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Russland vor den Wahlen: Staat und Gesellschaft in Zeiten der Wirtschaftskrise

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Autorin

Ute Weinmann,

Außenmauer des Kreml (Foto: Martha Dörfler, RLS)

Umfrageergebnisse sind generell mit Vorsicht zu genießen. Immerhin aber vermitteln sie eine vage Vorstellung vom Verbreitungsgrad gängiger Ansichten zu allerlei aktuellen Fragen. So kommt das russische Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum zu dem Schluss, dass 82 Prozent der russischen Bevölkerung stolz darauf sind, in Russland zu leben; 67 Prozent halten Russland für eine Großmacht. Nach der ruhmreichen Geschichte und den ergiebigen Rohstoffvorkommen stehen die russischen Streitkräfte an dritter Stelle der Gründe für den Stolz auf das eigene Land.

Hinter diesen Zahlen verbirgt sich keineswegs eine automatische Zustimmung zu den politischen Verhältnissen in Russland, aber sie machen deutlich, welch hohen Stellenwert abstrakte Zuschreibungen wie die oben angeführten für weite Teile der Bevölkerung haben. Der Beitritt der Krim zu Russland – als Annexion wertet diesen Vorgang nur eine Minderheit – symbolisiert wie kein anderes Ereignis in der jüngsten Geschichte die Stärke und Souveränität der russischen Staatlichkeit. Er bescherte Präsident Wladimir Putin erstmals seit dem Kriegsintermezzo in Georgien im August 2008 wieder Traumwerte. Zwar verzeichnen diese in den vergangenen Monaten einen leichten Rückgang, aber das ändert wenig an der grundsätzlich positiven Einstellung gegenüber Putin. Wesentlich kritischer wird die Regierung unter Premierminister Dmitrij Medwedjew und die noch weniger geschätzte Staatsduma gesehen. Der Präsident steht für das mächtige Russland – nicht zu verwechseln mit etwaigen aggressiven außenpolitischen Ambitionen, denn die Bevölkerung schätzt Putin als Friedenspolitiker. Für immer stärker in Erscheinung tretende Defizite im Inneren trägt aus ihrer Sicht allein die Regierung die Verantwortung. Dies ist auch der offizielle Tenor in den staatlichen Medien, und deren KonsumentInnen nehmen diese Sichtweise weitgehend hin. 

Meinungsmanipulation durch staatliche Medienpolitik 

Zweifellos spielt die einseitig ausgerichtete staatliche Medienpolitik eine zentrale Rolle bei der Meinungsmanipulation. Geschickte Ablenkungsmanöver tragen einen wesentlichen Teil dazu bei, dass durchaus vorhandene Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen kaum offen artikuliert wird. Die russische Führung testet die Grenzen des Zumutbaren immer wieder aus, beispielsweise hinsichtlich des Bruchs mit der Türkei im vergangenen Herbst, der sich durch den Importstopp günstiger und frischer Lebensmittel unmittelbar bemerkbar machte. Eine entsprechende mediale Begleitung garantierte die Zustimmung der russischen Bevölkerung zur resoluten Haltung des Kremls sogar so weit, dass die erneute Kehrtwende und Wiederannäherung an den vormals engen türkischen Partner in der öffentlichen Meinung nicht sofort nachvollzogen wurde.

Denn die öffentliche Meinung ist zweifellos manipulierbar, die dafür notwendigen Anstrengungen sind aber nicht zu unterschätzen. Zumal in der Vergangenheit vor allem zwei Faktoren die außerordentlich hohen Beliebtheitswerte des russischen Präsidenten garantierten: außenpolitische Machtdemonstration und innenpolitische Stabilität, wie sie beispielsweise bei der verfassungsrechtlich notwendig gewordenen Amtsübergabe von Putin an seinen damaligen Tandem-Partner Medwedjew 2008 sichtbar wurde.

Das Bild eines in den Augen vieler BürgerInnen wieder erstarkten Russland steht allerdings zunehmend in einem Spannungsverhältnis zu deutlich wahrnehmbaren Verfallserscheinungen im Inneren, die sich durch die anhaltende Wirtschaftskrise in vielen Bereichen des täglichen Lebens offen manifestieren. Im Mai sanken die Reallöhne im Vergleich zum Vorjahr um 6,2 Prozent, im Juni um 4,8 Prozent. Das Lebenshaltungsniveau stieg letztmals im Oktober 2014, seither geht es nur noch abwärts. Legt man den damaligen Stand zugrunde, dann betragen die Reallöhne heute lediglich noch 80 Prozent. 

Fast ein Viertel der Bevölkerung bezeichnet die eigenen materiellen Verhältnisse als schlecht und sieht sich nicht mehr imstande, sich ausreichend mit Lebensmitteln und Kleidung zu versorgen. Sparzwängen sind auch jene unterworfen, deren Einkommen für die Eigenversorgung ausreicht. Renten werden nicht mehr an die Inflation angepasst. Hinzu kommt die fortschreitende Kommerzialisierung des Gesundheits- und Bildungssektors. Dabei ist einer der Trümpfe, die Putin hohe Zustimmungswerte garantieren, dessen Strategie der Aufrechterhaltung sozialstaatlicher Grundsätze. Aufgrund weitreichender Abhängigkeit von staatlicher Förderung und des hohen Anteils an Beschäftigten im staatlichen Sektor gilt eine ausgleichende Sozialpolitik als zentraler Stabilitätsfaktor des gesamten politischen Systems. Einen Bruch mit diesem Modell, wie er Anfang 2005 durch die Streichung von Sozialleistungen erfolgte, was in vielen Regionen zu Massenprotesten führte, versucht Putins Machtapparat seither nach Möglichkeit zu vermeiden. 

Es gibt soziale, aber kaum politische Proteste 

Noch scheint die Verschlechterung der ökonomischen Situation jedoch keinen kritischen Punkt erreicht zu haben. Die Menschen mobilisieren andere Ressourcen und orientieren sich wieder vermehrt, insofern sie über entsprechende Grundstücke verfügen, an einem Selbstversorgungsmodell. Das zeigt sich unter anderem daran, dass der Verkauf von Saatgut um 20 Prozent gestiegen ist. Bezeichnend allerdings ist, dass eine überwiegende Mehrheit die wachsende soziale Ungleichheit im Land als problematisch erachtet. Spannungen zwischen den Interessen der Reichen und der Armen in Russland bewerten nach Umfragen des Lewada-Zentrums 41 Prozent als «sehr stark ausgeprägt»; insgesamt 90 Prozent der Befragten fanden diesen Punkt erwähnenswert. Selbst zu Anfangszeiten des wilden Raubtierkapitalismus unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fielen diese Zahlen niedriger aus.

Man sollte meinen, dies reiche aus für eine größere Protestwelle. Tatsächlich bleiben politische Proteste derzeit aber aus, im Gegensatz zu sozialen Protestaktionen, die mit wechselndem Erfolg durchaus stattfinden. Meist bleibt es bei einer lokalen Organisierung. Überregional koordinierte Aktionen, wie beispielsweise Proteste russischer LKW-Fahrer gegen die Einführung einer Schwerverkehrsabgabe und für bessere Arbeitsbedingungen, bilden die Ausnahme. Als politischen Kampf wollen Protestierende ihr Vorgehen im Regelfall nicht bezeichnen, vielmehr kämpfen sie für die Einhaltung ihrer Rechte. Diskussionen über die politische Führung oder gar den russischen Präsidenten gelten oft als tabu: Das sorge für Zwist und stelle die Erreichung des konkret formulierten gemeinsamen Ziels infrage. 

Bei lokalen Bürgerinitiativen gegen illegale Bauvorhaben korrupter Behörden ist als Motiv häufig zu hören, man wolle nicht als dumpfer und passiver Pöbel wahrgenommen werden. Das weitgehende Ausbleiben offener Kritik an der Regierung macht den geltenden gesellschaftlichen Konsens aus. Dass sich die Mehrheit der Bevölkerung in Zurückhaltung übt, geht gleichzeitig jedoch damit einher, dass sie sich nur durch riesige Anstrengungen des Machtapparates zugunsten staatlicher Interessen mobilisieren lässt. Das zeigt sich auch an der niedrigen Wahlbeteiligung. Das Desinteresse an Wahlen – ob es lokale oder regionale Wahlen oder die für den 18. September angesetzten Parlamentswahlen betrifft – stellt die politische Führung vor das Problem, eine durch die Bevölkerung legitimierte Vertretung zu schaffen. Simulierte Konkurrenz durch eine letztlich loyal agierende Pseudoopposition, wie sie in der Duma anzutreffen ist, lässt Interesse an Politik gar nicht erst aufkommen. Oppositionelle PolitikerInnen und Parteien stehen in der öffentlichen Meinung meist nicht besser da. Sie besitzen kein glaubwürdiges Profil, kaum Zugang zu politischen Ressourcen und schon gar nicht zu den staatlichen Medien.

Um das Interesse an den Dumawahlen zu beleben und somit auch für mehr Legitimität zu sorgen, entschied sich der Kreml für die Wiedereinführung von Direktmandaten, über die die Hälfte der Abgeordneten ins Parlament mit seinen 450 Sitzen gewählt werden. Im Unterschied zur Wahl von vor knapp fünf Jahren dürfen sich damit auch eine Reihe von OppositionskandidatInnen eine reale Chance auf ein Mandat ausrechnen, was sich in einem harten Konkurrenzkampf widerspiegelt. Angesichts geringer Erfolgsaussichten ließ die Partei Einiges Russland in 18 Wahlkreisen keineN eigeneN KandidatIn aufstellen. Ob wieder nur vier Parteien in der Duma vertreten sein werden oder womöglich noch eine weitere Partei die Fünfprozenthürde stemmen wird, ist offen. Anzunehmen ist indes, dass die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die über einen treuen Wählerstamm verfügt, wieder auf Platz zwei hinter der unanfechtbaren «Partei der Macht» landet.

Nicht nur das Prozedere, auch die Wahlkampftaktik hat sich verändert. Dies liegt nicht zuletzt an dem Umstand, dass leere Staatskassen und sinkende Sozialausgaben groß angelegte Wahlversprechen unglaubwürdig machen. Wjatscheslaw Wolodin, stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung und Verantwortlicher im zentralen Machtapparat für die Dumawahlen, gab die Direktive heraus, dass reale Fortschritte anzustreben seien anstelle populistischer Zusagen. Das erfordere auch, die Bevölkerung durch Beteiligung an Debatten in demokratische Prozesse aktiv einzubeziehen. Dieses Versäumnis aufzuholen dürfte dem Einigen Russland jedoch nicht leichtfallen. Allerdings geht es Wolodin ohnehin weniger um politische Einflussnahme in Bezug auf landesweit relevante Themenfelder als um lokale Probleme. Der Umgang damit lässt sich auch aus Moskau steuern, ohne die Kontrolle über das Geschehen zu verlieren.

Doch jegliche Veränderung will wohldurchdacht sein. Russlands Bevölkerung gilt als wenig reformfreundlich. Jegliche Veränderung des Status quo bringt Instabilität mit sich, so lautet eine Binsenweisheit. Weitverbreitet ist auch die Einschätzung, dass man ohnehin keinen Einfluss auf das politische Geschehen nehmen könne. Alles entscheide der Machtapparat – dies ist eine beliebte Argumentationsfloskel, die auch in linken Kreisen zu hören ist und selbst kritisch reflektierende Menschen zu Passivität verdammt. Allein schon der laut geäußerte Gedanke, die politischen Verhältnisse beeinflussen zu wollen, stellt die betroffene Person unter den Generalverdacht, der sogenannten Fünften Kolonne anzugehören.

Damit sehen sich nicht nur unabhängige Linke konfrontiert, die in der Öffentlichkeit kaum noch Präsenz zeigen. Mitte Juli kritisierten linke WissenschaftlerInnen, PublizistInnen, Kunstschaffende und AktivistInnen in einem Manifest unter dem Motto «Zum Schutz der Gesellschaft» die politischen Zustände in Russland. Darin heißt es unter anderem, dass die russische Führung denselben ökonomischen Kurs eingeschlagen habe, der Griechenland aufgrund harter Bestimmungen der Europäischen Kommission auferlegt wurde. Verantwortlich dafür machten sie den politischen, intellektuellen und sozialen Verfall Russlands, dem sie durch einen Forderungskatalog entgegensteuern wollen. Dieser enthält neben der Nationalisierung einiger grundlegender Wirtschaftsbranchen und sozialen und steuerrechtlichen Aspekten auch die Absage an eine Politik, die sich an religiösen Moralvorstellungen und traditionellen Werten orientiert zugunsten eines rein säkularen Staates. Wer will, kann dem Manifest durch seine Unterschrift zustimmen, doch eine Debatte hat dieser hilflos anmutende Versuch einer linken Standortbestimmung jenseits der KPRF und kleinerer kommunistischer Parteien, die sich mit emanzipativen Inhalten schwertun, nicht ausgelöst.

Repression als Steuerungselement

Das Argument, es gebe zur derzeitigen politischen Führung keine Alternative, ist ein wesentlicher Bestandteil der Putin’schen Machtstrategie. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln sorgte er über seine Amtszeiten hinweg gezielt dafür, unabhängige und unkalkulierbare Akteure, die zum Beispiel Parteien finanzieren könnten, auszuschalten. Der Staat übt sein Gewaltmonopol zielgerichtet aus und dringt dabei immer tiefer in die Privatsphäre der Bevölkerung ein. Repression als Steuerungselement ist dabei nicht allein auf Oppositionelle aus allen politischen Lagern begrenzt, sondern richtet sich auch gegen StaatsdienerInnen. Es vergeht kaum ein Tag ohne Meldungen über neue Strafermittlungen gegen PolizistInnen, RichterInnen, BeamtInnen oder Angehörige des Inlandsgeheimdienstes FSB. Selbst hochrangige politische VertreterInnen wie Gouverneure im Amt sind davon nicht ausgenommen.

In den vergangenen zwei Jahren haben sich die Spielregeln für die politischen Eliten verändert. Zur viel gelobten, durch Präsident Putin garantierten Stabilität gehörte auch die Option, ungestört in die eigene Tasche wirtschaften zu können. Nun aber scheint es dafür Grenzen zu geben. Durch den anhaltend niedrigen Ölpreis schwinden nicht nur die Ressourcen. Auch der Sicherheitsapparat beansprucht mehr Einfluss für sich. Dies spiegelt sich nicht zuletzt darin wider, dass vormalige Angehörige der Sicherheitsbehörden inzwischen ein Fünftel der Regionaloberhäupter stellen – mit steigender Tendenz.

Zur Sicherung der Stabilität im Land setzt die russische Führung auf mehr Kontrolle. Ob dies angesichts zu erwartender Liquiditätsprobleme des russischen Staatshaushalts zum gewünschten Resultat führt, bleibt abzuwarten. Die stellvertretende Finanzministerin Tatjana Nesterenko prophezeite jüngst erhebliche Schwierigkeiten für das kommende Jahr. Außer Einsparungen existieren derzeit nicht einmal ansatzweise Szenarien, wie sich die russische Wirtschaft wieder ankurbeln ließe.

Ute Weinmann, Journalistin (Moskau)