Publikation Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - Rassismus / Neonazismus Formen des Ähnlichkeitswettbewerbs nutzen nur dem Original

Wahlnachtbericht und erste Analyse der Wahl zum Landtag von Mecklenburg-Vorpommern am 4. September 2016

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Online-Publ.

Erschienen

September 2016

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Die AfD als Gewinnerin der Wahl zieht in den neunten Landtag ein, wird zweitstärkste Kraft, überholt erstmals die Union, verfehlt aber das Ziel, stärkste Partei zu werden. Auch bleibt sie deutlich unter dem Ergebnis in Sachsen-Anhalt.

Das Ergebnis im Überblick

Die SPD verliert über 5 Prozentpunkte, bleibt dank des Ministerpräsidenten aber deutlich stärkste Partei und kann das Land weiterregieren.

DIE LINKE verfehlt nahezu alle Wahlziele, erreicht ihr bisher schlechtestes Ergebnis im Land und stellt künftig die kleinste Fraktion. Sie verlor rund 19.000 Zweitstimmen oder 15,4 % ihrer Wähler und Wählerinnen. Allein das Ziel Regierungsbeteiligung wäre rechnerisch trotz der Verluste möglich.

 

SPD

CDU

DIE LINKE

Grüne

AfD

NPD

FDP

Stimmenanteil

30,6%

19,0%

13,2%

4,8%

20,8%

3,0%

3,0%

Veränderung

-5,0%

-4,0%

-5,2%

3,9%

20,8%

-3,0%

0,2%

Mandate

26

16

11

0

18

0

0

Veränderung

-1

-2

-3

-7

18

-5

0

Ähnlich gebeutelt geht die Union aus den Wahlen hervor. Von der AfD im «Merkelland» auf Platz drei verwiesen worden zu sein ist eine Niederlage von hoher politischer Symbolkraft.

Die bisherige Regierungskoalition von SPD und CDU verliert drei Mandate, hat mit 42 Mandaten aber eine komfortable Mehrheit. Auch SPD und LINKE hätten mit zusammen 37 Mandaten eine Mehrheit gegenüber den 34 Mandaten von AfD und Union.

Die Wahlbeteiligung lag mit 61,6% deutlich über den 51,5 % der letzten Landtagswahl, aber ähnlich deutlich noch unter der Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl (65,3 %) wie bei den drei Landtagswahlen im März. Es ist also unzutreffend, von einem Anstieg der Wahlbeteiligung zu sprechen, ohne dabei den Bezug zur letzten Landtagswahl zu nennen.

Eine erste Bewertung

Mecklenburg-Vorpommern ist keine Insel, sondern ein fester Bestandteil der bundesdeutschen Gesellschaft und ihres politischen Systems. Bereits bei der Bundestagswahl 2013 und der Wahl zum Europäischen Parlament 2014 kündigte sich auch hier wie in den anderen Bundesländern der Umbruch im Parteiensystem an. Es gab keinen Anlass, von dieser Landtagswahl eine Trendwende zu erwarten. Das Ergebnis liegt im Trend der vorherigen Wahlausgänge und bestätigt die These, dass das Parteiensystem einen tiefen Umbruch erlebt und eine politische Neuorientierung ganzer Wählerschichten, womöglich sozialer Milieus stattfindet. Es ist davon auszugehen, dass diese Dynamik anhalten wird und die Phase der Neuordnung der Verhältnisse zwischen den Parteien erst noch kommen wird. Jedenfalls wurden mit dieser Wahl alle Hoffnungen enttäuscht, die Erfolgswelle der AfD würde rasch brechen, wenn die Zahl der ankommenden Geflüchteten zurückgehe und die Notunterkünfte nach und nach aufgelöst werden würden.

Keine der parlamentarischen Parteien konnte bisher eine erfolgreiche Strategie um Umgang mit der AfD entwickeln. Die Gewinne der AfD entsprechen dem Muster anderer Landtagswahlen: Gewinne von allen Parteien, insbesondere auch den Klein-Parteien, Mobilisierung von bisherigen Nichtwählern bei Landtagswahlen durch bundespolitische Themen. Als gescheitert betrachtet werden müssen die in allen Parteien vertretenen Strategien, die Abwanderung von Bürgerinnen und Bürgern durch Aufgreifen der Tonlage, der Wortwahl und der Inhalte der AfD stoppen zu können. Anbiederung und andere Formen des Ähnlichkeitswettbewerbs nutzen nur dem Original.

Zu den bestätigten Phänomenen dieser Umbruchszeit zählt des Weiteren eine wachsende Orientierung an der regierenden Persönlichkeit. In unübersichtlichen Zeiten zählt das Vertrauen in eine Person umso mehr, zumindest nach einer ersten Regierungsperiode zog die Person in allen vier Wahlen die regierende Partei mit und nicht umgekehrt.

Die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern war erneut eine Landtagswahl, in der bundespolitische Themen, die die Zukunft des ganzen Landes betreffen, dominierten. Entsprechend lag die Wahlbeteiligung auch in Mecklenburg-Vorpommern deutlich über dem Niveau einer normalen Landtagswahl, blieb aber unter dem Niveau von Bundestagswahlen. Ob die AfD also tatsächlich politikferne und notorische Nichtwähler mobilisiert, lässt sich nicht belegen, wohl aber, dass sie bundespolitisch interessierte Bürgerinnen und Bürger, die die letzte Landtagswahl mieden, mobilisiert. Da die anderen Parteien dieses bundespolitische Spielfeld eher mieden und auf Landesthemen orientierten, entstand eine Schieflage zu Gunsten der AfD in einem Teil des Elektorats.

Die Krise der Flüchtlingspolitik, die sowohl durch die hohe Zahl der Geflüchteten im vergangenen Jahr als auch durch Merkels «Wir schaffen das» und Grenzöffnung angesichts der humanitären Notlage offensichtlich wurde, wirkte wie ein Katalysator, an dem sich eine Vielzahl von Unzufriedenheiten mit der Regierungspolitik entzündeten. Im Kern handelt es sich um Fragen der politisch und gesellschaftlich dominierenden Lebensführungsmodelle und des Status, des Platzes in der gesellschaftlichen Hierarchie, um Fragen also nach der eigenen Bedeutung und dem Stellenwert für Politik und Regierung. Die Zuwanderung, insbesondere die Zuwanderung aus Weltregionen, in denen die islamische Religion dominant ist, radikalisert, was seit Christian Wulff's «Der Islam gehört zu Deutschland» virulent ist und auf Resonanz hofft: Wohin steuert die Politik dieses Land? Wo ist mein Platz in diesem Land, in der Politik? Nach welchen Regeln funktioniert das Zusammenleben? Spätestens seit dem 11.09.2001 dient «der Islam» dafür als Projektionsfläche, als äußerer Feind, gegen den die innere Formierung zur Wertegemeinschaft sich richtet. Es wäre aber falsch, allein auf die aufgeworfenen Fragen nach der Zukunft des Landes abzustellen, «Besorgnisse» und «Ängste» ernst zu nehmen. Es sind auch – ausdrücklich oder indirekt – Antworten im Spiel. Statt des Merkel’schen «Wir schaffen das» hätte sie auch sagen können, dass man sich von weinenden Kinderaugen nicht erpressen lassen könne (so die österreichische Innenministerin) und das dosierte Herzlosigkeit und Brutalität an der Grenze besser sei als undosierte Aufnahmepolitik.[1] Das jedenfalls ist die Konsequenz der AfD-Positionen: die Probleme der Welt, die der Exportweltmeister in Teilen mit verursacht, vom Land durch rigide Abschottung fernhalten, kultureller, nationaler und sozialer Protektionismus gegen die globale Verflechtungen.

Die AfD nährt sich von allen Parteien. Unter den Anhängern aller Parteien fanden und finden sich Bürger und Bürgerinnen, die die Verteidigung von Etabliertenvorrechten für wichtiger halten als das Grundgesetz, die als demokratisch nur durchgehen lassen, was ihren Wünschen entspricht und die vermeintliches «Parteiengezänk» durch autoritäre Führung ersetzen wollen. Sie wurden angezogen vom neuen politischen Protest-Magneten AfD. Ursache dafür ist nicht allein die Flüchtlingspolitik. Die Flüchtlingspolitik konnte anders als 1991/92 diese Wirkung entfalten, weil mit der AfD bereits an anderen Fragen (Bankenrettungspolitik) eine Partei entstanden war, die sich als politische Sammlungsbewegung anbot. Denn die Frage nach der Zukunft des Landes ist immer auch die Frage nach der Zukunft der eigenen Region, des Dorfes, der Kleinstadt, des Berufes und ob man mit seinen Vorstellungen vom richtigen Leben politische Resonanz erhält.

Die Umbrüche im Parteiensystem betreffen zuallererst die Union. Mit der AfD beginnt sich eine Partei rechts von ihr zu etablieren. Erstmals wird sie in Mecklenburg-Vorpommern von der AfD überholt und erzielt ihr bisher schlechtestes Ergebnis. Die Hinweise, dass dies ausgerechnet im Stammland der Kanzlerin geschieht, deuten auf harte Auseinandersetzungen um den künftigen Kurs hin, die bevorstehen. Mit der Strategie der asymmetrischen Demobilisierung hat Merkel der SPD den weiteren Weg in der Mitte verbaut, die Besetzung moderner Themen hat aber einen Teil der traditionellen konservativen Wählerschichten entfremdet und politisch entheimatet. Zu erwarten ist, dass die Union am Ende mit einer Wertedebatte den Konservatismus neu beleben wird. Auf jeden Fall scheinen die Zeiten der «alternativlosen» «physikalischen Politik» dem Ende entgegen zu gehen. Nicht zuletzt auch Debatten um die außenpolitische Haltung zu Putin, vor allem Erdogan deuten darauf hin, dass Werte, Haltung, Ideologie und Moral wieder eine größere Rolle in der politischen Kommunikation spielen werden.

Zu den großen Verlierern des Wahlabends zählt erneut DIE LINKE. Das Ergebnis war mit Abstand des schlechteste bei Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern. Sie stellt zukünftig die kleinste Fraktion im Landtag, wenn es dabei bleibt, dass die Grünen nicht vertreten sind. Das Ergebnis liegt im Trend der vorherigen Wahlergebnisse. Es wird sich trefflich darüber streiten lassen, ob es daran lag, dass die Partei im Wahlkampf zu viel oder zu wenig Landespolitik herausgestellt habe, zu viel oder zu wenig Bundespolitik, Gestaltungswillen oder Protesthaltung. Zusammen mit den SPD-Wählern (21 %) nannten die LINKE-Wähler (22 %)die Bundespolitik deutlich seltener als wahlentscheidend denn die Wähler anderer Parteien (Spitzenreiter: AfD-Wähler mit 60 %). Tatsächlich wäre es vielleicht an der Zeit eine andere Frage zu stellen, eine andere strategische Hypothese zu prüfen: Offensichtlich ist die Partei nicht mehr die erste Adresse für Proteststimmen wie bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009. Bereits bei der Wahl 2013 deutet sich an, dass die AfD diese Position einnehmen könnte. Proteststimmen sind Stimmen gegen etwas. Sie suchen sich die Partei, deren Erfolg am meisten Erregung und Aufsehen in den Medien und bei den anderen Parteien verspricht. Parteien, die als Projektionsfläche für verschiedenste Proteststimmen dienen, haben ein bestimmtes Zeitfenster zur Verfügung, um diese Proteststimmen inhaltlich an sich zu binden, aus dem Protest gegen etwas einen «politischen Willen», ein politisches Anliegen zu formen, politisch den Schritt von Zorn, Verbitterung, Ablehnung zu politischem Handeln für Veränderung erfolgreich zu vollziehen. Gelingt dies nicht, zieht dieser Protest weiter. Insofern wären die Wahlergebnisse eine Konsequenz von Versäumnissen und von Scheitern und die Diskussion um die Positionierung im und nach den Umbrüchen im Parteiensystem neu zu stellen.[2] Helmut Holter führte kurz vor den Wahlen an, man sei gegen die (von der AfD geschaffenen) «Stimmung» nicht durchgedrungen. Wenn sich Linke gegen rechte Stimmungen nicht behaupten können, ist das Problem womöglich schon mehr als «ernsthaft» (Dietmar Bartsch).

Die SPD kann erneut dank des Ansehens eines Ministerpräsidenten eine Landtagswahl trotz Verlusten von über 5% eine Wahl gewinnen. Erwin Sellering kann mit der Union weiter regieren, was von einer Mehrheit der Befragten im Land bevorzugt wird. Dieser relative Erfolg der SPD geht vor allem auf die Landespolitik zurück, zumindest entschied wie bei der Linkspartei nur gut ein Fünftel der Wähler sich aus bundespolitischen Gründen für die SPD. Für die Bundes-SPD bedeutet das lediglich, dass der Parteivorsitzende keine Niederlage zu verantworten hat, denn es gewann wohl mehr die Person als die Partei.

Die Grünen schaffen erstmals wieder nicht den Sprung in einen Landtag und sind damit nicht mehr in allen Landesparlamenten vertreten. Bundespolitische Weiterungen sind nicht zu erwarten.

Die FDP bleibt im Nordosten außerparlamentarisch, das ist ein kleiner Rückschlag mit Blick auf die Bundestagswahl. Aber entscheidend für die Aussichten einer Rückkehr der FDP in den Deutschen Bundestag wird die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Frühjahr.

Die NPD ist nicht mehr im Landtag vertreten. Allerdings ist das weniger ein Erfolg der anderen bisherigen Landtagsparteien, vielmehr hat die Vereinnahmungsstrategie der AfD der NPD die notwendigen Wähler abspenstig gemacht.



[1] So formulierte zum Jahrestag des Satzes Heribert Prantl die mögliche Alternative. Zum Hintergrund des Satzes hält er fest: «Der kleine Satz war eine Reaktion auf pöbelhafte Beleidigungen gegen die Kanzlerin im sächsischen Heidenau. Er war eine Reaktion auf das Entsetzen vom 27. August, als auf der österreichischen Autobahn A 4 bei Potzneusiedl ein Lastwagen voller Leichen entdeckt wurde. Er war eine Reaktion auf das Massensterben im Mittelmeer.» Heribert Prantl: «Wir schaffen das» ist die Aufgabe des 21. Jahrhunderts; in: Süddeutsche Zeitung, 03.09.2016, S. 4.

 

[2] Siehe hierzu auch: Kahrs Horst 2016 Die LINKE und die enthemmte Mitte und hier: Kahrs Horst 2016 Von der Linkspartei zur AfD und hier: 2016-03-24 Ka Sozialismus Zäsur Parteiensystem