […] sind der Überzeugung, dass der Militarismus erst mit dem kapitalistischen Klassenstaate zusammen aus der Welt geschafft werden kann.» (Gesammelte Werke, Band 2, S. 492f.)

Hier scheint die Überzeugung durch, das europäische Proletariat sei bereits gereift, das geschichtliche Werk zu vollbringen. Dass die Zeit dafür wahrscheinlich sehr viel kürzer sei, als viele meinten, hänge damit zusammen, dass nur noch das Proletariat selbst in der Lage sei, die in den Klassenkämpfen des 19. Jahrhunderts gewonnenen Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft zu verteidigen – allerdings nun nicht mehr innerhalb der Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft. Fast nahtlos knüpft Rosa Luxemburg im Jahr 1913 an Erfahrungen an, die sie in der Revolution im Russischen Reich mit dem Scheitern des bürgerlichen Liberalismus machen konnte. Ihre damalige Diagnose: Zwei Lager stünden sich gegenüber, das der Arbeiterrevolution und das der Gegenkräfte. So stelle sich eine klare Alternative; der historische Entscheidungskampf sei näher gerückt. Luxemburg im Mai 1914: «Es ist […] eine gefährliche Illusion, sich einzubilden, dass irgendwelche diplomatischen Bündnisse Garantien des Friedens sein können. Alle Bündnisse haben nur den Zweck, irgendeinen Außenstehenden desto besser abmurksen zu können. Wenn wir Klarheit schaffen wollen, müssen wir betonen, dass keine Bündnisse der kapitalistischen Staaten imstande sind oder auch nur den Zweck haben, den Frieden zu sichern. Das einzige Bündnis, das den Weltfrieden sichern kann, ist die Weltverbrüderung des internationalen Proletariats.» (GW, Bd. 3, S. 450)

Eine solche Verbrüderung aber lasse sich nur durch die revolutionäre Aktion herstellen, so wie die zwischen dem russischen und dem polnischen Proletariat im Russischen Reich nach dem Ausbruch der Revolution im Januar 1905. Noch im Juli 1914 klingt Rosa Luxemburgs Diagnose alles andere als resigniert: «Der Dreibund hat sich diesmal genauso ohnmächtig gezeigt, einen österreichischen Kriegsvorstoß zu verhindern, wie er vor drei Jahren außerstande war, Italien vor dem blutigen Abenteuer in Tripolis zurückzuhalten. […] Fragt man freilich, ob die deutsche Regierung kriegsbereit sei, so kann die Frage mit gutem Recht verneint werden. Man kann den kopflosen Leitern der deutschen Politik ruhig zugestehen, dass ihnen in diesem Augenblick jede andere Perspektiv in lieblicherem Lichte erscheint als die, um des habsburgischen Bartes willen alle Schrecken und Wagnisse des Krieges mit Russland und Frankreich oder gar am letzten Ende mit England auf sich zu nehmen. Diese Kriegsunlust ist aber […] ein Grund mehr, das Treiben dieser unverantwortlichen Lenker der deutschen Geschicke vor das strengste Gericht der Volksmassen zu ziehen. Denn was hat mehr zu der heutigen Kriegslage beigetragen als das wahnwitzige Rüsten, als die ungeheuren Militärvorlagen, die in Deutschland in den letzten Jahren förmlich einander jagten?» (GW, Bd. 3, S. 476 f.)

Einhundert Jahre später ist die Welt weder von Kriegsgefahr noch Rüstungswahn befreit. Militärische Bündnisse ließen sich noch immer auf ähnliche Weise beschreiben. Allein die welthistorische Alternative, von der Rosa Luxemburg sich leiten ließ, ist verschwunden. Der Zusammenbruch des sowjetischen Staatssozialismus in Europa ist unwiderruflich, das «sozialistische Weltsystem» passé. Luxemburgs damalige Vision war ohnehin weiter gefasst; ein Sozialismus, der der Weltentwicklung hinterherlaufen muss, war ihr nicht vorstellbar.

So bleibt uns die Friedensfrage, die nun vorerst innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung gelöst werden muss, die in allen Weltteilen ohne Ausnahme immer kräftiger ihre Wurzeln ausbildet. Diese Möglichkeit hatte Rosa Luxemburg seinerzeit ausgeschlossen. Zu den verlässlichsten StreiterInnen für die Friedensfrage sind unterdessen jene von ihr belächelten «bürgerlichen Friedensschwärmer» geworden, die mit ihrer entschiedenen pazifistischen Grundhaltung aus der Friedensproblematik heute gar nicht wegzudenken sind. Viel skeptischer indes – und das nun wieder korrespondiert sehr mit Rosa Luxemburgs Überzeugungen – fällt der Blick auf jede Art geopolitischer Machtspiele aus, gleich ob in Washington, Brüssel, Peking oder Moskau.

Der Beitrag ist Teil des Titelthemas «Nachhall der Geschichte» der Ausgabe 1-2014 des Stiftungsjournals RosaLux