Publikation Geschlechterverhältnisse - Rassismus / Neonazismus - Staat / Demokratie »Was ein rechter Mann ist ...«

Männlichkeiten im Rechtsextremismus. RLS Texte 68 von Robert Claus, Esther Lehnert, Yves Müller (Hrsg.).

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Reihe

Texte (Archiv)

Autor*innen

Esther Lehnert, Yves Müller,

Erschienen

September 2010

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Geschlecht, Sexualität und Familie stellen zentrale Kategorien für volksgemeinschaftliche Politik und deren öffentliche Inszenierung dar. Mehr noch: Geschlechter- und Familienbilder sind konstitutive Elemente rechtsextremer Phänomene, doch in der Forschung ein bislang nahezu unbeachtetes Themenfeld. Wenn sich Studien überhaupt mit der Kategorie Geschlecht auseinandersetzten, dann wurden meist Funktionen, Karrieren und Rollen von Frauen innerhalb rechtsextremer Strukturen fokussiert. Wir wollen mit diesem Sammelband dem Ansatz des geschlechtersensiblen Blickes auf Rechtsextremismus folgen, diesen ausbauen und erweitern. Die Kategorie Männlichkeit betrachten wir als konstitutiv für rechtsextreme Phänomene, ihr ideologisches Gerüst, ihr Handeln, ihre Agitation und Mobilisierung.

Ein Beispiel vorweg: Die Nationaldemokratische Partei Deutschland (NPD) ließ es sich nicht nehmen zur Wahl des Bundespräsidenten 2010 einen eigenen Kandidaten aufzustellen. Trotz offensichtlicher Chancenlosigkeit, ging es der Partei um die Möglichkeit, sich als volksnah zu inszenieren. Dementsprechend stellte sich ihr Kandidat Frank Rennicke in der Deutschen Stimme (DS) vom Juli 2010 vor: »Als gelernter Elektro-Installateur, Liedermacher und sechsfacher Familienvater darf ich mit gutem Gewissen behaupten, hier eher ein Mann des Volkes zu sein«1. In seiner Selbstdarstellung bekräftigt er, »als auf dem Kurs Gebliebener (...) dem Sturm getrotzt zu haben, wo andere im Winde schon wehten«, als »ein Mann (...), manchmal unbequem, aber ehrlich. Kein Prunk, keine Pracht, einfach frank/ Frank und frei.« Zentrale Werte männlicher Identität dienen als Wahlwerbung: erlernter Handwerksberuf, Familie, Bodenständigkeit, Härte und Durchsetzungsfähigkeit. All diese werden in dem Interview mehrmals beschworen. Vieles ist an dieser Szene ablesbar, stellt sie doch ein anschauliches Beispiel dar, um die Melange aus männlicher Selbstrepräsentation, völkischen Familien und Geschlechterbildern sowie neonationalsozialistischer Politrhetorik zu betrachten. Allein die Tatsache, dass Rennicke sich mit der Zahl seiner Nachgeborenen vorstellt, verweist auf die patriarchale Verbindung von Zeugung und Männlichkeit. Zwar ist diese Art der Vorstellung auch in vielen nicht-rechtsextremen Organisationen und Vereinen Usus und gilt dort als Zeichen solider Bürgerlichkeit. Doch vor dem Hintergrund, dass völkische Familienpolitik im Programm der NPD an Bedeutung gewonnen hat, kommt dieser Geste eine weiter reichende Bedeutung zu. Sie ist Ausdruck jener medial inszenierten »Verbürgerlichung« der NPD, die versucht ihre völkischen Wurzeln zu verdecken und dabei trotz allem das eigene Klientel nicht zu vergrätzen. Je mehr Nachwuchs desto männlicher, so die Gleichung. Die Anzahl der Nachkommen, ein als solide anerkannter Beruf sowie der Schutz der eigenen Familie sind unmittelbar verknüpft mit dem öffentlichen Ansehen innerhalb der eigenen »Reihen«. Frank Rennicke weiß um diese Prestigeträchtigkeit und die damit verbundene, an ihn gerichtete Erwartungshaltung. Die Zeitung der NPD versteht es, ihren Kandidaten als volksnahen Gegenentwurf zum politischen Establishment darzustellen, der seinen Weg »von unten« gemacht habe. Er sei sich seiner (männlichen) Pflicht an »Volk und Vaterland« bewusst, ist die Botschaft. Doch die Kategorie Männlichkeit hat in der deutschsprachigen Rechtsextremismusforschung einen ebenso geringen Stellenwert inne wie in vielen weiteren Forschungsbereichen auch. Während die Rechtsextremismusforschung etliche Studien hervorbringt, die sowohl einzelne Organisationen als auch grundsätzliche Einstellungsmuster untersucht, gerät die Kategorie Geschlecht in diesem Zusammenhang meist aus dem Blick. Dabei ist das Phänomen deutlich präsent: Rechtsextreme Kameradschaften und Organisationszusammenhänge gelten als Männerbünde schlechthin. Das öffentliche Bild und der mediale Blick über rechtsextreme Aktivitäten sind bestimmt vom stereotypisierten männlichen Schläger. Laut polizeilicher Statistiken werden Gewalttaten zu etwa 95 Prozent von Männern begangen. So gilt die enorme Präsenz von Männern in rechtsextremen Zusammenhängen als selbstverständlich – ein paradoxer, aber möglicher Grund, weshalb sie so selten reflektiert wird. Die Kategorie Männlichkeit bleibt in der Regel außen vor und männliches Handeln geschlechtlich unmarkiert. Dies bildet eine große Leerstelle in der bisherigen Geschichte der bundesdeutschen Rechtsextremismusforschung, zu deren Schließung wir mit diesem Band beitragen wollen. Denn ohne die Berücksichtigung der Kategorien Geschlecht und Männlichkeit können rechtsextreme Phänomene nicht vollends verstanden werden.

Doch wie konstitutiv ist die Kategorie Männlichkeit für rechtsextreme Phänomene? Wie werden Männlichkeiten im Rechtsextremismus konstruiert und diskursiviert? Welchen Stellenwert hat die Kategorie Männlichkeit in der politischen Agitation? Inwiefern ist Männlichkeit als Bias programmatischer Grundsätze zu sehen? Kann von einer genuin rechtsextremen Männlichkeit gesprochen werden? Wie ist die permanente Krisenrhetorik zu deuten, die wir sowohl im Rechtsextremismus als auch im Männlichkeitsbild finden? [...]


Beiträge von: Kurt Möller, Fabian Virchow, Andreas Heilmann, Yves Müller, Esther Lehnert, Ulrich Overdieck, Robert Claus, Juliane Lang, Andreas Speit, Kristin Witte, Karsten Schuldt, Eva Kreisky, Georg Spitaler, Paula Diehl, Thomas Gesterkamp, Olaf Stuve, Marc Brandt.

Robert Claus, Esther Lehnert, Yves Müller (Hrsg.):
»Was ein rechter Mann ist ...« Männlichkeiten im Rechtsextremismus
(Reihe: Texte / Rosa-Luxemburg-Stiftung; Bd. 68)
Berlin: Karl Dietz Verlag 2010
ISBN 978-3-320-02241-9