Publikation Geschichte - Erinnerungspolitik / Antifaschismus Horst Nalewski: Deutsche Dichterinnen jüdischen Schicksals

Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar, Nelly Sachs.

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Reihe

Buch/ Broschur

Herausgeber*innen

Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen ,

Erschienen

Januar 2008

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Inhalt:

  • Vorwort (S. 6-10)
  • Else Lasker-Schüler (S. 13-77)
  • Gertrud Kolmar (S. 79-143)
  • Nelly Sachs (S. 145-227)
  • Zum Autor (S. 229)

Vorwort:
Im westfälischen Elberfeld geboren, Elisabeth Schüler. In Berlin am Jahrhundertende zur Welt gekommen, Leonie Sachs, Gertrud Chodziesner. Ihnen wurde die Muttersprache zur Dichtersprache. Unverwechselbar.
Vereinsamt, fremd in Jerusalem gestorben, eine aus Deutschland VERSCHEUCHTE, Else Lasker-Schüler. In Auschwitz ums Leben gebracht, als Gertrud Sara Chodziesner. Hochgeehrt, dennoch am Ende weltverloren: Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne, Nelly Sachs in Stockholm zu Grabe getragen.
Deutsche Dichterinnen des 20. Jahrhunderts.
Doch da ist, auf uns gekommen, ein einzigartiges Werk: das Gedicht. Es muss uns angehen – um des Wunders deutscher Sprache willen. Als Rainer Maria Rilke einen schwedischen Freund warnte, sich in einer anderen als der ihm angestammten Sprache dichtend zu versuchen, schrieb er: „Ich bin zu der Einsicht gekommen, daß man seine Kraft daran setzen muß, in der eigenen Sprache alles zu finden, mit ihr alles zu sagen: denn sie, mit der wir bis tief ins Unbewußte hinein zusammenhängen, und nur sie kann uns, wenn wir uns um sie bemühen, schließlich die Möglichkeit geben, ganz präcise und genau und bestimmt bis in den Nachklang jedes Nachklangs hinein, unseres Erlebens Endgültigkeit mit ihr darzustellen.”
In der Begründung für die Verleihung des Kleist-Preises an Else Lasker-Schüler, November 1932, ist die Rede von „Versen, die den ewiggültigen Schöpfungen unserer größten deutschen Meister ebenbürtig sind”; und wenige Jahre zuvor hatte ein bedeutender Kritiker den Gedichten von Gertrud Kolmar den Weg eröffnet mit den Worten: “... um das Ohr des Lesers Tönen zu gewinnen, wie sie ... seit Annette von Droste nicht mehr vernommen worden sind.” Und inniger ist nicht gesagt, wie Sprache in Dichtung eingeht, wenn Nelly Sachs in einem späten Gedicht festhält: Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.
Als Rainer Maria Rilke Mitte der zwanziger Jahre von deutsch-nationalen, präfaschistischen Kreisen öffentlich angegriffen wurde: In Paris „herumzuflanieren” und „nur dort Unglück und Einsamkeit auf den Gesichtern der Menschen gefunden”, gar noch Verse in französischer Sprache veröffentlicht zu haben, da meinte man, „sich solche ästhetische Duselei merken” zu müssen. Rilke antwortete mit Entschiedenheit: „Welch eine Unsinnigkeit, ich hätte behauptet, kein deutscher Dichter zu sein. Die deutsche Sprache wurde mir nicht als Fremdes gegeben; sie wirkt aus mir, sie spricht aus meinem Wesen ... Ich bin, was ich leiste. Und ist es denn nach allem, was ich in deutscher Sprache veröffentlicht habe, überhaupt nötig, meine Zugehörigkeit zu deutscher Dichtung zu betonen?”
Doch eben dieses Prädikat, „deutsche Dichterinnen” zu sein, glaubte man gleich zu Beginn jenes Dritten Reiches ihnen, der Lasker-Schüler, der Kolmar, der Sachs, absprechen zu können. Der „Völkische Beobachter” konstatierte: „... für uns ist, was immer eine Jüdin auch schreibt, vor allem keine deutsche Kunst!” Gertrud Kolmars noch endlich in einem kleinen Berliner Verlag erschienener Gedichtband DIE FRAU UND DIE TIERE, September 1938, wurde nach dem November-Pogrom 1938 sofort eingestampft. Und Nelly Sachs wird es gewusst haben, was Nazi-Studenten als Thesen in der Berliner Universität 1933 verteilten: „Der Jude kann nur jüdisch denken, schreibt er deutsch dann lügt er!” Dem entgegnete der von ihr verehrte und gehörte Professor Max Herrmann zu Beginn seiner letzten Vorlesung im Sommer 1933: „Ich schreibe deutsch, ich denke deutsch, ich fühle deutsch und ich lüge nicht!” Das Gesetz verwehrte ihm seine Berufung; sein Leben endete 1942 in dem KZ Theresienstadt. Jüdisches Schicksal. – Dürfen wir ein solches Wort setzen?
Nicht für jenes Jahrzwölft. Da waltete kein Schicksal. Da waltete ein mörderischer Wahn. Der Wahn einer Ideologie, die sich zum Ziel gesetzt, allein deutschem Herrenmenschentum Raum in diesem Land und in der Welt zu verschaffen und – auszurotten, was dem im Wege stehen könnte. In einem Ausmaß wie noch nie zuvor in der Weltgeschichte traf solcher Wahn die Judenheit, in Deutschland und schließlich in dem von Deutschen besetzten Europa. Der Holocaust.
Wir wissen um die lange, lange Vorgeschichte dieser gedachten Auslöschung; den Antisemitismus des frühen 20. und des 19. Jahrhunderts und die Judenverfolgung, die Judenpogrome über die Jahrhunderte seit dem christlichen Mittelalter. Im Namen des Christentums in ganz Europa. Diese lange, lange Leidensgeschichte, schon im Alten Testament beschrieben, geklagt, prophezeit, hat sich, um eines Überlebens willen, so muss es uns scheinen, diesem Volk gänzlich verinnerlicht. In Demut und Gott-Ergebenheit, angenommen als eine Prüfung. Jüdischer Glaube. Erst die unausweichlich existentielle Bedrohung durch den deutschen Faschismus zwang so viele Juden, und eben auch diese Dichterinnen, in das Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zum Judentum.
Von allem Anfang an hatten sie geglaubt, dem Deutschtum zugehörig zu sein: seiner Sprache, seiner Kultur, seiner Landschaft. Nelly Sachs nannte sich mit Selbstverständlichkeit eine junge Deutsche, als sie 1921 ihr erstes Buch der bewunderten schwedischen Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf übersandte. Und Else Lasker-Schüler widmete ihren letzten Gedichtband, MEIN BLAUES KLAVIER, 1943, aus dem fernen Palästina Meinen unvergeßlichen Freunden und Freundinnen in den Städten Deutschlands. In Treue. Allein der tiefe Riss zu dem geglaubten Herkommen fand nun seinen Ausdruck in dem ergreifenden Bekenntnis-Gedicht von Gertrud Kolmar, WIR JUDEN, entstanden im Herbst 1933, dem Jahr der Machtergreifung Hitlers. Bekenntnis zu einer Leidensgemeinschaft und einer nicht aufgebbaren Hoffnung. Leid und Hoffnung, über Jahrtausende, diesem einen Volk eigen, lassen uns nun vielleicht doch von einem „Schicksal” sprechen, wenn wir es im Goetheschen Verständnis „Das Unerforschliche” nennen. Ihm unterwarf sich Nelly Sachs, im Anblick des Holocaust dieses 20. Jahrhunderts, in antwortloser Frage:

Warum die schwarze Antwort des Hasses
auf dein Dasein ,Israel?

Wie weit dein Weg von der Segnung
den Äon der Tränen entlang
bis zu der Wegbiegung
da du in Asche gefallen

Warum die schwarze Antwort des Hasses
auf dein Dasein
Israel?


Die Frage ist an uns gerichtet; sie ist an die Menschheit gerichtet.

 

 

Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V. 2008. 229 S.

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