Publikation Globalisierung Eröffnungsrede Prof. Dr. Michael Brie

Beitrag zur Konferenz "Gerechtigkeit oder Barbarei" Interkontinentales Forum vom 5. bis 6. Oktober 2000 in Berlin

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Michael Brie,

Erschienen

Oktober 2000

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Nur online verfügbar

Gerechtigkeit oder Barbarei.

Interkontinentales Forum vom 5. bis 6. Oktober 2000

Gerechtigkeit oder Barbarei

Während des I. Weltkrieges schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis den lakonischen Satz „Die Dividenden steigen und die Proletarier fallen.“ Mehr als achtzig Jahre später steigen die Dividenden immer noch und täglich sterben 110 000 Menschen an Hunger. Jeden Tag verlieren wir eine Schlacht. Die Dividenden steigen und die weltweite Armut nimmt zu. Der Abstand zwischen den Reichen und Armen hat sich in den letzten zwanzig Jahren global wesentlich erhöht. Die Dividenden steigen und der natürliche Reichtum unseres Planeten wird vernichtet. Die Menschheit ist zur größten Naturkatastrophe in der Geschichte des Planeten geworden. Die Dividenden steigen und Wissen, Gene, Bildung und Gesundheit werden privatisiert. Im Heiligen Land des Kapitalismus leben nach Jahren größten wirtschaftlichen Wachstums immer noch 18,7 Prozent der Kinder in Armut, 3 Millionen mehr als 1979.

40 Mrd. jährlich Dollar würden reichen, um die schlimmste Unterernährung zu überwinden und jeder und jedem auf dieser Erde ausreichend Nahrung, elementare Gesundheitsversorgung und frisches Wasser zu sichern. In der Realität werden aber 780 Mrd. Dollar für Rüstung ausgegeben und die USA treiben sie weiter voran. Angesichts dieser Tatsachen, kann sich niemand glaubhaft auf die Zwänge eines freien Marktes berufen.

Der Kampf gegen die strukturelle Übermacht der Kapitalverwertung über die Gesellschaft, menschliches Leben und irdische Natur ist schwer, da die Herrschaft als Sachzwang dargestellt wird und auf freier Entscheidung zu beruhen scheint. Er ist auch deshalb schwer, weil gerade die, die über reale Gegenmacht verfügen, zumeist hoffen können, auf der Gewinnerseite des heutigen Tages zu sein. Und doch ist dieser Kampf gegen diese Herrschaft und diese Ausbeutung überlebensnotwendig und die einzige sittliche Alternative.

Demokratie muss sozial verantwortlich sein. Eine Politik der Freiheit bedeutet vor allem, die Rechte anderer – und eben nicht vor allem die eigenen Rechte – auf soziale, politische und kulturelle Teilhabe durchzusetzen. Eine offene Gesellschaft ist nur möglich, wenn sie zugleich auch Schutz bietet, Schutz vor Gewalt, Schutz vor Unterdrückung, Schutz vor dem Zwang, nur durch An- und Einpassung leben zu können. Uns sollte nicht die Freiheit der Märkte, sondern die Freiheit von Menschen interessieren. Dazu müssen Märkte human, sozial und ökologisch reguliert werden.

Ziel der heute herrschenden Politik ist die Befreiung der Märkte von eben solcher Regulierung, ist ihre Unterordnung unter die transnationale Konzerne. Überlebensnotwendig ist eine andere Politik. Es wird Zeit, Märkte in ein Mittel von demokratischer, sozialer und ökologischer Politik zu verwandeln. George Soros ist milliardenschwerer Profiteur des Weltkapitalismus. Gerade deshalb lässt es aufhorchen, wenn er nach einem Jahrhundert, für das Auschwitz Inbegriff nicht zu überbietenden Grauens war (und er selbst ist Auschwitz nur durch falsche Papiere entkommen), behauptet: „Der heutige Marktfundamentalismus ist eine wesentlich größere Bedrohung ... als jede totalitäre Ideologie.“ soll die Totalität der gesamten Gesellschaft organisieren.

Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Staatssozialismus ist offenkundig, dass der Kapitalismus nicht die Antwort, sondern das Problem ist. Er ist übriggeblieben, weil Diktatur einer Staatspartei und Zentralverwaltungswirtschaft die Freiheit der Anderen offen und direkt unterdrückten und deshalb entwicklungsunfähig waren. Die Entwicklungsfähigkeit des Kapitalismus basiert auf einer anderen Unterdrückung der Freiheit der Anderen – sie basiert auf sachlicher, monetärer Herrschaft. Er polarisiert zwischen Macht und Ohnmacht, Reichtum und Armut. Er nivelliert durch den verführerischen Zwang zur allgemeinen Vermarktung von allem und jedem. Er ist nicht das Ende von Geschichte, wenn Geschichte möglich bleiben soll.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat eingeladen, damit der globale Widerstand gegen diesen Kapitalismus auch hier, im Herzen der Bundesrepublik, einen Ort hat. Zehn Tage nach Prag. Die Entscheidung „Gerechtigkeit oder Barbarei“ muss jeder von uns jeden Tag treffen. Herrschaft, so unsere Erfahrung von 1989, bricht zusammen, wenn sie keine Legitimation hat. Wir müssen dem globalen Kapitalismus die Legitimation für seine totalitäre Herrschaft entziehen. Diese Freiheit sollten wir uns nehmen. Die politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung vom Standpunkt des demokratischen Sozialismus nimmt sie sich.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat Menschen eingeladen aus vier Kontinenten. Menschen, die bewiesen haben, dass Widerstand notwendig, dass Widerstand möglich, dass Widerstand erfolgreich sein kann. Wir brauchen dieses Wissen, wir brauchen diesen Mut und wir brauchen diese Kompetenz. Wir danken Euch, dass Ihr gekommen seid!

Euer Hiersein ist schon deshalb wichtig, weil die Herrschenden eine falsche Vorstellung von dieser Welt verbreiten. In ihren Bildern stehen auf der einen Seite die glücklichen reichen Bürger des Westens und Nordens und auf der anderen Seite die immer noch Armen, Hilfsbedürftigen und in ihrer zahlenmäßigen Menge zugleich Bedrohlichen im Süden und Osten. Aber wir leben in einer Welt, wir leben in einem System und haben letztlich auch die gleichen Probleme. Wir können von Euch lernen.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat eingeladen und wir hoffen, dass diese Tage Tage der Ermutigung, Tage des Gewinns an Selbstbewusstsein und Gegenmacht sind, Tage politischer Bildung im Geiste von Rosa Luxemburg. Die Bedingungen dafür sind geschaffen. Nur einige Worte noch dazu: Das aktuelle Programm liegt vor. Die Versorgung ist ab 12 Uhr im Raum Leipzig dieses Hauses gesichert. Arbeitsgruppen. Heute Abend ist eingeladen zu Musik und Gespräch. Morgen Vormittag setzen wir in Podien fort, um dann mit einem neuen Plenum abzuschließen.

Ich erkläre das Interkontinentale Forum der Rosa-Luxemburg-Stiftung Gerechtigkeit oder Barbarei für eröffnet und übergebe der Stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Friederike Habermann, das Wort.