Publikation Bildungspolitik - Gesellschaftstheorie Robert Alts Schrift „Das Bildungsmonopol“ und die PISA-Studien

Beitrag zum Forum „Schule, Pädagogik, Gesellschaft“ am 22. Februar 2006 von Marit Baarck und Knut-Sören Steinkopf.

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März 2006

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In der Veranstaltungsreihe „Schule und Erziehungswissenschaften“ des Berlin-Brandenburger Forums „Schule, Pädagogik, Gesellschaft“ am 22. Februar in der Rosa-Luxemburg-Stiftung setzten sich Marit Baarck und Knut-Sören Steinkopf  im Rückgriff auf Arbeiten des Lehrers und Erziehungswissenschaftlers Robert Alt (1905 – 1978) mit den Ergebnissen der PISA-Studien und ihrer Reflexion in der Öffentlichkeit kritisch auseinander. Wir dokumentieren den Vortrag, der von Julia Lang und Simone Scheffler miterarbeitet wurde.

1. Vorbemerkung
Wir beschäftigen uns aus der Perspektive angehender ErziehungswissenschaftlerInnen der Humboldt-Universität zu Berlin mit Robert Alt und seinen Auffassungen zur Pädagogik, die innerhalb des erziehungswissenschaftlichen Studiums nur wenig berührt werden. Wir halten dies für ein Defizit, gehört Robert Alt doch zu den herausragenden Pädagogen der Nachkriegszeit in Deutschland, der sich an der Humboldt-Universität für einen wissenschaftlichen Neubeginn und ein antifaschistisches und demokratisches Pädagogikstudium engagiert hat.

Wenn man sich mit Robert Alt befasst, wird „soziale Ungleichheit“ als Querschnittsthema seiner Arbeiten sichtbar. Ein Thema, dass dank PISA wieder verstärkt in die Diskussionen der Bildungs- und sozialen Ungleichheitsforschung geraten ist. Ein zentrales Ergebnis der PISA-Studie zeigt den engen Zusammenhang zwischen Bildungsbeteiligung, Leistungsergebnissen und Sozialschichtzugehörigkeit. Das war für uns Anlass, anhand der 1978 erschienenen Schrift „Das Bildungsmonopol“ von Robert Alt insbesondere der Frage nachzugehen, ob und inwieweit seinen Auffassungen von der Reproduktion der Klassengesellschaft durch die Aufrechterhaltung eines Bildungsmonopols im Sinne der herrschenden Klasse vor dem Hintergrund der Ergebnisse und Feststellungen der PISA-Studie heute noch Bedeutung zukommt. Wir wollen sein Werk in die Gegenwart holen, dem bildungshistorischen Grundsatz folgend, pädagogische Theorie und Praxis zu rekonstruieren und Potentiale für eine heutige pädagogische Debatte herauszuarbeiten. Dabei sind wir uns darüber im Klaren, dass Alts Auffassungen aus heutiger Perspektive weitläufiger zu betrachten und insbesondere seine Begrifflichkeiten unter Wahrnehmung und Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontextes ihrer Entstehung kritisch zu reflektieren sind.
Wir nehmen Alts Schrift „Das Bildungsmonopol“ lediglich als Anregung, die Debatte um die Reproduktion sozialer Ungleichheiten in einem bildungssoziologischen Kontext zu denken. Dabei soll die PISA–Studie auch in ihrem Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft hinterfragt werden. Unsere Ausgangsthese lautet: Die Ergebnisse der PISA-Studie zu sozialer Ungleichheit  im Bildungssystem können als Beleg der Fortexistenz eines Bildungsmonopols im Altschen Verständnis gelesen werden. Allerdings bleibt die PISA-Studie in ihrer Interpretation der Ergebnisse in Bezug auf die gesellschaftlichen Ursachen für den Zusammenhang von Bildungssystem und sozialer Ungleichheit vage. Der Aspekt der möglichen Reproduktion sozialer Strukturen wird nicht untersucht. Um so interessanter erscheint die Frage,  inwieweit die These vom Bildungsmonopol, die Robert Alt aus der Analyse historischer Gesellschaftssysteme des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelte, im 21. Jahrhundert für die Erklärung von Ungleichheitsreproduktion durch Bildungssysteme relevant sein kann.

2. Begrifflichkeiten – Bildungsmonopol (Alt) versus soziale Ungleichheit (PISA)?
Die grundsätzliche Aussage zum Verhältnis von Gesellschaft und Erziehung in Bezug auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Erziehungssysteme findet sich bei Robert Alt in der Definition des 'Gesetzes vom Bildungsmonopol': „Unter Bildungsmonopol sei die in der Klassengesellschaft bestehende Tendenz verstanden, seitens der herrschenden Klasse uneingeschränkt über Wesen und Umfang des Bildungsinhalts, der den Angehörigen der beherrschten Klasse vermittelt wird, im Interesse der Reproduktion der Klassengesellschaft zu verfügen.“(Alt, 1978, S.12)
Als Bildungsmonopol bezeichnet Alt die uneingeschränkte Macht über die Bildung und Ausbildung der Menschen durch die herrschende Klasse, indem diese bestimmt, wer, welchen Stoff, in welchem Umfang, zu welchem Zeitpunkt, und mit welchen Maßnahmen vermittelt bekommt.
Die Begrifflichkeiten Robert Alts sind geprägt von seinem historisch-materialistischen (marxistischen) Grundverständnis . Die von Alt verwendete und stark reduzierte Unterscheidung in herrschende und beherrschte Klasse erscheint heute nicht mehr zeitgemäß, denn sie entspricht nicht den modernen, gesellschaftlichen Realitäten. Das Machtgefälle ist horizontal und vertikal ausdifferenzierter und bedarf einer wesentlich umfassenderen Sozialstrukturanalyse als sie Robert Alt  zur Grundlage seiner Arbeiten gemacht hat. Der Begriff der Klasse bei Robert Alt mag nichtmarxistische bzw. marxistisch ungeübte WissenschaftlerInnen verschrecken, ist er doch im Kontext der DDR-Wissenschaft oftmals eine allzu vereinfachte Kategorie oder auch nur eine Leerformel einer marxistisch-leninistischen Dogmatik gewesen. Aber nur weil der sie benutzende Wissenschaftsapparat in Ostdeutschland demontiert wurde, ist die Klasse als soziologische Größe und als Analysebegriff nicht überholt oder gar verschwunden. Verschiedene soziologische Forschungen der 1990er Jahre zur Sozialstruktur in Westeuropa und der Bundesrepublik belegen das deutlich (vgl. Bischoff 2002).
Neuere soziologische Studien, auch im bildungssoziologischen Rahmen, kommen ohne einen Klassenbegriff nicht aus, gerade wenn eine Beschreibung von sozialen Disparitäten oder Analysen der Sozialstruktur vorgenommen werden soll. Bei PISA werden die Begriffe soziales Milieu, soziale Schichten und Klasse verwendet, allerdings nicht im Kontext einer antagonistischen Klassengesellschaftsanalyse.
Die Spannung für eine erziehungswissenschaftliche Betrachtung entsteht, wenn wir den Klassenbegriff von Robert Alt synonym zu den von PISA verwendeten Begriffen setzen und versuchen, seine Thesen zur Beschreibung von Ungleichheitsreproduktion durch Bildungssysteme an die Ergebnisse der PISA-Studien anzulegen, – nicht ohne dabei die zeithistorische Bedingtheit und Begrenztheit damals verwendeter Begriff zu berücksichtigen. Der Begriffsapparat Alts entstammt einer in sich geschlossenen marxistisch-leninistischen Sozialwissenschaft. Zeitgenössische Forschungen westlicher Strömungen, insbesondere der  Sozialstrukturanalyse wie die von Bourdieu, Passeron oder auch Dahrendorf, fanden in Alts Arbeiten keine Beachtung. Ebenso fehlt eine kritische Selbstreflexion der Sozialstrukturentwicklung in den real existierenden sozialistischen Gesellschaften, etwa die neue Elitenbildung in der DDR der 1970er Jahre.
Wie allgemein bekannt ist, war der Aufschrei in Deutschland nach Veröffentlichung der PISA Ergebnisse groß, allerdings galt dieser primär den Leistungsdefiziten im internationalen Wettbewerb und weniger der Feststellung sozialer Disparitäten im deutschen Schulsystem. Für Bildungssoziologen waren diese Ergebnisse weniger überraschend, ist doch die Bildungsungleichheit nach sozialen Klassen seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein bildungssoziologischer Befund, der in einer Fülle von Untersuchungen immer wieder dokumentiert und belegt worden ist. Was ist jedoch das Besondere der PISA – Studie und welche Bezüge lassen sich zu Robert Alts „Bildungsmonopol“ benennen?
 
3. Aussagen zu Bildungsbeteiligung, Kompetenzerwerb und Bildungsverständnis
Zunächst ist notwendig, auf das Verständnis, die Definition und die Herleitung der herangezogenen Termini bei PISA einzugehen, um mögliche Bezugspunkte zwischen der Studie und Alts Aussagen zu erhellen. Die sich  daraus ergebenden Fragestellungen werden anschließend anhand der schon von Alt thematisierten gesellschaftlichen Strukturen und möglichen gesellschaftlichen Wechselbeziehungen erörtert.
 Das für unsere Betrachtung zentrale Thema der PISA-Studie wird unter dem Kapitel „Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb“ zusammengefasst. Es wurde festgestellt, dass etwa die Hälfte der Jugendlichen aus den höchsten Sozialschichtgruppen das Gymnasium besuchen, während nur wenig mehr als 10 % der Jugendlichen aus Arbeiterfamilien in dieser Schulform anzutreffen sind. Das Pendant dazu ist die Hauptschule, in der 40 % der Jugendlichen aus Arbeiterfamilien, aber nur ca. 10 % der Jugendlichen aus der Oberschicht vertreten sind. (vgl. Deutsches PISA – Konsortium, 2001, S.13). Weiter heißt es an anderer Stelle:
"[...] die Chancen des Gymnasialbesuchs [sind] für den Jugendlichen aus der Familie der oberen Dienstklasse 5,7 - mal so hoch wie die Beteiligungschancen des Jugendlichen aus einem Arbeiterhaushalt." (Ebd., S. 356) Wie bereits beschrieben ist diese Bildungsungleichheit  nach sozialen Klassen schon ein älterer bildungssoziologischer Befund. Neu ist, dass bei PISA diese Disparitäten nicht nur in Form der Bildungsbeteiligung verschiedener sozialer Klassen, vor allem im Gymnasium und an der Universität, sondern auch in Form der KOMPETENZEN sehr unterschiedlichen Niveaus festgestellt wurden (vgl. Krais, 2003, S. 7f.).
Die erworbenen Kompetenzen hängen laut PISA eng mit der sozialen Herkunft der SchülerInnen zusammen. So verfügen im Lesen fast 10 % der Jugendlichen aus Familien der höchsten Sozialschichtgruppen lediglich über elementare Lesekompetenzen (Kompetenzstufe I und darunter), wobei in anderen Sozialschichtgruppen der Anteil bei 20-30 % liegt und die Gruppe der Kinder von un- und angelernten Arbeitern 40 % erreicht. (Deutsches PISA-Konsortium, 2001, S. 13)
Kombiniert man zudem laut PISA „[...] die Schichtzugehörigkeit der Bezugsperson des Haushalts mit dem erreichten Bildungsabschluss, so ist zunächst der erwartete straffe Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Bildungsabschluss augenfällig.“ (Ebd., S. 338)
Auf den niedrigsten Kompetenzniveaus befinden sich demnach Schülerinnen und Schüler einfacher sozialer Herkunft, während oberste Kompetenzniveaus Domänen der höheren sozialen Klassen bleiben.
„Die Analyse sozialer Disparitäten auf der Grundlage der PISA – Daten ergibt, dass es am Ende der Grundschulzeit beim Übergang in die weiterführenden Schulformen zu gravierenden sekundären sozialen Disparitäten der Bildungsbeteiligung kommt. Sie treten infolge der differenziellen Förderung in den einzelnen Bildungsgängen am Ende der Sekundarschulzeit als verstärkter Zusammenhang zwischen Sozialschicht und den gemessenen Kompetenzen in Erscheinung." (ebd., S. 360)
"Entscheidend für die Problematik der Ungleichheit von Bildungschancen ist nun, das mit diesen Konzepten soziale Ungleichheit im Bildungswesen als Ungleichheit in den Bildungsergebnissen selbst erfasst wird, d.h. in den spezifischen Termini des Bildungswesens selbst." (Krais 2003, S. 7)
Um die Pisa-Ergebnisse besser einordnen zu können, wollen wir klären, welchem Bildungsverständnis die untersuchten Kompetenzen aufruhen. Die Erörterungen von Beate Krais und Anna Brake waren hierbei sehr hilfreich. Das Bildungskonzept bei PISA wird mit dem Anglizismus literacy bezeichnet. Es meint Basiskompetenzen von 15-Jährigen, worunter nicht die Reproduktion von Faktenwissen verstanden wird, sondern das Vermögen die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten in der Bewältigung von alltagsnahen Situationen einsetzen und anwenden zu können. Mit literacy sollen die als nötig erachteten Basiskompetenzen für eine erfolgreiche Teilhabe an Gesellschaft und Kultur erfasst werden. (vgl. Brake 2003, S. 26)
So halten auch die PISA-AutorInnen fest:
„Die Pisa zu Grunde liegende Philosophie richtet sich also auf die Funktionalität der bis zum Ende der Pflichtschulzeit erworbenen Kompetenzen für die Lebensbewältigung im jungen Erwachsenenalter und deren Anschlussfähigkeit für kontinuierliches Weiterlernen in der Lebensspanne.“ (Deutsches PISA Konsortium 2002, S. 12) Dies entspricht der Leitidee der OECD „Lernen für das Leben” (OECD, 2001).
Im Unterschied hierzu nimmt Robert Alt einen klassenspezifischen Ursprung von sozialer Ungleichheit an. In seiner Terminologie gesprochen, bestimmen Herrschende die Bildungsinhalte und die Bildungsbeteiligungen, also Wesen und Umfang von Bildung der Beherrschten. Eine antagonistische Klassengesellschaft impliziert für ihn soziale Ungleichheit.
"Alle erzieherischen Phänomene - seien es Fakten, Vorgänge, Institutionen - erhalten von der Struktur der Klassengesellschaft und von den Interessen ihrer Aufrechterhaltung her ihre Prägung.“ (Alt, 1978, S. 18)
Das Gesetz vom Bildungsmonopol stellt speziellere Gesetzmäßigkeiten in zweifacher Prägung dar:
Erstens bezogen auf den Inhalt der Bildung, also auf dessen Wesen und Umfang,
und zweitens kommt der Klassencharakter der Erziehung im gesamten Zusammenspiel der sozialen Beziehungen zum Ausdruck, in seiner sozialen und rechtlichen Stellung, seinen Entwicklungsbedingungen, im Schulsystem, in der Ausstattung der Schulen, usw. (Ebd., S. 18).
Konkret heißt es, das Bildungsmonopol zeigt sich in Bestimmungen und Festlegungen „[die] sich auf das Schulsystem, die Dauer des Schulbesuches, die Lehrpläne und Lehrbücher, die Zulassung zu bestimmten Schulgattungen, die Ausbildung der Lehrer und vieles andere[...]“ (ebd., S.14) beziehen. Die Bildungsbeteiligungen werden durch die herrschende Klasse bestimmt, die für sich selbst ein Bildungsprivileg in Anspruch nimmt und dieses durchsetzt. Es besteht, nach Alt, „soweit die faktischen Verhältnisse in bezug auf Wesen und Umfang des Bildungsinhalts, der der beherrschten Klasse vermittelt wird, als Zustände, die allgemeingültigen Normen entsprechen, angesehen werden und sie in festen Gewohnheiten und herkömmlicher Sitte fixiert und schließlich durch gesetzliche Vorschriften geregelt werden.“(Ebd., S. 14). Die Ungleichheit der Bildungsbeteiligungen, die durch PISA ermittelt wurden, sind bei Robert Alt Ausdruck eines Bildungsprivilegs der herrschenden Klasse(n).
Um einen Bezugspunkt zwischen dem „Wesen und Umfang von Bildungsinhalten“ in Alts Werk mit den wesentlichen Begriffen und Sichtweisen der PISA-ForscherInnen zu schaffen, wollen wir sein Verständnis detaillierter betrachten. Den Umfang des Bildungsinhalts macht nach Robert Alt das Ausmaß der Umwandlung von Kulturgütern in Bildungsgüter aus. Das Wesen der Bildungsgüter soll dem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung gewidmet sein und einen allseitig gebildeten Menschen hervorbringen. Bildung ist ein „zielstrebiger Prozess, in dem der Mensch sich ein System von wissenschaftlichen Kenntnissen und rational fundierten Fähigkeiten erwirbt und diese gebrauchen lernt.“ (Ebd., S. 15)
Dieses positive Bildungsverständnis wird nach Robert Alt nur durch die Beachtung der Wechselseitigkeit der Beziehungen von Bildung und der Änderung der gesellschaftlichen Umstände wirksam (vgl. ebd., S. 52f.). In antagonistischen Klassengesellschaften jedoch entstammen die Normen der Selektion den Intentionen und der Geisteshaltung der herrschenden Klasse, und die Lernleistungen des Schülers sind nicht unabhängig von seiner sozialen Lage (vgl. ebd., S. 34f). Die Feststellung der PISA-Studie, dass die erworbenen Kompetenzen und der Bildungsabschluss eng mit der sozialen Herkunft der SchülerInnen zusammenhängen, können durchaus als ein Beleg für diese These von Alt gelesen werden.
Der Prozess der Wissensakkumulation soll nach Alt im Ergebnis eine „allseitig gebildete Persönlichkeit“ schaffen, die mit ihrem Handeln und Wirken eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und ihrer Geschichte sucht, rationale Fähigkeiten und Kenntnisse entwickelt, um diese im späteren Lebensalltag anzuwenden und weiterzuentwickeln.
Hier sehen wir erneut eine Parallele zur PISA-Studie, nach der erworbene Kenntnisse zur Lebensbewältigung im jungen Erwachsenenalter eingesetzt werden sollen, allerdings ohne  Bezüge zu Geschichte und Gesellschaft herzustellen

4. Die gesellschaftliche und wissenschaftliche Verortung der PISA-Studie
Die PISA-Ergebnisse bestätigen eine Illusion von Chancengleichheit in der Bildungsbeteiligung  die bis zum Ende der Pflichtschulzeit erhalten bleibt. Die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron, 1971) besteht darin, das unter der Maxime der Chancengleichheit und Gleichberechtigung zwar gleiche Ausgangsbedingungen im Bildungssystem zur Verfügung gestellt werden, dies aber zu einer maskierten Form der Reproduktion von Ungleichheit beiträgt, weil die nicht zufällig, sondern aufgrund ihrer sozialen Herkunft und Zugehörigkeit Privilegierten von diesem gleichberechtigten Wettbewerb unter Ungleichen profitieren.
Gerade diese Differenzunempfindlichkeit gegenüber den sozialen Vorausetzungen konterkariert den Gleichheitsanspruch des deutschen Bildungssystems.
Die Ergebnisse der PISA-Studie beschreiben, dass sich je nach Herkunft und sozialer Klasse unterschiedliche Kompetenzniveaus ergeben.
Bei Alt steht die Frage nach der Bildungsgerechtigkeit im Zentrum seiner Überlegungen. Seine Behauptung, dass das Monopol an Bildung durch die herrschenden Klassen, Ausgrenzung, Ungerechtigkeit und Reproduktion von Macht schafft, wird von PISA 2000 in Vielem bestätigt, zumindest nicht widerlegt. In keinem anderen Land hängen der soziale Status und der Bildungsabschluss so eng zusammen wie in Deutschland. Das dreigliedrige Schulsystem begünstigt hier eine Selektierung der Kinder hauptsächlich nach ihrer Herkunft und weniger nach Leistung. Außerdem vermitteln bestimmte weiterführende Schulen je bestimmtes Wissen. Hier gilt es dringend die Rolle der Schule selbst bei der Reproduktion von sozialer Ungleichheit kritisch zu hinterfragen und eine bildungspolitisch und konzeptuell unter dem Postulat einer mündigen Teilhabe an der Gesellschaft stehende Wahrnehmung der unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen in Schule einzufordern.
Der Vorwurf gegenüber PISA lautet daher vielerorts, keine wirkliche Ursachenanalyse vorgenommen zu haben, sondern eher den Blick auf strukturelle Selektionsmomente innerhalb des Bildungssystems zu stärken.  Das von PISA favorisierte Modell sieht die sozialen Ungleichheiten der Bildungsbeteiligung und der Bildungskompetenzen am Ende der Sekundarstufe I primär als Resultat der Eintrittsselektivität in verschiedene Schulformen, nicht aber als Ergebnis eines unterschiedlichen schichtspezifischen, sozialen und kulturellen Milieus der Schulformen selbst (vgl. Hopf 2003, S. 16). „Als maßgeblicher institutioneller Beitrag zur schichtspezifischen Reproduktion, bleiben Zeitpunkt und Zahl von ‚Gelenkstelle’ im Bildungssystem.“ (ebd., S. 16)
Ein weiterer kritischer Blick auf die in PISA verwendeten Begriffe und Konzepte ist lohnenswert. So wird von „Kindern unterer sozialer Schichten“ und von „familiärer Herkunft“ geredet, sowie die Begrifflichkeiten „kulturelles“ und „soziales Kapital“, die seit Bourdieu entscheidende Analysefaktoren geworden sind, verwendet - ohne aber dessen Gesamtkonzept angemessen zu beachten. Heinz Sünker wirft daher den PISA-VerfasserInnen eine inhaltliche Verkürzung vor, wenn er sagt: „[…] die Autorinnen und Autoren [beziehen sich] in Konzeptualisierung und Diskussion auf Bourdieus Position, verwenden dessen Kategorien ‚soziales’ und ‚kulturelles Kapital’[…], ohne allerdings [...] dessen radikale, also auf den Grund gehenden Einschätzungen die in der Klassenstrukturiertheit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform gründen, zu teilen bzw. aufzunehmen.“ (Sünker, 2003, S. 10)  Bourdieu wies nach, dass gerade mit Hilfe des Bildungssystems und familiärer Ressourcen gesellschaftliche Beziehungen strukturiert und legitimiert werden, die auf Ungleichheit und Ungerechtigkeit beruhen und das Erziehungssystem mithin zur Konservierung gesellschaftlicher Verhältnisse beiträgt. (vgl. Bourdieu 2001, S.  93)
Bei Alt findet sich der gleiche Sachverhalt folgendermaßen formuliert:
„Der Anteil, den die Klassen am Gesamtprodukt erhalten, ist entscheidend für deren Lebensstil. Der vermittels des materiellen Reichtum geprägte Lebensstil, der in der Wohnung, Kleidung, Nahrungsgewohnheiten, geselligem Verkehr und vielem anderen zum Ausdruck kommt, erfordert eine bestimmte Bildung, verlangt Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verhaltensweisen, die nur der besitzenden Klasse zu eigen sind und als Emblem des gesellschaftlichen Status fungieren." (Alt, 1978, S. 28) Durch monopolisierte Bildung wird bewirkt, "dass die beherrschte Klasse von solchen Bereichen der Bildung ausgeschlossen ist [die einen vermittels materiellen Reichtums geprägten Lebensstils ermöglichen]. Zumeist sorgt dafür der kärgliche Anteil der Produktionsmittellosen am Sozialprodukt.“ (ebd., S. 28)
Neben einer verkürzten Ursachenanalyse zeigen sich weitere Verkürzungen aber auch in Hinblick auf mögliche gesellschaftliche Bedingungszusammenhänge. PISA stellt fest, dass Deutschland zu den Ländern gehört, „in denen die 15-jährigen ein unterdurchschnittliches Kompetenzniveau erreichen und in denen gleichzeitig die engste Kopplung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb nachweisbar" (PISA 2001, S. 402) ist. Dies wird jedoch nicht als "grobe These der aktiven Benachteilung von sozial Schwächeren“ interpretiert (ebd., S. 352).  PISA gibt somit keinen Aufschluss über einen direkten Zusammenhang zwischen Merkmalen der sozialen Herkunft und den Verlauf von Bildungsprozessen, sondern widmet sich lediglich den Ausschnitten von Bildungsbeteiligung und den Bildungsabschlüssen. Daraus folgend wird eine bewusste Benachteilung von Kindern unterer Sozialschichten nicht unmittelbar gesehen. Aufgrund bildungssoziologischer Analysen über die Wirkungsweisen und Effekte des Bildungssystems ist jedoch bekannt, dass das demokratische Bildungssystem gerade durch seinen universalistischen Egalitätsanspruch paradoxerweise die Macht der Verhältnisse zur Geltung kommen lässt. Auch Robert Alt bemerkte im „Bildungsmonopol“, dass „die formale Demokratie der kapitalistischen Gesellschaft allen Kindern des Volkes das gleiche Recht [zuspreche], jede Bildungsmöglichkeit zu nutzen, [...] das neu deklarierte Recht [verdecke jedoch] die tatsächlich vorhandene Unmöglichkeit für die große Masse, von ihm Gebrauch zu machen.“ (Alt 1978, S. 14) Nach Alt setze sich das Gesetz des Bildungsmonopols im Zusammenspiel mit gesetzlichen Regelungen und objektiv wirkenden Faktoren wie Einkommen der Familie, Berufsstand der Eltern, Berufsaussichten u.a. fort (vgl. ebd., S. 14). Er betrachtet im Rahmen seines Werkes anhand der antagonistischen Klassengesellschaft die Inhalte, Zugangs- und Beteiligungschancen, indem er sich mit der Bestimmung von Wesen und Umfang von Bildung und Bildungsinhalten auseinandersetzt. Eine solche Auseinandersetzung führt die PISA Studie nicht. Gewiss muss die Zeit und die Einbettung der Analyse Robert Alts in den Kontext einer antagonistischen Klassengesellschaft stark relativiert werden, gerade wenn man die weiterführenden Diskussionen um einen zeitgemäßen Klassenbegriff verfolgt. Dennoch löste dieser Gedanke bei uns ein Hinterfragen des Kontextes der PISA-Studie und ihrer gesellschaftlichen Verflechtung und Verantwortung aus.
Bezieht man Robert Alt nun wieder auf PISA und den Kontext der Studie, so ist zu konstatieren, dass die PISA-Studie nicht nur in ihren Ergebnissen zur sozialen Ungleichheit Alts Auffassungen 30 Jahre später bestätigt, sondern auch im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Verortung selbst zu reflektieren ist.
Wie bereits angedeutet, ist für PISA ein funktionell-pragmatisches Bildungsverständnis (vgl. Brake, 2003) forschungsleitend. Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Globalisierung und der Fokussierung internationaler Bildungsstandards auf Leistung, internationalen Wettbewerb und Markt, entspricht die PISA-Studie der gegenwärtigen Tendenz, die Wettbewerbselemente im Bildungssektor zu verstärken. (vgl. Hopf, 2003)
Primäre Aufgabe der PISA-Studie ist es: „[...] den Regierungen der teilnehmenden Staaten auf periodischer Grundlage Prozess- und Ertragsindikatoren zur Verfügung zu stellen, die für politisch administrative Entscheidungen zur Verbesserung der nationalen Bildungssysteme brauchbar sind“ (Deutsches PISA Konsortium, 2002, S.11).

5. Versuch eines Fazits
Wenn man die verkürzenden Fragestellungen und Interpretationen der PISA Studie anschaut, die verstärkte Betrachtung der Struktur des Bildungssystems (Mehrgliedrigkeit des Schulsystems) als Selektivitätsgrund und die Ausblendung der gesellschaftlichen Bedingungszusammenhänge, ergeben sich folgende Fragen:
Warum blendet die PISA Studie grundsätzliche gesellschaftliche Voraussetzungen für Bildungsgerechtigkeit aus?
Warum wird eine Bildungsstudie betrieben, die offensichtlich die Leistung der jeweiligen Bildungssysteme im Rahmen internationaler Wettbewerbe bzw. Konkurrenz nationaler Bildungssysteme vergleicht?
Warum werden „Gleichheit“ und „demokratische Gesellschaft“ unter den Prämissen der angeblich „produktiven Prinzipien von Leistung und Verdienst“ diskutiert? Woher stammen die gesellschaftlichen Zielformulierungen die in der Einleitung zum Kapitel der sozialen Ungleichheit lauten:
„Wie viel Gleichheit benötigt eine demokratische Gesellschaft und wie viel Ungleichheit erträgt sie? Wie viel Ungleichheit ist wünschenswert, um die produktiven Prinzipien von Leistung und Verdienst zur Geltung zu bringen?“ (Deutsches Pisa Konsortium, 2001, S. 323f.)
Mit Robert Alt wäre das einfach zu beantworten:
Die Studie stößt in der Untersuchung durchaus auf die im Bildungssystem enthaltenen Elemente eines Bildungsmonopols, deckt die Monopole jedoch nicht in ihren Ursachen auf. Der  Untersuchungsansatz ist immer dann verkürzt, wenn nach gesellschaftlichen Grundproblemen gefragt werden müsste und ist, somit konsequent mit Robert Alt gedacht, ein Dienstleister der jeweils herrschenden Klasse und ihrer Ideologie. Die angeblich „produktiven Prinzipien von Leistung und Verdienst“ entsprechen recht unvermittelt den Konzepten einer neoliberalen Ideologie von Wirtschafts- und Marktfreiheit und daraus resultierender individueller Konkurrenz.
Die Studie trägt somit dazu bei, im Bildungssystem für den Kapitalismus typische Wettbewerbselemente zu verstärken. Ihre gesellschaftliche Verortung wird deutlich, wenn sie im Spiegel einer globalisierten Wirtschafts-Welt betrachtet wird, in der  alle gesellschaftlichen Bereiche, so auch der Bildungssektor auf „Leistung“ und Markförmigkeit fokussiert werden. Orientiert am Bildungsverständnis von Robert Alt und den von uns herausgestellten verkürzten Analyseebenen der PISA-Studie, liegt die Annahme nahe, dass die Verwertungslogik, die mit dem fortschreitenden Prozess kapitalistischer Globalisierung alle gesellschaftlichen Verhältnisse zunehmend bestimmt, auch auf den Bildungssektor übergreift. Damit geht zugleich eine bemerkenswerte Neubestimmung schulischer Bildungsfunktion in bildungspolitischer und bildungstheoretischer Sicht einher, die sich auch als Abwendung von klassischen Konzepten der Allgemeinbildung beschreiben lassen (vgl. Brake, 2003). Auch daran lassen sich Zusammenhänge von Herrschaft und Bildung festmachen.
 
Angeregt durch Robert Alts Gedanken zum Bildungsmonopol, aber über diese hinausgehend, halten wir eine inhaltliche Erweiterung der Diskussionen um die PISA-Studie für notwendig und sinnvoll. Das gilt vor allem für die Einbeziehung der Frage nach den grundsätzlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen für Bildungsgerechtigkeit sowie für die Rolle der Schule bei der Reproduktion der sozialen Ungleichheit (vgl. dazu Krais 2003).
Soll aus der Illusion von Chancengleichheit wirkliche Chancengleichheit werden (vgl. Geißler, 2004), ist eine Kritik der PISA-Studie unter Einbeziehung klassen- und schichtenanalytischer Perspektiven ebenso bedeutsam wie eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kompetenzbegriff und dessen funktionalistisch pragmatischer Handhabung im Sinne einer Verwertungslogik sowie grundlegender Reflexionen über Bildung und die gesellschaftlichen Bedingungen, die sie konstruieren und prägen.



Literatur

Alt, Robert: Das Bildungsmonopol,  Akademie Verlag, Berlin, 1978.
Bischoff, Joachim: Unsere Klassengesellschaft: verdeckte und offene Strukturen sozialer Ungleichheit,  VSA-Verlag, Hamburg 2002.
Bourdieu, Pierre: Wie die Kultur zum Bauern kommt: über Bildung, Schule und Politik,  VSA-Verlag, Hamburg 2001.
Brake, Anne: Worüber sprechen wir, wenn von PISA die Rede ist? In: ZSE Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, Juventa Weinheim, 23 (2003)1, S. 24-39.
Deutsches PISA – Konsortium (Hrsg.): PISA 2000 – Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Leske + Budrich, Opladen, 2001.
Deutsches PISA – Konsortium (Hrsg.): PISA 2000 – Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Leske+Budrich, Opladen, 2002.
Ditton, Hartmut: Ungleichheitsforschung, In: Rolff, Hans – Günter(Hrsg.): Zukunftsfelder von Schulforschung, Deutscher Studien Verlag, Weinheim, 1995, S.89 – 124.
Geißler, Rainer: Die Illusion der Chancengleichheit im Bildungssystem – von PISA gestört, In: ZSE Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, Juventa Weinheim, 24 (2004) 4, S. 362-380.
Hopf, Wulf: Soziale Ungleichheit und Bildungskompetenz – Erklärungen und Exploration in den PISA-Studien, In: ZSE Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, Juventa Weinheim, 23 (2003) 1, S. 10 – 23.
Krais, Beate: Zur Einführung in den Themenschwerpunkt zu PISA, In: ZSE Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, Juventa Weinheim, 23 (2003) 1, S. 5-9.
Sünker, Heinz: Politik, Bildung und soziale Gerechtigkeit. Von Picht zu PISA. In: Sünker, Heinz: Politik, Bildung und soziale Gerechtigkeit. Perspektiven für eine demokratische Gesellschaft, Peter-Lang-Verlag, Frankfurt/Main, 2003, S. 7-25.




Marit Baarck, Studentin der Erziehungswissenschaften und Afrikawissenschaften (Magister); Dipl. Jur.

Juliane Lang, Studentin der Erziehungswissenschaften und Soziologie und Afrikawissenschaften

Simone Scheffler, Studentin der Erziehungswissenschaften und Europäische Ethnologie

Knut-Sören Steinkopf, Magister der Erziehungswissenschaften, neueren und neuesten Geschichte und Politikwissenschaft