Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Gesellschaftstheorie - Geschichte - Wirtschafts- / Sozialpolitik Die Wiederaufbaulüge der Bundesrepublik

Oder: Wie sich die Neoliberalen ihre »Argumente« produzieren. Reihe: Texte der RLS Bd. 43 von Jörg Roesler

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Reihe

Texte (Archiv)

Erschienen

März 2008

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Texte 43 der Rosa-Luxemburg-Stiftung

111 Seiten, Broschur, Mit 9 Abbildungen

ISBN 978-3-320-02137-5

 

 

Inhalt

Blick zurück nach vorn?
Die Wiederaufbaulüge
Das marktwirtschaftliche Rezept des »wohlmeinenden Diktators«
Die ersten Wochen nach der Währungs- und Wirtschaftsreform: Gewinner und Verlierer
Aufkommender Unmut und spontane Unruhen
Der Umgang mit dem Unmut in der Bevölkerung
Die »Stuttgarter Vorfälle« vom 28. Oktober 1948
Der limitierte Generalstreik vom 12. November 1948
Erste Reaktionen auf den »heißen Herbst«
Die Einrichtung einer Sozialen Marktwirtschaft als Ausdruck des tatsächlichen Kräfteverhältnisses
Vom Nutzen eines Blicks zurück in die Geschichte
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Chronik der Ereignisse
Genutzte Literatur und Quellen
Der Autor


Blick zurück nach vorn?

Dieses Buch handelt von den Anfängen einer nationalen Wirtschaftsordnung, die unter dem Namen Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik zu einem Begriff, zu einer Marke, zu einer Ikone geworden ist. Die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft ist durch eine Kette von Ereignissen charakterisiert, über die sich wirtschafts- bzw. ordnungspolitische Entwicklungsbrüche realisierten. Zwei dieser Ereignisse sind heute jedermann bekannt und werden immer wieder (gern) beschrieben: die Währungsreform vom Ende Juni 1948 und der mir ihr verbundene Übergang von der Bewirtschaftung, d. h. der Lenkung der Wirtschaft mit Hilfe administrativer Entscheidungen zur Regulierung der Wirtschaft über den Markt. Bei den anderen für die Herausbildung der Sozialen Marktwirtschaft bedeutsamen Ereignissen handelt es sich um Protestaktionen, die auf ihrem Höhepunkt im Oktober/November 1948 in einem Fall sogar zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Militär, Polizei und Demonstrierenden führten, die sogenannten Stuttgarter Vorfälle und im anderen Fall um einen Generalstreik in zwei der drei Westzonen. Auf diese Ereignisse wird in der bisherigen Geschichtsschreibung über die Bundesrepublik, im Unterschied zu Währungs- und zur Wirtschaftsreform, wenig eingegangen. Die »Stuttgarter Vorfälle« werden fast vollständig verschwiegen.

Der Phase der Massenmobilisierung, von mir als »heißer Herbst 1948« bezeichnet, steht im Mittelpunkt der Darstellung, auch wenn sie vergleichsweise kurz war. Sie war eine bewusste Antwort auf die Währungsreform und die damit verbundenen ordnungspolitischen Entscheidungen, insbesondere auf deren sozialpolitischen Konsequenzen. Sie war die Antwort der Bevölkerungsmehrheit auf die vor allem durch Ludwig Erhard getragenen Entscheidungen und auf den sozialen Druck auf die werktätige Bevölkerung, die von ihnen ausging. »Die Massen haben selten in die deutsche Geschichte eingegriffen«, schreibt der US-amerikanische Historiker und Deutschlandkenner Charles Maier. Schon deshalb lohnt es sich, auf die Ereignisse des »heißen Herbstes 1948« mehr als nur en passant einzugehen. Vor allem ist dies aber notwendig, weil die Massenmobilisierung – auch für die deutsche Geschichte nicht gerade typisch – einen Wandel bewirkte. Sie führte zu einer Korrektur der Erhardschen Entscheidungen, weg von der Betonung der freien hin zu einer »sozialverpflichteten«, zur Sozialen Marktwirtschaft. Die Einforderung von Korrekturen der neuen Wirtschaftsverfassung zugunsten des »kleinen Mannes« vollzog sich vielfach spontan. Oft waren die Proteste mit Tumulten verbunden, teilweise auch mit beträchtlicher Gewaltanwendung gegen Sachen und Personen. Charles Maier hat nicht nur vermerkt, dass die Massen in Deutschland selten auf die Straße gingen, er stellt auch – »im Vergleich zu den kollektiven Manifestationen etwa in Frankreich oder Italien« – fest: Wenn der Dialog von der Bevölkerung eingefordert wurde, »dann streitsüchtig und herausfordernd«. Die unheroische, die »hässliche« Seite der Aktionen, mit denen sich die Bevölkerung zu Wort meldete, hat sicher dazu beigetragen, dass man ihnen in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik wenig Platz einräumte. Sie waren kein vorzeigbares Indiz für die Geschichte der Bundesrepublik als »geglückte Demokratie« (Edgar Wolfrum). Das Bemerkenswerteste an den Ereignissen des »heißen Herbstes 1948« sollte aber nicht die Art und Weise sein, in der die Gegensätze zwischen Bevölkerung und Regierenden ausgetragen wurden, sondern die Tatsache, dass die Menschen am Vorabend der Gründung der Bundesrepublik, als sie begannen, gemeinsam zu agieren, einen entscheidenden Einfluss auf ihre eigene Geschichte gewannen. Die Gesellschaft bekam – wohl das einzige Mal in der westdeutschen Geschichte in einem derartigen Maße – Gewicht als eine von den politischen Parteien und Verbänden unabhängige Macht.

Wenn auch die besondere Aufmerksamkeit für die von Ludwig Erhard im Juli 1948 durchgesetzte Wirtschaftsreform in der Geschichte der Bundesrepublik nie erlahmte, so waren die Bezugnahmen der Politiker auf Erhards Tat doch im Verlaufe der Geschichte der Bundesrepublik unterschiedlich stark. In die Schlagzeilen geriet diese Wirtschaftsreform im sechsten Jahrzehnt der Existenz der Bundesrepublik erneut durch die Aktivitäten der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM), einer – wie sie sich selbst charakterisiert – »branchen- und parteiübergreifenden Plattform«, die im Oktober 2000 von Politikern, Wirtschaftsmanagern und Wirtschaftswissenschaftlern aus der Taufe gehoben wurde. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, »das erfolgreiche Modell der Sozialen Marktwirtschaft, aber angepasst an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts«, zu propagieren. Ausgangspunkt für die Gründung der INSM war nach Angaben ihrer Schöpfer die wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik. Diese war bis ins zweite Halbjahr 2006 hinein alles andere als rosig. Ihre Wachstumsraten liegen bis heute deutlich unter denen der Zeit des »Wirtschaftswunders«.

»Zehn Jahre sind wir nur wenig mehr als ein Prozent im Jahr gewachsen«, klagte der Chef des Bundes Deutscher Industrieller (BDI), der wohl mächtigsten deutschen Unternehmerorganisation, in einem 2004 erschienen Buch und nannte die niedrige Wachstumsrate »eines unserer Kernprobleme«. »Wenn es uns gelänge, wieder auf Wachstumsraten von drei Prozent zu kommen und mehr, dann würde sich manches unserer momentanen Probleme von selbst lösen.« Der frühere Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer präzisierte, angesichts der in den Medien lauthals begrüßten, aber real nicht wesentlich höheren Wachstumsraten seit 2006: »Wir brauchen nicht nur für ein oder zwei Jahre, sondern über längere Zeit ein Wachstum, das deutlich über zwei Prozent liegen sollte.«

Doch dauerhaft höheres Wirtschaftswachstum sei unter den gegebenen Bedingungen kaum zu erreichen: »Unser Land«, so das Resümee der »Erinnerungen« von Rogowskis Vorgänger an der Spitze des BDI, Hans-Olaf Henkel, »stagniert seit langem in verkrusteten Strukturen«. Diese hat Thomas Straubhaar, Chef des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, in einem Aufsatz in der »Welt« vom Februar 2007 so beschrieben: »Staatliche Bevormundung ist in zu vielen Bereichen an Stelle des für die Soziale Marktwirtschaft so zentralen Prinzips der individuellen Freiheit getreten. Überall und jederzeit wird in die Marktwirtschaft eingegriffen. Sozialpolitisch motivierte Eingriffe in den Arbeits-, Wohnungs- oder Gesundheitsmarkt setzen den Markt außer Kraft. Die Diskussion um Mindestlöhne ist hierfür das beste Beispiel.« Eine derartige Politik führe zu »hoher staatlicher Steuerbelastung, Kostenexplosionen in den sozialen Sicherungssystemen und einer hohen Arbeitslosigkeit«, alles »Anzeichen eines überforderten Wohlfahrtsstaates«, konstatiert der Steuer- und Finanzexperte der CDU, der wirtschaftskonservative Bundestagsabgeordnete Friedrich Merz 2002 in einer programmatischen Kampfschrift.

Der Wohlfahrtsstaat treibe inzwischen absurde Blüten. Rogowski weiß von Sozialhilfeempfängern zu berichten, die »kurz vor Einführung der Hartz-IV-Gesetze die Ämter mit einer Flut von Anträgen für Einmalleistungen wie Fernseher, Sofas, Schränke, Computer etc. überschwemmten«.

Tietmeyer schließt daraus: »Es besteht … kein Zweifel, dass wir die Sozialleistungsquote bremsen müssen und dass sie bei uns schon sehr hoch ist und tendenziell eher abgesenkt werden muss«. Ein großer Teil der politischen Klasse, von den Vertretern der Unternehmerverbände und rechtskonservativen Christdemokraten bis zum Managerkreis der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, ist wegen dieser »Fehlentwicklungen« der Auffassung, dass das Wirtschafts- und Sozialgefüge der Bundesrepublik erneut überdacht werden müsse. »Angesichts des Wildwuchses von sich überschneidenden und oft widersprechenden Regelungen brauchen wir wieder ein klares ordnungspolitisches Denken«, mahnt Merz. »Erst durch Reformen werden wir zukunftsfähig. … Notwendig ist deswegen mehr Deregulierung, Anreize zur Aufnahme von Arbeit statt Arbeitslosenhilfe, weniger Bürokratie und Belastung des Mittelstandes.«

Derartigen Reformen würde die Bevölkerung keineswegs ablehnend gegenüberstehen – im Gegenteil: »Viele Bürger wollen nicht mehr den paternalistischen Staat und die bürokratische Betreuung durch wohlfahrtsstaatliche Fürsorge«, weiß Merz. Man müsse dieser Bereitschaft nur »ein klares ordnungspolitisches Ziel« geben und die Gewissheit vermitteln, dass auch und gerade Einschnitte in ein zu dicht gestricktes Sozialnetz, das Eigeninitiative ersticke, wieder zu steigenden wirtschaftlichen Wachstumsraten führen wird. Verwiesen wird von den selbsternannten Reformern gern auf Länder, in denen auf diese Weise langjährige Wachstumsschwächen überwunden worden seien – auf Irland, auf Schweden und auf Thatchers Großbritannien. Öfter jedoch als aufs Ausland wird auf ein Paradebeispiel in der Geschichte des eigenen Landes verwiesen, auf die Zeit des Wirtschaftswunders. Michael von Prollius, Konsultant einer großen deutschen Unternehmensberatung und Verfasser einer 2006 publizierten »Deutschen Wirtschaftsgeschichte nach 1945«, fordert eine Reform, die »einen Urknall auszulösen vermag, der an die ›Wirtschaftswunder‹-Zeit anknüpft«. Damals, in den 1950er Jahren, wird in einem im Auftrage der INSM verfassten Artikel zum »deutschen Wirtschaftswunder« erinnert, wuchs die Volkswirtschaft mit durchschnittlich sieben Prozent pro Jahr. »Einen solchen Entwicklungsschub gab es in Deutschland bis heute nie wieder.« Es müssten ja nicht sieben Prozent sein wie in den »stürmischen Jahren aufholenden Wachstums, wie wir sie in Westdeutschland nach dem Krieg erlebten«, attestiert Tietmeyer. Aber »zwei bis drei Prozent« halte er in Deutschland auf mittlere Sicht für erreichbar, wenn ernsthaft und zielgerichtet Reformen durchgeführt werden. Das Rezept dafür brauche nicht erst entwickelt werden, es existiere bereits.

»Wir glauben«, heißt es auf der programmatischen Internetseite des INSM, »dass der Weg in die Zukunft sich an drei Idealen orientiert, die schon Ludwig Erhard hochgehalten hat: Eigeninitiative, Leistungsbereitschaft und Wettbewerb.« An die »marktwirtschaftliche Radikalkur«, die Erhard, »der Wirtschaftsfachmann mit großen Visionen … den Westdeutschen verordnete, müsse heute wieder angeknüpft werden«.


Freilich sei es nicht mit der Rückkehr zum ordnungspolitisch richtigen Rezept der Erneuerung der Marktwirtschaft für den Wirtschaftsaufschwung allein getan. Dazu wäre 1948 die Bereitschaft der Bevölkerung gekommen, anzupacken. »Es war der Fleiß der Arbeitnehmer«, auf den sich Erhard habe stützen können. Der Wille anzupacken sei wieder gefragt. »Mit Bequemlichkeit erreicht man keine Höchstleistungen«, weiß Rogowski. Dem notwendigen Arbeitsenthusiasmus könne aufgeholfen werden, meint Tietmeyer: »Neben einer stärker leistungsorientierten Entlohnung muss es in Einzelfällen wohl auch einen stärkeren Druck geben.« Der Erfolg werde nicht ausbleiben. Mit höheren wirtschaftlichen Wachstumsraten würde es auch allen wieder besser gehen. Schließlich hat Ludwig Erhard, »im Unterschied zu Marx und Engels auch in der real-existierenden Wirklichkeit Wohlstand für alle wahr gemacht«.

Um herauszufinden, ob es vor 60 Jahren wirklich so war, wie die INSM behauptet, dass es gewesen sei, wird in diesem Buch vor allem der Zeitraum zwischen dem Frühjahr 1948 und Anfang 1950 unter ordnungs-, wirtschafts- und sozialpolitischen Aspekten behandelt. 1948 und 1949 sind in der deutschen Nachkriegsgeschichte aber auch aus anderer Perspektive Schlüsseljahre. Während dieser beiden Jahre wurden die entscheidenden Schritte zur Teilung Deutschlands unternommen, die Gründung beider deutscher Staaten vorbereitet und realisiert. Danach war der Traum von der Wiederherstellung der deutschen Einheit auf Jahrzehnte ausgeträumt. Diese politischen Ereignisse sind in das Buch nur  insoweit einbezogen worden, als sie die Auseinandersetzungen um das Wirtschaftssystem Westdeutschlands unmittelbar berührt haben. In der diesem Buch beigefügten Chronologie ist der Parallelität der Ereignisse Rechnung getragen worden, in dem auch (gesondert gekennzeichnete) Ereignisse allgemein politischen Charakters bzw. Entwicklungen in der SBZ/DDR aufgeführt werden. Das ist m. E. unerlässlich, um das Umfeld anzudeuten, in dem die für die Herausbildung der Sozialen Marktwirtschaft wichtigen Entscheidungen von den Akteuren getroffen wurden.