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Macht und Ohnmacht der arabischen Linken

Abdelhak Senna / AFP

Zweifelsohne ist die Geschichte der arabischen Linken die eines totalen und unglücklichen Scheiterns. Dies vor allem, weil es ihr auf der theoretischen wie auf der praktischen Ebene nicht gelang, die Menschen in den arabischen Ländern von ihrem Projekt zu überzeugen. Hier gibt es einige wenige Ausnahmen, wie etwa die „Union socialiste des forces populaires“ (die Sozialistische Union der Volkskräfte)[1] in Marokko, die sich im Laufe der Jahrzehnte demokratisiert hat und dadurch sowohl Monarchie als auch Zivilgesellschaft stark beeinflussen konnte.

Für das Scheitern der Linken sind mindestens drei Gründe zu nennen: Erstens, die Abhängigkeit von der Sowjetunion und ihrer totalitären Version des Marxismus. Zweitens, die Kollaboration mit diktatorischen Regimen nationalistischer Prägung, wie es etwa der Fall in Syrien war. Und drittens, die Fokussierung auf den israelisch-palästinensischen Konflikt.

Der scheinbar unübersichtliche und sich verkomplizierende syrische Konflikt spaltet sowohl die arabische als auch die europäische Öffentlichkeit. Vor allem innerhalb der linken Bewegungen gibt es zum Teil sich widersprechende Meinungen und Einschätzungen zu den Ereignissen in Syrien in den letzten Jahren. Während vor allem syrische Aktivist*innen weiterhin ein Anrecht auf ihre Revolution geltend machen wollen, ist für viele Vertreter der eher traditionellen Linken der Syrienkrieg vor allem ein von außen gesteuerter, imperialistisch motivierter Stellvertreterkrieg gegen ein legitimiertes, säkular ausgerichtetes Regime von Bashar al-Asad.

Aus diesem Grund fühlen sich viele syrische Aktivist*innen, die in den letzten Jahren den Aufstand gegen das Asad-Regime unterstützt haben, von linken Bewegungen im Stich gelassen. Sie fordern eine Solidarität der arabischen aber auch der europäischen Linken mit ihrem revolutionären Aufstand. Als linke Stiftung wollten wir diese spannungsgeladene Diskussion aufgreifen und haben einige arabische Intellektuelle und Aktivist*innen gefragt, sich mit der Haltung der linken Bewegungen zum Syrienkonflikt kritisch auseinanderzusetzen, sowie der Frage nachzugehen, wie Ihrer Meinung nach, eine linke Position zum Syrienkonflikt aussehen könnte und sollte.

Die verschiedenen Beiträge werden im Dezember und Januar auf unserer Themenseite «Nahen Osten und Türkei» veröffentlicht.


Die kommunistische Bewegung in der arabischen Welt befand sich, im Gegensatz zur europäischen, die sich von der Sowjetunion und ihrem Einfluss spätestens seit den 1970er-Jahren emanzipiert hat, in völliger ideologischer wie finanzieller Abhängigkeit vom großen russischen Genossen. Die Kollaboration der Linken mit vielen diktatorischen Regimen in der Region ist während des sogenannten arabischen Frühlings auf markante Weise durch die Haltung einiger linker Intellektueller illustriert worden. Der linke ägyptische Philosoph Hassan Hanafi verglich schamlos die Aufstände des ägyptischen Volkes 2011 mit dem Militärputsch des späteren ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nassers im Jahre 1952 und sieht in dieser Revolution eine Fortsetzung der Politik der sogenannten freien Offiziere - so als wäre Mubarak und sein Regime nicht die logische Folge dieses Militärputsches von 1952. Der syrische Dichter Adonis[2] lehnte in einem Akt stalinistischer Prägung jede Revolution, die aus der Moschee kommt, ab und verurteilte dadurch die Aufstände in Syrien seit 2011 als rückschrittlich. Und der linke syrische Denker Aziz al-Azmeh, der in den syrischen Demonstrationen gegen die Baathpartei nur eine primitive, irrationale Kraft sah, bezweifelte, dass die Demokratie in der Lage sei, die Probleme der Region zu lösen.

Aufgrund ihrer radikalen Ablehnung des Staates Israel versäumte die arabische Linke zudem eine historische Chance, zusammen mit der israelischen Linken für einen multikulturellen israelischen Staat zu arbeiten. Sie trug dadurch indirekt zur Schwächung der israelischen Linken und dem Erstarken des religiösen Lagers in Israel wie in den palästinensischen Gebieten bei.

Vielleicht ist es nicht mehr angebracht, heutzutage über eine arabische Linke oder überhaupt über eine Linke im arabischen Kontext zu sprechen. Das religiöse Lager bzw. der politische Islam einerseits und die diktatorischen Regime anderseits sind die wichtigsten politischen Akteure in der Region, die Linke spielt hier keine große Rolle mehr, wie dies der libanesische Politologe Gilbert Achcar folgendermaßen ausdrückte: „Die arabische Linke ist tot, wir müssen eine neue Linke erfinden“. Aber sie zu erfinden ist kein politischer Luxus, sondern, angesichts der Herausforderungen, mit der die Region heute konfrontiert ist, eine Frage auf Leben und Tod. Zu Recht sieht Gilbert Achcar in der Unabhängigkeit der Linken gegenüber den arabischen Regimen eine wichtige Bedingung  ihrer Neuerfindung in der arabischen Welt. Genau solche Versuche sind jetzt in Ländern wie Tunesien oder Marokko im Gange. Dies bedeutet vor allem ein Kampf um eine Demokratisierung der Politik und um eine Verbreitung demokratischer Werte in der Gesellschaft. Eine zweite wichtige Bedingung sehe ich in der Auseinandersetzung mit dem politischen Islam. Der Weg ist hier nicht, diese Bewegung radikal abzulehnen, da sie im Nachhinein nicht nur eine legitime Protestbewegung darstellt, sondern genau jenen Protest artikuliert, welchen die Linke versäumt hat, gesellschaftlich zum Ausdruck zu bringen. Wünschenswert ist vielmehr der Versuch mit diesen islamischen Bewegungen zu arbeiten. Dies versucht etwa die „Parti du progrès et du socialisme“ („Partei des Fortschritts und des Sozialismus“)[3] in Marokko, die sich bemüht, die islamische Bewegung von innen in ein gesellschaftliches Projekt zu verwandeln. Dieser Schritt setzt nicht nur eine Selbstkritik der Linken bezüglich ihrer absolutistischen Position gegenüber der Religion im Allgemeinen und der Volkskultur im Besonderen voraus, sondern auch die Fähigkeit, sich in der Sprache des Volkes auszudrücken und nicht auf eine überhebliche Art und Weise, die nur über das Volk und nicht mit ihm spricht. Die Linke braucht weniger Ideologie, und noch weniger Dogmen, sondern mehr Ambiguitätstoleranz. Was wir brauchen, ist eine „schwache Linke“, die nicht die politische Macht anstrebt, sondern zusammen mit verschiedenen Akteuren für mehr soziale Gerechtigkeit arbeitet. Dieser Schritt setzt darüber hinaus die Fähigkeit voraus, außerhalb der geerbten Dogmen zu denken, etwa bezüglich der brennenden Frage der Säkularisierung. Die arabische Linke, wie etwa die syrischen Denker Aziz al-Azmeh oder Adonis, sah in der Säkularisierung einen Gegenpol zur Religion, was aber in einer religiös geprägten Kultur wie der in vielen arabischen Ländern wenig Zuspruch fand. Man soll zweifelsohne für eine Trennung des Politischen vom Religiösen im arabischen Kontext kämpfen, aber Trennung heißt nicht eine Ablehnung des Islam, sondern eine Ablehnung der politischen Instrumentalisierung dieser Religion. Man kann auch ausgehend vom Islam und seiner Kultur für mehr Säkularisierung plädieren, aber das verlangt eine große hermeneutische Anstrengung, welche die Linke noch nicht aufzubringen in der Lage ist, weil sie die kulturelle Dimension des Kampfes für mehr Demokratie immer außer Acht lässt. Die Ideologie ist einfach, die Demokratie jedoch komplex. Einen Cordon sanitaire[4] zu errichten und zu sagen, dass die Linke mit dem politischen Islam nicht reden möchte, nicht arbeiten werde, ist eine Fehlentscheidung. Der politische Islam beherrscht die Sprache, welche die Linke nicht beherrscht, nämlich die des Volks, und die Linke besitzt das Programm, welches der politische Islam nicht hat. Daher ist für jede strukturelle Veränderung in der Region eine Zusammenarbeit zwischen der Linken und dem politischen Islam unabdingbar. Nur in der Auseinandersetzung mit dem politischen Islam ist dessen Entzauberung möglich und nicht durch ihren Ausschluss. Die Hermeneutik  bleibt die einzige mögliche Politik im islamischen Kontext.

Im Hinblick auf die syrische Revolution ist die Linke dazu berufen, eine Art kulturelle Schlüsselrolle zu spielen. Sie kann nicht an der Seite eines barbarischen Regimes stehen, sie kann auch nicht den schmutzigen Krieg der Islamisten führen. Sie ist dazu berufen, das syrische Volk auf ihre Seite zu ziehen, indem sie einen Diskurs entwickelt, welcher gleichzeitig das Sektierertum des Regimes wie den Fundamentalismus der Islamisten verurteilt. Das alte Syrien ist passé. Aber auch die heutigen Akteure im Lande werden nicht in der Lage sein, ein neues Syrien zu entwickeln. Sie sind dabei, das alte Syrien und sich selbst zu zerstören. Sie gehören alle einem geschlossenen Narrativ an, nämlich dem der Befreiungsideologien, das sich als eine Befreiung ohne Freiheit entpuppt hat.

Rachid Boutayeb ist ein marokkanischer Autor und Übersetzer, der heute in Frankfurt lebt.



[1] Die „Union socialiste des forces populaires“ ist eine linke politische Partei in Marokko, die momentan mit 38 von 395 Sitzen in der Repräsentantenversammlung vertreten ist.

[2] Adonis ist der Künstlername des syrischen Dichters Ali Ahmad Said Esber.

[3] Die „Parti du progrès et du socialisme“ ist eine sozialistisch ausgerichtete politische Partei in Marokko, die momentan mit 12 von 395 Sitzen in der Repräsentantenversammlung vertreten ist.

[4] Im Sinne einer politischen und ideologischen totalen Abgrenzung von Seiten der Linken gegenüber dem politischen Islam.