Nachricht | Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen Die irische Linke vor den Wahlen

Immer mehr Iren wandern aus, sind ohne Arbeit oder Obdach. Diese Entwicklungen sind nicht zufällig; sie sind das direkte und beabsichtigte Resultat von Regierungspolitik und der Troika-Macht der letzten Jahre.

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Brian Carty,

17,5 Prozent der in Irland Geborenen leben im Ausland. Jeder Vierte im Alter von 20 bis 30 Jahren hat das Land verlassen. Es gibt kaum eine Familie, die nicht von Auswanderung betroffen ist. Seit Ausbruch der Krise sind über 300 000 Menschen in den letzten sechs Jahren ausgewandert; darüber hinaus gibt es eine Viertelmillion Arbeitslose. Alles in allem sind eine Dreiviertelmillion Menschen von einer Bevölkerung von viereinhalb Millionen entweder migriert, arbeitslos, befinden sich in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder sind unterbeschäftigt.

Obdachlose Menschen sterben auf der Straße. 5 000 Mütter, Väter und Kinder sind obdachlos und leben in Notunterkünften, Hunderttausende stehen auf der Warteliste für eine Wohnung, und Hunderttausende andere kämpfen, um die immer weiter steigenden Mieten zu bezahlen.

Die arbeitenden Klassen verlieren, während die Reichen reicher werden. Den reichsten 20 Prozent gehören 73 Prozent des Vermögens im Land, den ärmsten 20 Prozent nur magere 0,2 Prozent. In den letzten fünf Jahren wurde die irische Gesellschaft mutwillig zerstört, das Gemeinwesen für die Gläubiger geopfert. Keine dieser Entwicklungen ist zufällig oder eine Art Unfall; sie sind das direkte und beabsichtigte Resultat von Regierungspolitik und der Macht der Troika.

Die regierende große Koalition

Die derzeitige Regierung ist eine „große Koalition“ aus der Mitte-Rechts-Partei Fine Gael („Familie der Iren“) und Labour. Im Jahr 2011 ersetzten diese beiden Parteien die vormalige Regierung von liberaler Fianna Fáil („Soldaten des Schicksals“ oder „Soldaten Irlands“) und den irischen Grünen. Die Regierung aus Fianna Fáil und den Grünen war verantwortlich für den ökonomischen Niedergang gewesen, der 2010 zur Intervention der Troika führte.

Fine Gael und Labour kamen an die Regierung, indem sie versprachen, alles besser zu machen. Der damalige Führer der Labour Party erklärte öffentlichkeitswirksam, die Dinge würden entweder „nach Art von Labour oder nach Art von Frankfurt“ laufen. Wie sich herausstellt, hatte er Recht. Die neue Regierung sah sich angesichts direkter politischer Erpressung nicht zuletzt der EZB gezwungen, „Frankfurts“ Art und Weise zu implementieren und verdiente sich damit das Lob Angela Merkels und der Konservativen überall in Europa. Diese benutzten das irische Beispiel als Argument gegen Regierungen, die weniger folgsam die verordneten Austeritätsmaßnahmen umsetzten. Damit waren letztlich alle Parteien diskreditiert, die die Politik der Republik Irland seit der Gründung des Staates dominiert hatten.

Im Jahr 2011 verloren die Grünen alle ihre sechs Parlamentsmitglieder, und Fianna Fáil erreichte das beklagenswerteste Wahlergebnis seit ihrer Gründung. Keine der beiden Parteien, so scheint es, wird auch nur wieder in die Nähe ihres vormaligen Unterstützungsniveaus kommen. Fine Gael wird abermals an Unterstützung verlieren, und Labour ist in ernster Gefahr, zu einer marginalen politischen Kraft zu werden. Zwar würde Fine Gael jüngsten Umfragen zufolge mit 28 Prozent als stärkste Partei aus der Abstimmung hervorgehen, bliebe damit aber deutlich hinter den 36 Prozent von 2011 zurück. Deshalb würde es wohl auch zusammen mit Labour und kleineren Parteien sowie unabhängigen Abgeordneten nicht für eine Mehrheit ausreichen. Um eine stabile Regierung zu bilden, wäre eine große Koalition zwischen Fine Gael und dem Erzrivalen Fianna Fail denkbar – oder abermals Neuwahlen. Aber auch eine Mitte-Linksregierung ist zum ersten Mal seit Gründung des Staates denkbar geworden.

Von der Right2Water- zur Right2Change-Plattform

Wasser wurde in Irland nie besteuert. Doch auf Geheiß der Troika wurden die Preise für Wasser mehrfach angehoben, für ein Gut, zudem der Zugang bis dahin stets als Menschenrecht galt. Mit Gründung der Kampagne Right2Water von Seiten der Gewerkschaften kam es zu den größten Massenmobilisierungen der letzten Zeit. Leute, die niemals zuvor demonstriert hatten, gingen auf die Straße. Viele weigerten sich schlicht, sich zum Abzug der Gebühren registrieren zu lassen und diese zu zahlen. Die Regierung versuchte es mit Einschüchterung, Bestechung und Propaganda, doch die Menschen blieben bei ihrer Weigerung.

Im Zuge dessen entwickelte sich ein wachsendes politisches Bewusstsein für eine Veränderung. Angesichts des Potenzials der Right2Water-Kampagne unterstützten die Gewerkschaften einen Prozess zum Aufbau einer politischen Plattform, die eine Basis für eine progressive Regierung sein könnte – mit Sinn Féin als größter politischer Kraft, doch auch unter Beteiligung anderer linker und fortschrittlicher gewählter RepräsentantInnen und Community-AktivistInnen.

Gegen Widerstand aus einigen Gruppen der „Ultra-Linken“ ging aus dieser ein Dokument mit dem Titel Right2Change hervor, dessen Prinzipien diskutiert und im Rahmen eines breiten Prozesses verabschiedet wurden. Plakativ wurden die zentralen Forderungen aufgestellt: Right2Water (Recht auf Wasser); Right2Democratic Reform (Recht auf demokratische Reform); Right2Jobs und Decent Work (Recht auf Jobs und menschwürdige Arbeit); Right2Health, Housing and Education (Recht auf Gesundheit, Wohnraum und Bildung); Right2Debt Justice (Recht auf Schuldengerechtigkeit); Right2National Resources and Sustainable Environment (Recht auf nationale Ressourcen und nachhaltige Entwicklung).[1] Dieser Fokus sollte fortschrittliche Kräfte im bevorstehenden Wahlkampf stärken und zeigen, dass Voraussetzungen für eine alternative Regierung bestehen.

Ein Pakt zur Wahl

Das Wahlsystem in Irland (mit individuellen KandidatInnen, die mit einfacher, transferierbarer Stimme in gemischte Körperschaften gewählt werden) ermöglicht es lokalen, unabhängigen KandidatInnen und denen kleiner Parteien, gewählt zu werden. Ebenso können WählerInnen durch dieses System Präferenzen ausdrücken für den Fall, dass ihre Kandidatin erster Wahl ausgeschlossen bleibt.

Die in der Kampagne „Right2Change“ zusammengeschlossenen Gewerkschaften haben Parteien und KandidatInnen aufgerufen, das Dokument zu unterzeichnen und sich einem Pakt anzuschließen, der ihre WählerInnen auffordert, im Fall einer Nichtwahl der bevorzugten KandidatIn ihre Stimme an andere zu transferieren, die dieses unterstützten. Auf diese Weise soll eine Koalition auf breiter Basis ermöglicht werden, die zu einem ernsthaften Machtfaktor werden kann. Sinn Féin hat unterzeichnet, so wie viele andere Gruppen. Doch eine Anzahl kleinerer Gruppen und Individuen lehnt eine solche Kooperation weiter ab.

Wo stehen die Kräfte der Linken?

Noch nie regierte die Linke in Irland. Die Sozialdemokratie in Form der Labour-Partei war immer zu schwach und zu zögerlich, um den Aufbau einer linken Mehrheitsregierung zu wagen. Die Zersplitterung der Linken verhinderte bislang die Schaffung einer linken Alternative.

Als größte Kraft links von Labour spielt Sinn Féin eine besondere Rolle. Um das Ziel Sinn Féins, eine vereinigte, sozialistische Republik, zu erreichen, hat es stets eines langfristigen strategischen Blicks bedurft. Sinn Féin hat ihre politische Stärke langsam aufgebaut, ihre Organisation ausgeweitet, Allianzen gebildet und Pläne zur Regierungsübernahme im Norden wie im Süden gemacht. Der Friedensprozess eröffnete den Raum für eine stärkere Betonung sozialer und ökonomischer Ziele und gab der Partei die Möglichkeit, das politische Establishment im Süden herauszufordern.

Sinn Féins Vorhaben, eine bedeutende Rolle in der neuen Regierung zu spielen, wurde zum Horrorszenario der etablierten Medien und Kommentatoren. Sie bieten alle Kräfte auf, um ein solches Szenario zu verhindern. Indes trauen die Menschen den Mainstream-Medien immer weniger, betrachten sie als Sprachrohre des Establishments. Die Online-Präsenz der Partei durch Soziale Medien ebenso wie die Basisarbeit hat Wege eröffnet, unsere Botschaft Menschen direkt zu vermitteln, ohne dass feindselige Medienanstalten dazwischentreten.

Die gestiegende Zahl ihrer Abgeordneten im Parlament von Dublin ermöglichte es der Partei zu beweisen, dass sie nicht nur eine Stimme für radikalen Wandel ist, sondern auch hart arbeitet, um Vorschläge voranzubringen, die nicht nur radikal sind, sondern auch durchführbar. Und Sinn Féin hat viel Mühe darauf verwendet, um progressive Kräfte zu überzeugen, die zuvor Distanz zu ihr gehalten hatten. Ganz besonders die Verbindung zur Gewerkschaftsbewegung und die Right2Change-Plattform haben wesentlich zu einer stärkeren Verankerung beigetragen, Hürden abgebaut und auch ermutigt, einer potenziellen Alternative zur gescheiterten Politik von Fianna Fáil, Fine Gael und Labour die nötige Unterstützung zu geben.

Labour

Einige Labour-Abgeordnete sind aus Protest gegen Kürzungsmaßnahmen der Regierung zurückgetreten. Andere sind zurückgetreten, da sie begriffen, dass sie als Unabhängige bessere Aussichten auf eine Wiederwahl haben würden. Labour wird viele Abgeordnete verlieren. Einige Umfragen sehen sie bis unter die Hürde von sieben Sitzen fallen, die es braucht, um eine anerkannte parlamentarische Gruppe zu bilden. Gleichwohl bedeutet die lokale Unterstützung für einige ihrer Mitglieder, dass es ihnen wahrscheinlich ganz so schlimm doch nicht ergehen wird. Labours erklärte Präferenz ist eine Beibehaltung der Fine Gael-Regierung, doch den Umfragewerten nach erscheint diese Option unwahrscheinlich. Nun, da zunehmend ihre Unterstützung für eine Linksregierung benötigt wird, könnten die nach wie vor an die Partei angeschlossenen Gewerkschaften sie von einem solchen Bündnis überzeugen – sofern es dafür rechnerisch ausreichen würde.

Unabhängige

Die anhaltend hohen Unterstützungswerte für „unabhängige“ KandidatInnen haben viele zu prominenten Persönlichkeiten werden lassen. Mitglieder etablierter Parteien fühlen sich angeregt, ihr Glück als „unabhängige“ KandidatInnen zu versuchen. Viele „unabhängige“ KandidatInnen sind Konservative, einige von ihnen mit einem Hintergrund in einer der konservativen Parteien. Jedoch haben einige von ihnen begonnen, beruhend auf lokalen Kampagnen eine Unterstützungsbasis in ihrer Wählerschaft aufzubauen und sind inzwischen progressiver in ihren Ansichten.

Unnötig zu sagen, dass es schwierig ist, eine so diverse Gruppe in Berechnungen für die Formierung einer Regierung einzubeziehen. Dennoch könnte eine breite und populare Wechselstimmung einige von ihnen ermuntern, sich für eine progressive Regierung zu entscheiden.

Gruppierungen

Ein paar „Unabhängige“ (eingeschlossen einige frühere Mitglieder der Labour-Partei) haben sich zusammengeschlossen, um kleineren Abgeordnetengruppen zu bilden, um Einfluss auf die Regierungsbildung zu nehmen. Diese Gruppierungen (wie etwa die „Sozialen Demokraten“ oder das „Bündnis der Unabhängigen“) sind v.a. Vehikel für die persönlichen Ambitionen ihrer Führungsfiguren und haben keine reale Unterstützungsbasis außerhalb der Wählerschaften letzterer. Einige solcher Gruppierungen könnten eine Handvoll von Abgeordneten des Unterhauses wählen. Sofern es ihnen nutzt, ist es möglich, dass sie einer linken wie einer rechten Regierung ihre Stimmen anbieten.

Grüne

In der jetzigen Regierung entwickelten sich die Grünen zu einer Art umweltbewussten, konservativen Partei, womit sie einen großen Teil ihrer eher radikalen Unterstützung verloren. Trotz einer kleinen Erholung ihrer Umfragewerte ist unwahrscheinlich, dass die Grünen mehr als eine oder zwei Abgeordnete erhalten.

Further left

Die zwei einflussreichsten Kräfte der trotzkistischen Linken waren die Sozialistische Partei (SAV) und die Partei Sozialistischer Arbeitender (SWP), die vier Sitze im Parlament auf sich verteilen konnten. Über ihre jeweiligen Frontorganisationen tätig – das „Bündnis gegen Austerität“ und das “Bündnis Menschen vor Profite“ (People Before Profit Alliance) –, haben sie sich auf ein gemeinsames Wahlbündnis verständigt, das schwungvoll betitelte „Bündnis gegen Austerität/Menschen vor Profite“ (AAA/PBP). So hoffen sie, auf die sieben Sitze zu kommen, die für die Formierung einer parlamentarischen Gruppe nötig sind. Ein ähnliches Unternehmen vor den letzten Wahlen, die geringfügig breiter angelegte Vereinigte Linke Bündnis (ULA), hatte fünf Sitze im Parlament erreicht, kollabierte hernach jedoch schnell durch Aufsplitterungen und gegenseitigen Schuldzuweisungen. Es bleibt abzuwarten, ob die rein bilaterale Übereinkunft erfolgreicher oder stabiler sein wird.

Derweil könnten auch die verbliebenen Fragmente der ULA einen Sitz gewinnen. Wiewohl es für die AAA/PBP zwar unwahrscheinlich ist, dass sie die sieben Sitze erreichen, wird ihre lokale Basis in einigen Wahlkreisen (besonders in Dublin) vermutlich dafür sorgen, dass sie vier oder fünf Sitze bekommen. Das SP/AAA hatte es abgelehnt, sich an einem Pakt zum Transfer von Stimmen zu beteiligen. Die SWP/PBPA steht dem positiver gegenüber. Andere linke Kräfte wie die Kommunistische Partei und die Partei der Arbeitenden haben mehr Mitglieder als die SP und die SWP, beteiligen sich aber nicht an Wahlen.

Regierungsbildung

Regierungen wurden stets entweder von Fianna Fáil oder von Fine Gael geführt, wobei die eine oder die andere von beiden sich auf Labour oder eine andere, kleinere Partei stützte, um eine Mehrheit zu erreichen. Trotz ihrer politischen Nähe haben die beiden Parteien es immer abgelehnt, eine gemeinsame Regierung zu bilden. Die derzeitige Situation könnte als fluide beschrieben werden. Die etablierten Parteien haben einen großen Teil ihrer Unterstützung verloren; die einzige maßgebliche Kraft, die in der Lage ist, eine Alternative zu schaffen, wäre Sinn Féin und die Right2Change-Plattform. Die Wirtschaftskrise hat das politische Feld polarisiert, klare Alternativen sind wieder sichtbar.

Mit größter Wahrscheinlichkeit wird das politische Establishment die Lage retten und sich durch die Kombination von Fine Gael, Fianna Fáil, Labour und kleineren konservativen Gruppierungen oder Unabhängigen eine Mehrheit erhalten. Dennoch gibt es zum ersten Mal eine wirkliche Wahl. Bei glücklicher Fügung wäre es für Sinn Féin möglich, progressive Kräfte in einem Bündnis für den Wandel zusammenzubringen. Die verbreitete Ablehnung der etablierten Parteien könnte ausreichend unabhängige Abgeordnete und kleinere Parteien überzeugen, sich anzuschließen. Selbst die trotzkistischen Teile der Linken, die Sinn Fein nicht als Partner sehen, würden zögern, gegen eine solche Regierung zu stimmen.

Unabhängig davon, ob Sinn Féin und die Linke genug Unterstützung gewinnen, um eine Regierung zu bilden oder nicht, werden sie so gut wie sicher in ihrer parlamentarischen Präsenz deutlich gestärkt werden. Dies wird eine gute Ausgangsbasis bilden, um weiter an einer popularen und breiten, ernsthaften linken Kraft zu arbeiten.

Aus dem Englischen von Corinna Trogisch und Mario Candeias