Aktuelle Nachrichten https://www.rosalux.de/ Hier finden Sie unsere aktuellen Nachrichten. de Copyright Tue, 23 Apr 2024 22:18:09 +0200 Tue, 23 Apr 2024 22:18:09 +0200 TYPO3 Aktuelle Nachrichten https://www.rosalux.de/fileadmin/sys/resources/images/dist/logos/logo_rss.jpg https://www.rosalux.de/ 144 109 Hier finden Sie unsere aktuellen Nachrichten. news-45259 Sat, 17 Aug 2024 16:53:00 +0200 @rosalux_klima auf Instagram folgen https://www.instagram.com/rosalux_klima/ news-51927 Tue, 23 Apr 2024 14:01:54 +0200 Worum geht es im Konflikt zwischen Venezuela und Guyana? https://www.rosalux.de/news/id/51927 Der Streit um das Esequibo-Gebiet hat auch mit venezolanischer Innenpolitik zu tun Anfang April erschien die venezolanische Vizepräsidentin, Delcy Rodríguez, vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH). Dort reichte sie ein Dokument ein, das den Anspruch Venezuelas auf den sogenannten Esequibo-Streifen untermauert, den das Nachbarland Guyana ebenfalls erhebt. Seit 2018 wird der Konflikt in Den Haag verhandelt. Doch die venezolanische Regierung hat wiederholt klargestellt, dass sie die Zuständigkeit des IGH nicht anerkennt. Stattdessen schafft sie seit Dezember vergangenen Jahres die Grundlagen, um das völkerrechtlich umstrittene Gebiet offiziell als Teil Venezuelas einzugliedern. Praktisch zeitgleich zu der letzten Sitzung des IGH am 8. April veröffentlichte das venezolanische Amtsblatt ein «Gesetz zur Verteidigung des Esequibo», das die venezolanische Nationalversammlung wenige Tage zuvor in zweiter Lesung verabschiedet hatte. Dieses schafft den venezolanischen Bundesstaat «Guayana Esequiba», der bis zur endgültigen Klärung des Sachverhaltes zunächst von Caracas aus verwaltet werden soll.

Mit Ausnahme einer Flussinsel kontrolliert aber Guyana das dünn besiedelte Esequibo-Gebiet, das mit rund 160.000 Quadratkilometern knapp halb so groß wie die Bundesrepublik ist. In dem einzigen englischsprachigen Land Südamerikas, das zu den ärmsten des Kontinents zählt, leben gerade einmal 800.000 Menschen. Das Gebiet westlich des Esequibo-Flusses macht etwa zwei Drittel von Guyanas Staatsgebiet aus. In der Region leben mindestens neun indigene Gruppen, von denen sich mehrere auf beiden Seiten der Grenze bewegen. Zudem sind Goldsucher aus Brasilien und Venezuela in dem rohstoffreichen Gebiet aktiv.

Tobias Lambert arbeitet als freier Autor, Redakteur und Übersetzer zu Lateinamerika. Seit Jahren beschäftigt er sich intensiv mit Venezuela.

Die knapp 130.000 Einwohner*innen des Esequibo spielen in dem alten Konflikt, der tief in die Vergangenheit zurückreicht, bislang kaum eine Rolle. Im 18. Jahrhundert zählte Spanien das Gebiet zu seinem Kolonialreich. Nach der Unabhängigkeit Venezuelas im Jahre 1811 wurde der Esequibo daher zunächst als venezolanisches Gebiet ausgewiesen.

Von Britisch-Guyana zum Vertrag von Genf

1814 erwarb Großbritannien Teile des heutigen Guyana von den Niederlanden. Der deutsche Forschungsreisende Robert Schomburgk zog im Auftrag der britischen Regierung 1840 die westliche Grenze der Kolonie und weitete sie dabei beträchtlich aus. Der Konflikt mit Venezuela begann kurz darauf, als britische Truppen in die Region vorrückten. 1899 sprach ein internationales Schiedsgericht die Esequibo-Region schließlich Britisch-Guyana zu.

Mitte des 20. Jahrhunderts wurden allerdings begründete Zweifel an der Unvoreingenommenheit dieses Schiedsgerichts bekannt. Wenige Monate vor der Unabhängigkeit Guyanas im Jahr 1966 erkannte Großbritannien im «Vertrag von Genf» die venezolanischen Ansprüche grundsätzlich an. Der Konflikt sollte demnach durch Verhandlungen gelöst werden. Guyana beruft sich bis heute auf den Schiedsspruch von 1899. Venezuela hingegen pocht auf den «Vertrag von Genf» und lehnt daher auch die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs ab, der über die Rechtmäßigkeit dieses Schiedsspruchs entscheiden soll. Von den Gebietsansprüchen rückte seitdem keine venezolanische Regierung ab. Fortschritte in der Lösung des Konflikts gab es jedoch kaum. Auch Präsident Hugo Chávez (1999-2013) ging nicht auf Konfrontation, sondern suchte vielmehr gute Beziehungen zu Guyana und schickte über das Abkommen «Petrocaribe» verbilligte Erdöllieferungen auch an das Nachbarland.

Es geht ums Öl

An Brisanz gewann der Konflikt ab 2015, als ein Konsortium um den US-Konzern ExxonMobil, dem mit der China National Offshore Oil Corporation (CNOOC) auch ein chinesischer Staatskonzern angehört, große Erdölvorkommen vor der Küste des Esequibo entdeckte. Die Rede ist von deutlich über zehn Milliarden Barrel. Die Regierung Maduro sieht hinter den Interessen Guyanas vor allem die US-Regierung und den Konzern ExxonMobil, dem Guyana Förderlizenzen erteilt hat.

Seitdem überschlagen sich die Erwartungen auf einen Boom. Bis 2027 will Guyana 1,2 Millionen Barrel Erdöl täglich produzieren, momentan sind es zwischen 300.000 und 400.000. Schon jetzt sorgt der Anstieg der Fördermenge, der nahezu komplett auf die Offshore-Tätigkeiten des sogenannten Stabroek-Blocks in der von Venezuela reklamierten Meereszone zurückgeht, für immenses Wirtschaftswachstum. Seit 2020 wuchs die guyanische Wirtschaft jährlich um mindestens 20 Prozent; 2022 verzeichnete das Land mit knapp 58 Prozent das größte Wachstum weltweit.

Die Einnahmen aus dem Ölverkauf könnten theoretisch die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Guyanas lösen. Doch haben in dem Land viele Menschen das Gefühl, von ExxonMobil über den Tisch gezogen worden zu sein. 75 Prozent der Einnahmen sollen zunächst beim US-amerikanischen Mineralölkonzern verbleiben, die restlichen 25 Prozent gehen an Guyana. Diesen schlechten Deal begründete die damalige Regierung damit, dass große Investitionen nötig seien, um das Öl zu erschließen. Heute, in der Opposition, fordern dieselben Politiker*innen, das damalige Abkommen nachzuverhandeln.

Die Erfahrungen anderer Erdölförderländer zeigen zudem, dass Rohstoffreichtum keineswegs automatisch in soziale Fortschritte mündet. Das gilt offenbar auch in diesem Fall: Trotz des enorm steigenden durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens gibt es bisher keine Anzeichen dafür, dass bei der breiten Bevölkerung auch etwas von dem Geld ankommt. Zunächst einmal investiert die Regierung vor allem in Infrastruktur. Und bald könnte Guyana auch zu den Staaten mit den höchsten Pro-Kopf-Emissionen zählen. Bisher leistete das Land aufgrund seiner Regenwälder einen Beitrag zum weltweiten Klimaschutz und hatte sich eigentlich vorgenommen, den eigenen Energiebedarf bis 2025 ausschließlich durch erneuerbare Energie zu decken.

Weitere Bedenken bestehen aufgrund schwer kalkulierbarer Umweltrisiken, wie sie mit Offshore-Projekten in der Tiefsee einhergehen. Ein Unglück wie auf der Ölbohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko 2010 könnte nicht nur Guyana, sondern zahlreiche Karibikinseln treffen. Die Anwältin Melinda Janki reichte bereits mehrere Klagen wegen der Umweltrisiken ein und hatte damit teilweise Erfolg. So musste die Regierung die Konzession, die sie ExxonMobil ursprünglich für 23 Jahre erteilt hatte, zunächst auf fünf Jahre beschränken. Und im vergangenen Jahr lehnte ein Gericht die Bedingungen ab, die ExxonMobil und die Umweltschutzbehörde Guyanas ausgehandelt hatten. Laut diesen wäre der Mineralölkonzern im Falle einer Ölverschmutzung nicht haftbar zu machen.

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news-51921 Fri, 19 Apr 2024 12:00:26 +0200 Gemeingut Krankenhaus retten https://www.rosalux.de/news/id/51921 Eine Videoserie zeigt, wie Krankenhauspersonal und Patient*innen für die wohnortnahe Grundversorgung kämpfen Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat einen dokumentarischen Erklärfilm zum Thema wohnortnahe Krankenhausversorgung gefördert, dessen erster Clip jetzt veröffentlicht wurde. Rentner Horst Vogel beschreibt darin, wie das Umland von Hersbruck (Bayern) seit der Krankenhausschließung mit Unterversorgung kämpft. Im Wochentakt werden weitere Videos präsentiert.

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news-51878 Thu, 18 Apr 2024 08:00:00 +0200 Das Vermächtnis der Nelkenrevolution https://www.rosalux.de/news/id/51878 Vor 50 Jahren stürzten linke Offiziere die Diktatur in Portugal Als am 25. April 1974 das Lied «Grândola, Vila Morena» kurz nach Mitternacht im Radio gespielt wird, halten alle, die zu so später Stunde noch zuhören, unwillkürlich inne. Denn das Lied José Afonsos, das die Heimat der Brüderlichkeit besingt, in der das Volk das Sagen hat, ist im diktatorisch regierten Portugal verboten. Dass es jetzt im Radio erklingt, muss also etwas bedeuten.

Und das tut es auch: Es ist das verabredete Signal für den Staatsstreich, zu dem sich ein paar hundert linke Offiziere verschworen haben.

Der portugiesische Spätkolonialismus

In den portugiesischen Streitkräften rumort es bereits seit einiger Zeit. Denn während in der ganzen Welt der Kolonialismus zusammenbricht, hält Portugal, die drittgrößte Kolonialmacht der Welt, eisern an seinem Kolonialreich fest – auch dann noch, als sich in Angola, Guinea-Bissau und Mosambik bewaffnete Befreiungsbewegungen formieren.

Albert Scharenberg ist Redakteur für Internationale Politik in der Rosa Luxemburg Stiftung.

Durch den Mehrfrontenkrieg in den Kolonien gerät das autoritäre Regime immer mehr unter Druck. Die rasant steigenden Ausgaben führen schließlich dazu, dass rund die Hälfte des Staatshaushalts für die Kolonialkriege aufgewendet werden muss – bittere Armut und nacktes Elend in den Kolonien, aber auch in Portugal sind die Folge. Im Salazar-Regime, das sich als Erbe der jahrhundertealten portugiesischen Kolonialtradition inszeniert, hängen Kolonialismus und Diktatur so stark voneinander ab, dass ihr Schicksal auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden ist.

António Oliveira de Salazar war in der Folge des Militärputsches von 1926 an die Macht gekommen. Nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten 1932 hatte er das Land zum «Estado Novo» – einem mit Franco-Spanien vergleichbaren, klerikalfaschistischen «Neuen Staat» – umgebaut. Die arbeitende Bevölkerung muss hungern, um die Staatsschulden abzutragen, während die traditionellen Eliten – Großgrundbesitzer, Unternehmer, Militärs – begünstigt werden. Opposition bekämpft der Geheimdienst mit rücksichtsloser Repression, in Portugal ebenso wie in den Kolonien. Dennoch wird das autoritär regierte Land 1949 als Gründungsmitglied in die NATO aufgenommen.

Die Kolonialkriege führen in den 60er Jahren zum «Ende der Klassenallianz, die auf Protektionismus und kolonialer Ausplünderung beruhte» (Urte Sperling). Die portugiesische Oligarchie zerfällt in zwei Interessengruppen, nämlich die auf Modernisierung und Öffnung drängende Fraktion und die primär von Kolonialismus und Protektionismus profitierende Elite.

Doch das Regime erweist sich auch unter Salazars Nachfolger, Marcelo Caetano, als reformunfähig. Zaghafte Öffnungsversuche werden von der alten Garde Salazars durch Putschdrohungen beendet, die Kolonialkriege unerbittlich fortgesetzt.

Als Guinea-Bissau 1972 die Unabhängigkeit des Landes erklärt, erkennen Soldaten und Offiziere, wie wenig die Kriegsziele Portugals mit der Realität in den Kolonien zu tun haben. Die militärische Lage wird immer auswegloser. Immer mehr Soldaten werden getötet oder kehren verwundet und traumatisiert in ihre Heimat zurück. Hunderttausende verlassen das Land.

Die «Bewegung der Streitkräfte»

Da das Regime zu einer Wende im Kolonialkrieg nicht fähig ist, spitzen sich die Widersprüche – gerade im Militär – dramatisch zu. Am 1. Dezember 1973 treffen sich schließlich rund 200 Offiziere in einem Vorort von Lissabon und verabreden einen Staatsstreich. Sie bilden den Kern des Movimento das Forças Armadas, der «Bewegung der Streitkräfte» (MFA). Diese besteht aus überwiegend jungen Offizieren, die fast alle mittlere Ränge bekleiden und aktiv an den Kolonialkriegen teilgenommen haben. Sie kommen aus politisch unterschiedlichen Strömungen, aber sie teilen die Überzeugung, dass die Kolonialkriege beendet werden müssen – und dass es hierzu des Sturzes der Diktatur bedarf.

Jetzt geht alles Schlag auf Schlag. Ein erster Aufstandsversuch scheitert im März. Die MFA beauftragt daraufhin Major Otelo de Carvalho mit der operativen Planung der Militäraktionen und schließt ein Zweckbündnis mit dem konservativen General António de Spínola.

Als dann am 25. April 1974 das Lied «Grândola, Vila Morena» im Radio erklingt, besetzen die Putschisten die strategisch wichtigsten Einrichtungen. Dabei kommt es kaum zu Gegenwehr; bereits am Nachmittag gibt Ministerpräsident Caetano auf. Das morsche Regime fällt buchstäblich in sich zusammen. General Spínola und die MFA vereinbaren die Bildung einer «Junta der Nationalen Rettung».

Die Bevölkerung begrüßt den Umsturz geradezu enthusiastisch, die Szenen der Verbrüderung mit den Soldaten gehen um die Welt. Zum Symbol des nahezu unblutigen Sturzes der Diktatur wird die Nelke, die Zivilist*innen den Soldaten in die Gewehrläufe stecken. Es ist dieser Jubel der Zivilbevölkerung, der dem Putsch Legitimität verleiht – und aus dem Staatsstreich eine Revolution macht. Nur wenige Tage später verwandeln Hunderttausende die Maifeiern in Volksfeste.

Jetzt erweist sich, welche gesellschaftlichen Freiheitspotenziale der Sturz der Diktatur freisetzt. Es kommt zu einer regelrechten Volkserhebung. Im Industriegürtel Lissabons mobilisieren die Belegschaften zu Streiks und Betriebsbesetzungen, und im Süden beginnt das Landproletariat, sich zu organisieren.

Im Mai wird eine Provisorische Regierung gebildet, die auf einer breiten Koalition beruht, die von den Kommunisten über die Sozialisten bis zu den Liberalen reicht. Aber was in Portugal auf Zustimmung trifft, sorgt im verbündeten Ausland für Entsetzen. Aufgeschreckt von der Regierungsbeteiligung der Portugiesischen Kommunistischen Partei (PKP) sorgen sich die westlichen Regierungen, Portugal könne sich der sowjetischen Welt zuwenden. US-Präsident Gerald Ford fordert Ministerpräsident Vasco Gonçalves auf, die PKP aus der Regierung zu werfen. Auch die NATO äußert «Besorgnis über die Lage in Portugal» und veranlasst den Ausschluss des Landes aus ihrer Nuklearen Planungsgruppe.

In Portugal treten die Differenzen bereits unmittelbar nach der Revolution zutage. Denn während die MFA eine demokratische Verfassung, freie Gewerkschaften, Parteien und Wahlen sowie eine Wirtschafts- und Sozialpolitik im Interesse der Benachteiligten will, sieht Spínola sich an der Spitze eines autoritären Präsidialregimes. In den Sommermonaten des Jahres 1974 konkurrieren daher zwei militärisch-politische Zentren, die MFA und die Spínola-Gruppe, um die Macht. Als letztere immer unverhohlener auf einen Putsch zusteuert, sieht die MFA sich zum Eingreifen veranlasst, um ihre Ziele – Dekolonisierung, Demokratisierung und wirtschaftliche Entwicklung – nicht zu gefährden. Spínola muss als Interimspräsident zurücktreten, sein Nachfolger wird der frühere Oberbefehlshaber Francisco da Costa Gomes, der der MFA angehört.

Mit Spínolas Rücktritt beginnt im Herbst die zweite Phase der Revolution. Die meisten Portugies*innen begrüßen zu dieser Zeit die befristete Herrschaft des revolutionären Militärs. «Das Volk ist an der Seite der MFA!», lautet die Parole.

Nachdem im März 1975 ein zweiter Putschversuch Spínolas kläglich scheitert, geht die MFA in die Offensive und beschließt die Verstaatlichung der meisten Banken und Versicherungen, weitere Schlüsselbranchen folgen. Auf Druck der sich radikalisierenden Landarbeiter*innen wird zudem eine Agrarreform vorbereitet.

Der «heiße Sommer» der Volksbewegung

Mit der Wahl der Konstituante am ersten Jahrestag der Revolution beginnt die dritte Etappe der Revolution. Wahlsieger sind allerdings nicht die dezidiert linken Parteien, sondern der – massiv von der Sozialistischen Internationale unterstützte – Partido Socialista (PS) unter Mário Soares und die liberale PPD. Beide Parteien haben den Putsch mitgetragen, wollen aber jetzt die revolutionären Maßnahmen abbrechen und zur kapitalistischen Normalität übergehen. Durch das Wahlergebnis ermutigt, erhöhen sie den Druck.

Gleichzeitig intensivieren sich im «heißen Sommer» die Klassenkämpfe, vor allem im Süden des Landes, in der Region Alentejo, wo Großgrundbesitzer über riesige Latifundien herrschen, während im Norden Kleinbauern das Land bestellen. Im Süden weitet sich der Konflikt zwischen Landarbeiterschaft und Großgrundbesitz zum Kampf um die Kontrolle der Ländereien aus. Derweil wächst in den Industriebetrieben die Streikwelle, und in den Städten entsteht eine Hausbesetzerbewegung.

Ende und Erbe der Revolution

Während sich die revolutionäre Bewegung von unten radikalisiert, verlassen PS und PPD die Koalitionsregierung und mobilisieren zu Großkundgebungen unter der Losung «Das Volk ist nicht auf der Seite der MFA». Damit ist der Bruch der Koalition, auf die die MFA sich stützt, vollzogen – just zu dem Zeitpunkt, als die Volksbewegung ihren Höhepunkt erreicht und Zehntausende «Revolutionstourist*innen» ins Land strömen.

Bald erreicht die Spaltung auch das Militär, der linke Flügel der MFA gerät zunehmend unter Druck. Man darf nicht vergessen, dass er nicht die gesamte Armee repräsentiert: In der Marine dominieren die Linken, aber in Luftwaffe und Heer überwiegen konservative und diffus-liberale Kräfte. Zu letzteren zählt eine Gruppe von Offizieren, die im August 1975 öffentlich fordert, die Revolution zu verlangsamen, den Sozialisierungskurs zu stoppen, die Disziplin der Soldaten wiederherzustellen und den Einfluss der PKP zu reduzieren. Nun ist die Spaltung der MFA nicht mehr zu bestreiten.

Die Sechste Provisorische Regierung wird dann von den gemäßigten Kräften dominiert. Jetzt gewährt Bundeskanzler Helmut Schmidt plötzlich einen Sofortkredit, und auch die EG-Kommission stellt Finanzhilfe zur Verfügung. Es kommt zur schrittweisen Entmachtung der MFA-Linken, am 25. November erfolgt die Festnahme ihrer führenden Offiziere. Damit endet die revolutionäre Rolle der MFA.

Was bleibt ein halbes Jahrhundert später von der Nelkenrevolution? Ihre wichtigsten Folgen sind das Ende des portugiesischen Kolonialismus sowie der Sturz der Diktatur und der Übergang zu einer auf sozialen und demokratischen Rechten basierenden Verfassung. Nicht erreicht wird hingegen die Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft im Interesse der Benachteiligten – ihre Revolution in den Fabriken und auf den Ländereien wird abgebrochen.

Dass aber, nur ein halbes Jahr nach dem Putsch gegen die Regierung Salvador Allendes in Chile, eine militärische Linke den Sturz der Diktatur erzwingen und den Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft bewerkstelligen konnte, ist ein bleibendes Vermächtnis, das dem Bild, das wir gemeinhin von Revolutionen pflegen, einen spannenden Mosaikstein hinzufügt.
 

Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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news-51906 Wed, 17 Apr 2024 09:56:30 +0200 Saudi-Arabien und der Gaza-Krieg https://www.rosalux.de/news/id/51906 Wie das saudische Königshaus die Palästina-Frage nutzt, um ihren Führungsanspruch im Inland und in der Region zu untermauern

Dieser Text wurde vor dem Angriff Irans auf Israel in der Nacht vom 13. auf den 14. April 2024 verfasst.

Der 7. Oktober 2023 führte auch in Saudi-Arabien zu einer Zäsur. Ähnlich wie in anderen Teilen der arabischen Welt sowie in Europa und den USA hatte die saudische Führung unter dem mächtigen Kronprinzen Muhammad bin Salman dem israelisch-palästinensischen Konflikt kaum noch politische Relevanz zugewiesen. Stattdessen waren in den Monaten vor dem Gaza-Krieg vertiefte Gespräche mit der israelischen Regierung sowie der US-amerikanischen Administration unter Präsident Joe Biden geführt worden, um eine Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel und schlussendlich eine bilaterale Normalisierung zu erreichen. Damit wäre Saudi-Arabien dem Beispiel anderer arabischer Golfmonarchien wie den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Bahrain gefolgt, die bereits 2020 die sogenannten «Abraham-Abkommen» mit Israel unterzeichnet und damit diplomatische Beziehungen aufgenommen hatten. Zwar hatte das Königreich längst informelle Netzwerke zu israelischen Vertreter*innen aus Wirtschaft, Sicherheit und Politik aufgebaut, sodass es nur noch als eine Frage der Zeit erschien, wann Saudi-Arabien auch offiziell Israel anerkennen würde. So betonte Muhammad bin Salman in einem TV-Interview mit dem US-amerikanischen Fernsehsender Fox News im September 2023, alle Seiten würden sich «Tag für Tag» einem Abkommen annähern. Doch die verheerenden Anschläge der Hamas auf Israel mit mehr als 1.200 Toten sowie der anschließende Krieg in Gaza mit bislang mehr als 33.000 Getöteten haben diese Gespräche vorerst gestoppt. Stattdessen steht die saudische Führung mehr denn je unter Druck, eine Position zum Gaza-Krieg und zu Israel zu entwickeln, die die eigenen Ziele nicht schwächt, gleichzeitig aber auch die ablehnende Haltung weiter Teile der saudischen und arabischen Öffentlichkeit gegenüber Israel berücksichtigt. In Saudi-Arabien sprechen sich inzwischen fast 100 Prozent der Jugendlichen gegen eine Normalisierung mit Israel aus, und die Bevölkerungsmehrheit fordert den Abbruch aller Beziehungen zu Israel.

Dr. Sebastian Sons ist promovierter Islamwissenschaftler und arbeitet am Forschungsinstitut CARPO zu den arabischen Golfmonarchien. Sein aktuelles Buch «Die neuen Herrscher am Golf und ihr Streben nach globalem Einfluss» ist 2023 im Dietz-Verlag erschienen.

Der Gaza-Krieg als Bedrohung saudi-arabischer Interessen

Aus saudischer Perspektive sind demnach die vorerst auf Eis gelegten Gespräche mit Israel einerseits Glück im Unglück: Im Gegensatz zu den VAE und Bahrain, die die Abraham-Abkommen unterzeichnet und damit offiziell ihre Beziehungen zu Israel normalisiert haben, erweckt Saudi-Arabien den Eindruck, dass bereits vor dem 7. Oktober keineswegs eine Einigung mit Israel in Sicht gewesen sei. Immerhin habe man immer auf die Gründung eines palästinensischen Staates gedrängt und darüber den USA verlangt. Andererseits bleibt Israel aus sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Gründen ein potenziell attraktiver Partner für das auf wirtschaftliche Diversifizierung und sozioökonomische Transformation angewiesene Königreich. Das drastische militärische Vorgehen der israelischen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu potenziert allerdings das Leid der palästinensischen Bevölkerung, erhöht das Risiko einer regionalen Eskalation und stärkt den Einfluss radikaler Gruppen wie der Hamas, dessen Angriff auf Israel auch in Saudi-Arabien verurteilt wurde. So betrachtet der saudische Analyst Hesham Alghannam Israel eher als Sicherheitsgefahr und nicht länger als Bollwerk gegen die iranische Einflussnahme in der saudischen Nachbarschaft. Vor diesem Hintergrund steckt Saudi-Arabien in einer verzwickten Situation, da der Gaza-Krieg die saudischen Interessen auf drei Ebenen massiv bedroht:

  • Die wirtschaftliche Dimension: Saudi-Arabien befindet sich in einer komplexen gesellschaftlichen Transformation. Das Land muss sich aus der Abhängigkeit vom Erdöl lösen und investiert deswegen im Rahmen der vom Kronprinzen 2017 eingeführten «Vision 2030» massiv in den Tourismus, die Sport-, Wissens- und Kulturindustrie und die Unterhaltungsbranche. Ziel ist es, der jungen Generation trotz Steuererhöhungen und sinkender Subventionen eine Perspektive zu bieten, die Jugendarbeitslosigkeit weiter zu senken und damit den Gesellschaftsvertrag zu modifizieren, ohne ihn zerbrechen zu lassen. Hierfür muss das saudische Geschäftsmodell Erfolg haben, wofür ausländische Investitionen und externes Kapital benötigt werden. Insbesondere die ambitionierten Giga-Projekte wie die Technologiestadt The Line im Nordwesten des Landes sind gefährdet, sollte die Gefahr für die regionale Stabilität und für die Lage im Roten Meer nach Beginn der Angriffe der jemenitischen Huthis im Zuge des Gaza-Krieges auf den Schiffsverkehr direkt vor der Küste des Königreichs anhalten. Saudi-Arabien bewirbt sich als einziger Kandidat auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2034 der Herren und möchte bis zum Ende des Jahrzehnts bis zu 25 Weltmeisterschaften in unterschiedlichen Sportarten sowie 2029 die Asiatischen Winterspiele organisieren. Bis 2030 sollen 150 Mio. Tourist*innen ins Land strömen. Um diese Pläne erfolgreich umzusetzen, benötigt die saudische Führung dringend regionale Stabilität. Voraussetzung hierfür ist die Sicherheit des Investitionsstandortes, weswegen der Gaza-Krieg diesen Kurs der wirtschaftlichen Diversifizierung gefährdet.
  • Die sicherheitspolitische Dimension: Um diese Ziele zu erreichen, verfolgt das Königreich einen Kurs des Interessensausgleichs. Bestes Beispiel dafür ist die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Iran im März 2023. Für Saudi-Arabien stellt die Annäherung an den regionalen Rivalen den vorläufigen Höhepunkt eines anhaltenden Deeskalationskurses dar, der nach den Anschlägen auf die saudischen Ölraffinerien im September 2019 seinen Anfang nahm. Trotz der engen Beziehungen zwischen Teheran und der Hamas hielten Saudi-Arabien und Iran ihre Kommunikationskanäle auch nach dem 7. Oktober aufrecht. So telefonierten fünf Tage später Muhammad bin Salman und Präsident Ebrahim Raisi zum ersten Mal miteinander. Allerdings basiert diese Annäherung nicht auf gegenseitigem Vertrauen, sondern eher auf taktischen Erwägungen. Oberstes Ziel war eine Deeskalation im Jemen-Krieg und eine saudische Verständigung mit den von Iran unterstützten Huthis. Dies gelang teilweise: So haben die Huthis im Zuge des Gaza-Kriegs ihre Angriffe auf Schiffe im Roten Meer intensiviert, sehen aber von Attacken auf saudische Ziele wie noch zwischen 2015 und 2022 ab. Auch um diesen Prozess nicht zu gefährden, beteiligt sich Saudi-Arabien nicht an der US-geführten Marineoperation «Prosperity Guardian» zur Sicherung der Seehandelswege in der Region.
  • Die identitätsstiftende Dimension: Saudi-Arabiens Transformation umfasst auch die Suche nach einer kollektiven saudischen Identität. Muhammad bin Salman proklamiert einen «Hypernationalismus», der sich explizit an eine junge Klientel, die «Generation MbS», richtet und traditionelle Kräfte wie den wahhabitischen Klerus marginalisiert hat. Der Gaza-Krieg schürt auch bei jungen Menschen pro-palästinensische und pan-arabische Identitätsvorstellungen, die an die religiöse Solidarität des saudischen Staates appellieren. In den letzten Jahren fanden öffentlich kaum Diskussionen statt, die sich mit der palästinensischen Sache beschäftigten, und es schien, als habe der Nahostkonflikt an emotionaler Wucht verloren. Das war ein Trugschluss. Darauf muss auch die saudische Identitätspolitik reagieren, indem sie nicht nur einen Kurs der gesellschaftlichen Liberalisierung und einen «Saudi First»-Nationalismus verfolgt, sondern stärker als bisher die Solidarität mit Palästina in das identitätsstiftende Narrativ einschließt. Dies fordert insbesondere den bisher pragmatischen Umgang mit Israel heraus.

Die Kritik Saudi-Arabiens an Israel nimmt zu

Vor dem Hintergrund dieser Risiken vollzieht sich in Saudi-Arabien ein schrittweiser Kurswechsel: Während die offiziellen Verlautbarungen kurz nach dem 7. Oktober kaum offene Kritik an Israel äußerten und sich eher pragmatisch-konziliant positionierten, haben in den letzten Wochen die saudischen Verurteilungen Israels am Vorgehen in Gaza massiv an Schärfe zugenommen. So bezeichnete die saudische Zeitung die israelische Militärkampagne als «zweite Nakba» und bezieht sich damit auf die auf arabischer Seite als «Katastrophe» bezeichnete Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 arabischen Palästinenser*innen aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina in Zusammenhang mit der Gründung Israels 1948. Weiterhin wird in Saudi-Arabien betont, dass ohne eine Zwei-Staaten-Lösung keine nachhaltige regionale Stabilität erreicht werden könne.

Die Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand, der Einrichtung sicherer humanitärer Korridore und deutlich ausgeweiteten Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen werden dabei begleitet von einer zunehmend deutlicheren Rhetorik, die dazu beitragen soll, Saudi-Arabiens Rolle als regionale Führungsmacht und traditioneller Schutzpatron der palästinensischen Sache zu festigen. So kamen bei der saudischen Spendenkampagne für Gaza bis Ende März mehr als 180 Millionen US-Dollar von etwa 1,8 Millionen Spender*innen zusammen. Im März stellte das saudische King Salman Humanitarian Aid and Relief Center (KSrelief) dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) 40 Millionen US-Dollar zur Verfügung. 2022 war das Königreich hinter den USA und Deutschland drittwichtigster Finanzier von UNRWA mit einem Gesamtvolumen von 27 Millionen US-Dollar.

Weiterhin betont das saudische Narrativ die Relevanz der sogenannten Arabischen Friedensinitiative, die 2002 maßgeblich vom damaligen saudischen König Abdullah initiiert worden war und die Zwei-Staaten-Lösung als Vorbedingung einer möglichen arabischen Normalisierung mit Israel fordert. Als Ausrichter von mehreren Krisengipfeln, an denen sogar regionale Rivalen wie Iran teilnahmen, und als wichtiger Gesprächspartner für die USA, Europa und andere regionale Akteure strebt Saudi-Arabien danach, sich als Plattform und Mediator zu präsentieren, ohne den eine Deeskalation der Situation nicht erreicht werden kann. Dabei fehlen dem Königreich allerdings die direkten und offiziellen Netzwerke zu den Konfliktparteien – im Gegensatz zu den VAE (zur israelischen Führung) und Katar (zur Hamas). Dies soll dadurch kompensiert werden, die eigene Soft Power in Form von Pendeldiplomatie, Netzwerken und politischer Vermittlung zu stärken. Saudi-Arabien verfügt als «Hüter» der beiden Heiligen Stätten Mekka und Medina innerhalb der islamischen Welt über eine religiöse Strahlkraft, die dem Königreich gerade bei der Solidarität mit den Palästinenser*innen eine besondere Verantwortung zukommen lässt. Die pro-palästinensischen Sympathie- und Solidaritätsbekundungen im saudischen In- und im arabischen Ausland können daher weder ignoriert noch unterdrückt werden, soll die Glaubwürdigkeit der saudischen Position nicht geschwächt werden.

Saudi-Arabien als regionaler Schlüsselakteur für ein Ende des Gaza-Kriegs

Daher sollte dem Königreich daran gelegen sein, auf mehreren Ebenen die derzeitige Situation konstruktiv zu nutzen. Vor dem Hintergrund der übergeordneten saudischen Interessen nach regionaler Stabilität, wirtschaftlicher Prosperität und nationaler Identitätsbildung hat Saudi-Arabien ein Interesse daran, die Phase des Konfliktmanagements zu überwinden und für die Beilegung des aktuellen Kriegs eine langfristige und andauernde Lösung anzustreben. Hierfür kann Saudi-Arabien als regionales Schwergewicht beitragen. Bislang ist es Saudi-Arabien nicht gelungen, einen Konsens mit anderen Golfstaaten wie den VAE und Katar zu finden und sich auf eine einheitliche Position zu verständigen. Zwar äußern die Regierungen in Riad, Abu Dhabi und Doha ähnliche Kritikpunkte. Sie fordern einen Waffenstillstand, eine Ausweitung der Hilfsleistungen und eine Perspektive zur Gründung eines palästinensischen Staates. Doch sie bieten keine gemeinsame Zukunftsvision für die Zeit nach Ende des Gaza-Kriegs an. Auch im Umgang mit Israel unterscheiden sich die Interessen und Vorgehensweisen der einzelnen Golfmonarchien teilweise fundamental, was einen regionalen Ansatz bislang verhindert.

Saudi-Arabien könnte als einflussreiche Führungskraft in der Region jedoch versuchen, diese Gräben zu überwinden und mit Druck und Dialog auf einen regionalen Lösungsansatz hinarbeiten. In allen Golfstaaten ist in den letzten Jahren das Vertrauen in die USA und die internationale Gemeinschaft gesunken, denen Scheinheiligkeit und Doppelmoral vorgeworfen wird – ein Trend, der sich nach dem 7. Oktober massiv verstärkt hat. Zwar ist allen Golfstaaten bewusst, dass ohne die aktive Mitwirkung der USA und Europas ein Ende des Gaza-Kriegs nicht realistisch erscheint. So finden regelmäßige Gespräche mit der Biden-Administration statt, um einen Wiederaufbauplan für ein Nachkriegsszenario zu entwickeln. Im März 2024 hat der Golfkooperationsrat, dem neben Saudi-Arabien auch die fünf anderen Golfmonarchien angehören, zum ersten Mal in seiner 43-jährigen Geschichte eine gemeinsame Vision für regionale Sicherheit veröffentlicht. Darin wird explizit auch die Schaffung einer Zwei-Staaten-Lösung auf Basis der Arabischen Friedensinitiative gefordert, um eine gerechte Lösung der palästinensischen Sache zu erreichen. Dieses Vorgehen soll die golfarabische Einheit stärken und trägt deutlich die Handschrift Saudi-Arabiens – ein erster Schritt auf dem Weg zu einer geeinten Position. Voraussetzung für einen solchen Plan ist allerdings ein Waffenstillstand.

Die «Vision 2030» zementiert den saudischen Führungsanspruch

Somit bietet sich in der Krise auch eine Chance für die Golfstaaten – und insbesondere für Saudi-Arabien – eine aktivere und konstruktivere Rolle als Konfliktlöser zu spielen und zugleich die eigene Autonomie vom «Westen» zu betonen. Dies würde die Rolle Saudi-Arabiens als ehrlicher Makler unterstreichen und weiterhin den Golfstaaten die Möglichkeit bieten, einen strategischen Kurswechsel einzuleiten, der sich weniger auf Konfliktmanagement, sondern auf einen praktischen Lösungsansatz konzentriert. Damit einher geht der Versuch, den Druck auf Israel zu erhöhen und einer Normalisierung nur zuzustimmen, wenn eine realistische Perspektive für eine Zwei-Staaten-Lösung existiert, wie u.a. der saudische Außenminister Faisal bin Farhan zum Ausdruck brachte.

Dafür benötigt es aus saudischer Perspektive auch einer Gegen-Erzählung, um die aufkeimende Popularität von Hamas und Huthis, von radikalen Kräften und Extremismus zurückzudrängen, und so den Menschen in Gaza und dem Rest der arabischen Welt eine Perspektive zu bieten. Die «Vision 2030» symbolisiert den saudischen Führungsanspruch in der arabischen Welt und wird daher nicht mehr nur ausschließlich als nationales Projekt für Wandel und Fortschritt, sondern als Antwort auf die regionalen Herausforderungen präsentiert; so diente sie in den letzten Jahren bereits als Vehikel für den engeren Austausch mit Israel und Iran. Dementsprechend könnte die saudische Führung versuchen, mithilfe der «Vision 2030» die Deutungshoheit zurückzugewinnen und sich als pragmatische und konstruktive Kraft präsentieren, die radikalen Bewegungen entgegentritt und ein erfolgversprechendes Gegenmodell in Form von wirtschaftlicher Integration und Investitionen anbietet.

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news-51903 Tue, 16 Apr 2024 14:45:00 +0200 Einstehen für das, woran man glaubt https://www.rosalux.de/news/id/51903 Ein Gespräch mit dem israelischen Sozialisten und Knessetmitglied Ofer Cassif Seit dem 7. Oktober wird das politische Geschehen in Israel von rechten und rechtsextremen Kräften dominiert. Der Angriff der Hamas auf israelische Zivilist*innen und die darauf folgende militärische Reaktion haben den Handlungsspielraum der ohnehin stark marginalisierten radikalen Linken in Israel dramatisch eingeschränkt, während sich die Mitte-Links-Parteien mit Kritik an der israelischen Zerstörung des Gazastreifens weitgehend zurückhalten. Eine der wenigen Stimmen, die sich der revanchistischen Stimmung nicht beugen, ist der israelische Politologe Ofer Cassif, Mitglied der Kommunistischen Partei und Knessetabgeordneter der «Demokratischen Front für Frieden und Gleichheit» (Hadash), dem sozialistischen Parteienbündnis, das Cassifs Partei 1977 gebildet hat.

Cassif sorgte im Januar für internationale Schlagzeilen, als er seine Unterstützung der Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof im Rahmen der Völkermordkonvention kundgab – ein Schritt, für den er von seinen Parlamentskolleg*innen beinahe aus der Knesset ausgeschlossen worden wäre. Er konnte den Versuch der Amtsenthebung abwehren und setzt seitdem seinen Kampf gegen den Krieg und für eine Zweistaatenlösung ungeachtet der Konsequenzen fort.

Ofer Cassif vertritt die Demokratische Front für Frieden und Gleichheit (Hadash) in der israelischen Knesset seit 2019.

Mit Gil Shohat, dem Leiter des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sprach er über die Stimmung in Israel seit dem 7. Oktober, seinen eigenen politischen Weg vom Arbeiterzionismus zum Antizionismus und darüber, wie sich das Verhältnis der Linken in Israel zum Rest der Welt seit Kriegsbeginn entwickelt hat.

Gil Shohat: Lassen Sie uns mit einem kurzen Rückblick auf die letzten Monate in der Knesset beginnen, wo Sie Abgeordneter der Demokratischen Front für Frieden und Gleichheit sind, besser bekannt unter ihrem hebräischen Akronym «Hadash». Im Februar konnten Sie nur knapp einen Amtsenthebungsversuch abwenden. Wie beurteilen Sie rückblickend das Verfahren angesichts des restriktiven politischen Klimas, das derzeit in Israel herrscht?

Ofer Cassif: Zunächst einmal ist das 2016 verabschiedete Gesetz, das es Mitgliedern der Knesset ermöglicht, ein anderes Mitglied abzuwählen, per definitionem undemokratisch – eine Tyrannei der Mehrheit. Ein Amtsenthebungsverfahren gegen ein Mitglied der Knesset kann aus zwei Gründen eingeleitet werden: Der erste Grund ist die Unterstützung von Rassismus – ironischerweise müsste die große Mehrheit der israelischen Parlamentarier*innen mit einem Amtsenthebungsverfahren rechnen, wenn diese Klausel wirklich angewandt würde. Der zweite Grund ist die Unterstützung des bewaffneten Kampfes oder des Terrorismus gegen Israel.

Anlass für das gegen mich eingeleitete Verfahren, war eine Petition, die ich unterschrieben hatte. Sie sollte die südafrikanische Klage vor dem Internationalen Gerichtshof im Dezember 2023 unterstützen und wurde von einigen israelischen Friedensaktivist*innen initiiert und von fast 900 israelischen Bürger*innen unterzeichnet. Die Petition argumentiert, dass der IGH das geeignete Gremium sei, um die Ereignisse in Gaza zu untersuchen, da er die Macht habe, den Krieg zu beenden oder zumindest einen Waffenstillstand zu erwirken.

Ein Mitglied einer rechtsgerichteten Oppositionspartei war der Ansicht, dass meine Unterstützung der Petition eine Unterstützung des bewaffneten Kampfes gegen Israel darstelle, eine geradezu orwellsche Behauptung in Anbetracht der Tatsache, dass ich ja eine Petition gegen Gewalt unterzeichnet hatte. Nichtsdestotrotz gelang es diesem Mitglied, 86 Unterschriften zu sammeln und so das Amtsenthebungsverfahren einzuleiten. Im Nachhinein betrachtet, war das kein ordentliches Verfahren. Es war politisch motiviert, denn es gab keinen wirklichen Grund für die Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens, da ja keine Unterstützung des bewaffneten Kampfes vorlag.

Außerdem sollten die Mitglieder der Knesset als Jury fungieren. Einige von ihnen machten mir gegenüber keinen Hehl daraus, dass sie ihre Stimme gemäß ihrer politischen Agenda und nicht auf Grundlage von Fakten abgeben würden. Am Ende fehlten bei der Abstimmung im Plenum vier Stimmen, um mich auszuschließen. Aber die Tatsache, dass 86 von 120 Knesset-Abgeordneten mich tatsächlich absetzen wollten, zeigt das Demokratiedefizit in Israel. Es bestand schon immer, aber es wird immer schlimmer. Alle wussten, dass der Vorgang unrechtmäßig war. Aber es war ihnen egal.

Eine der Grundlagen einer modernen Demokratie ist die Skepsis gegenüber der eigenen Regierung.

Ich danke meinen Genoss*innen in der Fraktion, die viel Energie und Mühe investiert haben, um die Abstimmung gegen mich zu verhindern. Andererseits bin ich sehr enttäuscht von vielen meiner Parlamentskolleg*innen, mit denen ich früher gute Beziehungen hatte. Das liegt nicht daran, dass sie meine Ansichten nicht teilen – das taten sie früher auch nicht. Vielmehr habe ich von ihnen eine gewisse Integrität erwartet. Mindestens zwei von ihnen haben mir gesagt, dass sie nach ihren politischen Interessen abstimmen würden und nicht nach dem Gesetz oder auf Grundlage der Fakten in diesem Fall. Heute kann ich ihnen kaum noch ins Gesicht schauen, weil ihr Vorgehen so zynisch und unehrlich war.

Warum haben Sie die Petition unterzeichnet?

Ich habe die Petition unterschrieben, weil ich der israelischen Regierung nicht traue, wie ich überhaupt Regierungen nicht traue, vor allem in Bezug auf die Darstellung ihrer eigenen Taten. Eine der Grundlagen einer modernen Demokratie ist die Skepsis gegenüber der eigenen Regierung. Deshalb haben wir eine Opposition im Parlament. Aber das kritische Misstrauen der Oppositionsparteien ist nach dem Massaker der Hamas verschwunden.

Wir alle erinnern uns an die Straßenproteste vor dem 7. Oktober. Jetzt, nach dem Massaker der Hamas – das wir natürlich alle verurteilen, um es gelinde zu sagen – steht plötzlich fast die gesamte Opposition auf der Seite der Regierung und sagt: «Es gibt keinen Völkermord», «Es gibt keine Verbrechen Israels in Gaza». Warum sollte ich das als Oppositionspolitiker akzeptieren? Weil die Regierung durch den Krieg plötzlich ehrlich wird – oder weil der Krieg eine Legitimation für Lügen ist?

Ich habe die Petition unterschrieben, um eine Untersuchung zu ermöglichen und um den Krieg und das Blutbad an Palästinenser*innen und Israelis zu beenden. Zehntausende Palästinenser*innen wurden niedergemetzelt – anders kann man es nicht beschreiben. Wir sprechen von mindestens 30.000 Menschen, meist unschuldige Zivilist*innen, mehr als ein Drittel davon Kinder. Das muss sofort aufhören! Wir sprechen aber auch von den israelischen Soldat*innen und den armen Geiseln, die in den Händen der Hamas sterben. Für die Regierung haben die Geiseln keine Priorität. Sie ist nur an ihrer Selbsterhaltung und an der Fortsetzung ihres zügellosen Rachefeldzuges interessiert.

Kürzlich haben wir bei einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin unter anderem darüber gesprochen, dass Politiker*innen zu ihren Prinzipien stehen müssen. Sie haben den Kampf der Wähler*innen aus dem Süden Israels, die nach dem Massaker vom 7. Oktober keine staatliche Unterstützung erhalten haben, in den Anhörungen des Knesset-Ausschusses unterstützt, obwohl Sie kaum eine Chance haben, Stimmen von ihnen zu bekommen. Wenn Sie andererseits von Knessetabgeordneten sprechen, die aus sehr fragwürdigen Gründen gegen ihre eigenen Grundsätze abstimmen, sagt das etwas über die allgemeine politische Kultur in Israel aus?

Ich bin hier, um mich für die Benachteiligten einzusetzen. Ich war 20 Jahre lang Lehrbeauftragter an der Universität. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht, und ich hätte damit weitermachen können. Aber für mich ist es kein Selbstzweck, Mitglied der Knesset zu sein. Ich bin seit 35 Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei Israels, weil wir Werte, Überzeugungen und eine Weltanschauung teilen. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um diese Weltanschauung zu verwirklichen oder zumindest das Gegenteil zu verhindern.

Aber auch in Bezug auf die Realpolitik bin ich der festen Überzeugung, dass man am Ende verliert, wenn man nicht für das einsteht, woran man politisch wirklich glaubt. Selbst wenn dich Menschen für deine Ansichten verachten, schätzen sie dein Engagement und deine Ehrlichkeit, auch wenn es manchmal lange dauert, bis sie es zugeben. Wenn man lügt, um Mehrheiten zu gewinnen, kommt das irgendwann ans Licht. Einer der Gründe, warum die Knesset in Israel so unbeliebt ist, ist die weit verbreitete Unehrlichkeit vieler Politiker*innen. Ich bin sicher, dass selbst diejenigen, die meine Ansichten verachten, wissen, dass sie das von mir nicht behaupten können.

Vielen Menschen wird langsam klar, dass es so nicht weitergehen kann.

Einige stellen fest, dass die einzigen, die eine Antwort haben oder wirklich bereit sind, sich diesem Wahnsinn zu stellen, diejenigen sind, die den Krieg und die Besatzung insgesamt ablehnen.

Wenn man die Wahrheit sagt und dazu steht, wird man auf lange Sicht geschätzt und unterstützt. Wenn ich sage, dass ich die Unabhängigkeit des palästinensischen Volkes unterstütze, dann nicht nur, weil ich sie für wichtig halte, sondern weil ich wirklich glaube, dass sie in der Zukunft – hoffentlich bald – verwirklicht wird. Die Menschen werden zurückblicken und sagen, dass wir in dieser Sache Recht hatten, auch wenn es schwierig war.

Ein weiterer Grund dafür, dass ich offen an meinen politischen Überzeugungen festhalte, ist eher philosophischer Natur. Die deutsche Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann spricht von der sogenannten «Schweigespirale» und beschreibt damit die Tatsache, dass die Öffentlichkeit und die Medien eine wesentliche Rolle für die allgemeinen Überzeugungen der Gesellschaft spielen. Andersdenkende tendieren dazu, zu schweigen, um von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Wenn ich mir also nicht erlaube zu schweigen, dann vor allem deshalb, weil die Schweigespirale gewinnen würde, wenn ich es täte. Es würde bedeuten, dass eine Alternative nicht nur unmöglich, sondern von vornherein undenkbar wird.

Wie können Sie angesichts der prekären Position der Hadash in der israelischen Politik die Mehrheit der israelischen Gesellschaft für Ihre Ziele gewinnen? Ist es manchmal strategisch sinnvoll, nicht alles zu sagen, was man denkt, um anschlussfähig zu bleiben? Kann das Aussprechen der Wahrheit gegenüber den Mächtigen auch verhindern, dass man seine politischen Ziele erreicht?

Aus strategischen Gründen sage ich nicht einfach, was ich will, ohne Rücksicht auf die Umstände und die öffentliche Meinung. Das ist nicht die Aufgabe eines Politikers. Die eigentliche Frage ist nicht, ob es ein Gleichgewicht zwischen Realpolitik und Weltanschauung braucht, sondern wo es liegen sollte. Natürlich gibt es Dinge, die ich nicht ausspreche oder anders auszudrücken versuche, aber ich werde nicht lügen. Ich werde nie etwas sagen, an das ich nicht glaube.

Das unterscheidet Strategie von Zynismus, könnte man sagen.

Ganz genau. Ich halte meinen Zynismus aus meiner Politik heraus.

Ich weiß zum Beispiel, dass wir als Hadash in den Städten Sderot und Ashkelon (im Süden Israels) nicht viele Stimmen holen werden. Trotzdem war ich es, der auf die Diskriminierung von Ashkelon und Sderot in den staatlichen Entschädigungsregelungen nach dem Massaker vom 7. Oktober hingewiesen hat. Ich habe das nicht getan, um dort mehr Stimmen zu bekommen, sondern weil ich es für richtig halte. Ich bin sicher, wenn in 20 Jahren jemand aus Ashkelon oder Sderot zurückblickt und schaut, wer sich damals für die Menschen in Sderot oder Ashkelon eingesetzt hat, wird er feststellen, dass wir, die Linke, das getan haben, und ich glaube, das könnte ihre Einstellung ändern.

Wie würden Sie allgemein die Stellung von Hadash und der israelischen Linken nach dem 7. Oktober beschreiben?

Mein Anwalt, Michael Sfard, hat vor kurzem den Begriff «chronische Minderheit» geprägt. Die Kommunistische Partei Israels war unter verschiedenen Namen und in verschiedenen Zusammenschlüssen seit der Gründung des Staates Israel immer eine chronische Minderheit –  nicht nur in Bezug auf die Anzahl der Sitze und Stimmen, sondern auch in Bezug auf unsere Überzeugungen. Dass wir schon immer ausgegrenzt wurden, liegt neben unseren Ansichten aber auch daran, dass wir die einzige palästinensisch-jüdische parlamentarische Kraft sind.

Wir halten an der jüdisch-palästinensischen Partnerschaft, an der Geschwisterlichkeit und an der Kameradschaft aus Prinzip fest. Wir glauben daran, weil keines dieser Völker sich in Luft auflösen wird, aber auch, weil ein zentraler Wert der Linken – und wer wüsste das besser als die Namensvetter*innen Rosa Luxemburgs – der Internationalismus ist, selbst in den schwierigsten Zeiten. Nach dem Massaker vom 7. Oktober und dem Massaker, das die israelische Regierung in Gaza verübt, was wäre einfacher, als auf die Gegensätzlichkeit zwischen den Völkern zu setzen?

Es ist sehr einfach und sehr populistisch, Jüd*innen gegen Palästinenser*innen und Palästinenser*innen gegen Jüd*innen auszuspielen. Israelis und Jüd*innen, Araber*innen, Palästinenser*innen – alle sind wütend, weil alle verletzt wurden. Das macht es natürlich viel schwieriger, die Partnerschaft aufrechtzuerhalten und zu stärken. Dennoch gibt es Tausende von Menschen in Israel, die unsere Werte teilen, auch wenn sie uns als politische Bewegung nicht automatisch unterstützen.

Ich bin in erster Linie Marxist, und das Hinterfragen ist grundlegend für die marxistische Lebensweise.

Das war auch in der Vergangenheit so. Wir haben nicht vergessen, wie die Regierung Netanjahu 2023 einen Justizputsch durchführen wollte. Er scheiterte vor allem an den Massenprotesten. Heute geht nur noch eine Minderheit auf die Straße. Seit Oktober werden alternative Stimmen noch stärker politisch mundtot gemacht und verfolgt. Menschen wurden verhaftet, verhört, von der Universität suspendiert, entlassen und geschlagen, weil sie sich gegen den Krieg aussprachen.

Wir sind Teil dieser Minderheit. Es ist uns gelungen, mehr als 40 Organisationen, vor allem aus der Zivilgesellschaft, in einer Koalition zu vereinen, die sich Peace Partnership (Partnerschaft für den Frieden) nennt. Wir kämpfen weiter für ein Ende des Krieges, für die Freilassung der Geiseln nach dem Prinzip «alle für alle» und natürlich für Frieden und ein Ende der Besatzung. Es ist nicht einfach, aber auch nicht hoffnungslos.

Seit Anfang des Jahres beobachte ich die Tendenz, dass Organisationen in Israel versuchen, interne Differenzen zu überwinden und für ein größeres Ziel zu mobilisieren. Ich denke, wir sollten auch die Entwicklung, die die Linke in Israel macht, nicht unterschätzen.

Die vollkommene Vernachlässigung der Geiseln seitens der Regierung hat inzwischen zu einer politischen Verschiebung geführt. Ich will nicht sagen, dass sich außer uns niemand um die Palästinenser*innen kümmert, das ist absolut nicht der Fall, aber der maßgebende Faktor für die Veränderungen war am Anfang, dass den Menschen langsam klar wurde, dass die Geiseln Netanjahu und seinen Fanatiker*innen egal sind. Auch das Wohlergehen – ja sogar das Leben – der Soldat*innen ist ihnen egal, ganz zu schweigen von dem der palästinensischen Bevölkerung. Sie sind bereit, sie zu opfern, damit die Regierung weiterbestehen kann.

Angesichts der Statements von Fanatikern wie Itamar Ben-Gvir (Minister für Nationale Sicherheit), Bezalel Smotrich (Finanzminister) und anderen messianischen Fanatiker*innen verstehen immer mehr Menschen, dass Geiseln und Menschenleben ihnen nicht so wichtig sind. Ihre Priorität ist es, den Gazastreifen zu besetzen, um der Ankunft des Messias näher zu kommen und so weiter.

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen der israelischen Linken und der internationalen Linken beschreiben?

Ich glaube, es gibt zwei Hauptprobleme, zwei Seiten derselben Medaille. Ein Teil der Linken arbeitet – manchmal, vielleicht sogar meistens, ohne es zu wissen – mit Antisemit*innen zusammen. Zu viele wollen nicht zwischen Antisemitismus und Israelkritik unterscheiden, und manche sind sich dessen nicht bewusst. Sie übersehen den Unterschied zwischen Antisemitismus, einer Form von Rassismus, die wir wie jeden anderen Rassismus bekämpfen müssen, und der Kritik an der Politik der israelischen Regierung – an der Besatzung, am Krieg, ja sogar am Zionismus.

Ich bin Antizionist. Antizionismus ist eine legitime Kritik oder ein Einwand gegen eine bestimmte Ideologie, so wie ich gegen den Kapitalismus oder den Faschismus bin, aber ich bin nicht antiisraelisch, und ich bin natürlich hundertprozentig gegen Antisemitismus.

Das ist der Punkt: Ich bin Jude. Ich bin Atheist, aber zugleich Jude und davon nicht entfremdet. Mütterlicherseits hat niemand den Holocaust überlebt, außer meinen Großeltern, die fünf Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg nach Palästina kamen. Sie haben ihre ganze Familie verloren. Sie wurden alle von den Nazis ermordet. Natürlich mache ich einen klaren Unterschied zwischen den Nazis und den Deutschen.

Wie haben die Entwicklungen seit dem 7. Oktober diese Beziehung verändert?

Auf der einen Seite sehe ich viele gute Menschen – engagierte Linke, Antiimperialist*innen, Sozialist*innen – die keinen Unterschied machen, die nicht verstehen, dass Jüd*innen nicht der Feind sind, dass die Politik der Regierung und die Einstellungen der Bevölkerung nicht dasselbe sind. In diesem Sinne leisten sie den fanatischen Antisemit*innen, Faschist*innen und manchmal sogar Neonazis Vorschub.

Sie müssen sich darüber im Klaren sein, was sie tun. Als ich las, was einige postkolonialistische Professor*innen an nordamerikanischen Universitäten zum 7. Oktober zu sagen hatten, war ich schockiert. So platt, so oberflächlich. So dumm. Unmenschlich. Sie sollten sich dafür schämen und für jeden, der solche Ansichten teilt. Was unterscheidet Sie von Neonazis?

Das Blutbad vom 7. Oktober beweist, dass es unter den gegenwärtigen Umständen keine Chance für einen gemeinsamen Staat gibt – vielleicht in der Zukunft, aber nicht jetzt. Mehr als 100 Jahre schrecklicher Feindschaft können nicht von heute auf morgen überwunden werden.

Ich sage ihnen: Seid gegen Kolonialismus, seid gegen Besatzung, seid gegen Krieg, seid gegen den völkermörderischen Angriff auf Gaza, aber seid auch gegen Antisemitismus – arbeitet nicht mit Antisemit*innen zusammen. Wenn ihr zu einer Demonstration gegen den Angriff auf Gaza geht, gehe ich mit. Aber wenn ihr auf diesen Demonstrationen Antisemit*innen willkommen heißt, werde ich niemals dabei sein.

Die andere Seite macht genau das Gegenteil: Sie unterscheidet nicht zwischen Antisemitismus, Antikriegshaltung, Besatzungskritik und Antizionismus, sondern steht blind hinter der israelischen Regierung. Beide Seiten liegen falsch, schrecklich falsch. Deshalb sind es zwei Seiten der gleichen Medaille. Das ist einfach dumm. Das Leben ist komplizierter.

Sie haben erwähnt, dass Sie stolz darauf sind, Mitglied einer internationalistischen, jüdisch-palästinensischen – vielleicht sogar palästinensisch-jüdischen, da die Mehrheit palästinensisch ist – Partei in Israel zu sein. Wie sind Sie zu dieser Partei gekommen? Und was hat Sie konkret in die Knesset geführt?

Ich bin der Kommunistischen Partei 1988 beigetreten, nachdem ich mich geweigert hatte, als Reservist in den besetzten palästinensischen Gebieten zu dienen.

Aber Sie haben in der Armee gedient, nicht wahr?

Ja, denn ich wurde in eine arbeiterzionistische Familie hineingeboren, und es dauerte einige Zeit, bis ich mich sozusagen «weiterentwickelt» hatte. Mit 15 oder 16 Jahren schloss ich mich einer linkszionistischen Jugendbewegung an, der Jugendgruppe der damals am weitesten links stehenden zionistischen Partei Sheli – ein Akronym für «Frieden und Gleichheit für Israel», die es heute nicht mehr gibt – und ging zur Armee. Heute bereue ich das natürlich.

Als ich dann an der Hebräischen Universität in Jerusalem meinen ersten Abschluss machte, begann die erste Intifada. Ich wurde als Fallschirmjäger entsandt und sollte als Reservist in Gaza dienen. Ich weigerte mich und kam ins Gefängnis, und dann fing ich an, mich weiter nach links zu orientieren.

Ich begann, die Unzulänglichkeiten der zionistischen Weltanschauung und ihrer Praxis zu verstehen, um es vorsichtig auszudrücken. Ich entwickelte langsam antizionistische Ideen und Überzeugungen und trat der Kommunistischen Partei bei. Ich war parlamentarischer Mitarbeiter von Meir Vilner, dem Generalsekretär und legendären Anführer der Partei. Während dieser Zeit wurde ich dreimal inhaftiert, insgesamt war ich viermal im Militärgefängnis, weil ich mich geweigert hatte, in den besetzten palästinensischen Gebieten zu dienen.

Vor etwa 15 Jahren wurde ich ins Politbüro der Partei gewählt und davor ins Zentralkomitee. Vor etwa fünf Jahren beschloss ich, dass es an der Zeit wäre, für die Knesset zu kandidieren. Ich beriet mich mit einigen Genoss*innen, stellte fest, dass ich breite Unterstützung hatte, und glücklicherweise hatte ich Erfolg.

Was hat Ihre Hinwendung zum Antizionismus bedingt? Teilen Sie diese Erfahrungen mit anderen Menschen, die sich vielleicht Ihrer politischen Ausrichtung annähern, aber noch nicht so weit sind?

Ich war der Erste, der während der ersten Intifada den Dienst verweigerte und dafür ins Gefängnis kam. Das war ein sehr radikaler, fast revolutionärer Akt, denn das hatte zuvor noch niemand getan. Ich wusste nicht, ob ich Unterstützung erhalten würde, denn ich war noch nicht Mitglied der Kommunistischen Partei, und die Leute, die ich von anderen politischen Aktivitäten her kannte, lehnten Wehrdienstverweigerung grundsätzlich ab.

Aber ich erhielt massive Unterstützung von den Genoss*innen der Kommunistischen Partei, einschließlich der Abgeordneten der Knesset, und von der Yesh Gvul-Bewegung, der sogenannten «Gewerkschaft der Kriegsdienstverweiger*innen». Sie alle demonstrierten vor dem Gefängnis, um mich zu unterstützen. Das gab mir viel Selbstvertrauen und Mut, weiterzumachen. Wie ich mich kenne, wäre ich wahrscheinlich sowieso bei meiner Überzeugung geblieben, aber diese breite Unterstützung hat mich bestärkt.

Als ich zum zweiten Mal wegen Wehrdienstverweigerung ins Gefängnis kam, haben auch meine Eltern ihre Ansichten langsam geändert. Das hat mir auch geholfen, weiterzumachen.

Sie haben von Internationalismus und Antizionismus gesprochen. Nach dem 7. Oktober, nach den Massakern an der israelischen Zivilbevölkerung, aber auch, und das ist jetzt noch dringender, angesichts der Massaker, die jeden Tag im Gazastreifen stattfinden, welche Zukunft sehen Sie für eine internationalistische Perspektive in Israel-Palästina nach all diesem Horror?

Ich glaube, dass sich unser Verständnis der Situation bestätigt hat. Wir warnen nicht erst seit 1967, sondern seit der Nakba (1948): Wenn das palästinensische Volk nicht frei ist, wenn es keinen eigenen Staat bekommt, wird es eine Katastrophe geben. Die Situation wird aus den Fugen geraten und alle werden den Preis dafür zahlen, Palästinenser*innen und Israelis.

Die Hadash-Abgeordneten in der Knesset waren 2005 gegen den israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen. Sie argumentierten, dass es ohne echte Unabhängigkeit für das palästinensische Volk und ohne Dialog mit der palästinensischen Führung keine Lösung geben könne. Gaza würde sich in ein riesiges Gefängnis verwandeln. Zwanzig Jahre später ist genau das eingetreten, was wir vorhergesagt haben. Ich brauche also nur zu wiederholen, was wir seit langem sagen.

Es gibt keine andere Option als die Zweistaatenlösung.

Kurzfristig werden wir noch viel Blutvergießen sehen, fürchte ich. Aber langfristig bin ich zuversichtlich, weil ich sicher bin, dass jetzt alle Menschen in der Welt – aber auch immer mehr Menschen in Israel selbst – verstehen, dass der einzige Weg, das Blutvergießen und das Leiden auf beiden Seiten zu beenden, die palästinensische Unabhängigkeit und ein souveräner palästinensischer Staat in den Gebieten ist, die Israel 1967 besetzt hat – die Zweistaatenlösung. Es gibt keinen anderen Weg.

Außerdem glaube ich, dass die internationale Gemeinschaft diese Vision nicht nur verbal, sondern auch praktisch unterstützen und ihre Umsetzung voranbringen wird. Es kann ein Jahr oder zwei Jahre dauern, vielleicht auch fünf, aber wir sind dem Ziel näher, als wir es am 6. Oktober waren.

Was würde das konkret für Israel bedeuten? Einige argumentieren, dass die Siedlungen eine Zweistaatenlösung unmöglich und eine Einstaatenlösung unvermeidlich machen.

Zunächst einmal sind im Grunde alle Siedlungen illegal. Sie beruhen auf gewaltsamer Enteignung. Sie sollten alle abgebaut werden.

Ich spreche von einer Zweistaatenlösung im Sinne eines völlig unabhängigen, souveränen palästinensischen Staates neben dem Staat Israel im Westjordanland, im Gazastreifen und in Ostjerusalem. Wenn es zu einem späteren Zeitpunkt mit Zustimmung aller Beteiligten einen Weg gibt, diese beiden Staaten zu einem Staat zu vereinen – eine Konföderation zum Beispiel, da gibt es viele Ideen –, dann habe ich damit kein Problem, vorausgesetzt, der Staat ist demokratisch und bietet allen Sicherheit, die innerhalb seiner Grenzen leben, und er beruht, wie gesagt, auf den Konsens aller Seiten.

In dieser Frage bin ich sehr kritisch gegenüber Leuten – von denen ich einige wirklich schätze –, die von einer Einstaatenlösung sprechen. Unter den gegenwärtigen Umständen ist die Einstaatenlösung keine Option. Das ist eine Vision, die ich im Idealfall befürworten würde, aber in der Praxis müssen wir das richtige Gleichgewicht zwischen Idealen und der Realpolitik finden. Das Blutbad vom 7. Oktober beweist, dass es unter den gegenwärtigen Umständen keine Chance auf einen Einheitsstaat gibt – vielleicht in der Zukunft, aber nicht im Moment. 

Es gibt keine andere Option als die Zweistaatenlösung. Gleichzeitig sind die Kommunistische Partei als Ganzes und ich persönlich der festen Überzeugung, dass Israel selbst demokratisiert werden muss. Es kann nicht auf der Vorherrschaft einer der beiden Gruppen beruhen. Auch in der israelischen Innenpolitik und Gesellschaft muss ein Wandel stattfinden.

Da Sie mit einem Vertreter einer deutschen Stiftung sprechen, die mit einer deutschen demokratisch-sozialistischen Partei verbunden ist, möchte ich abschließend «unsere» Position thematisieren: Wie beurteilen Sie die Rolle der deutschen Linken in den letzten Wochen und Monaten, aber auch Jahren? Und was erwarten Sie von der deutschen Linken für die Zukunft?

Ich glaube, dass diejenigen, die die israelische Regierung unterstützen, gegen das israelische Volk handeln, und ich würde von einer deutschen Linken erwarten, dass sie zum Beispiel die BDS-Kampagne (Boycott, Divestment, Sanctions) nicht kriminalisieren. Sie müssen die Prämisse nicht akzeptieren oder ihr zustimmen, aber sie sollten sie nicht kriminalisieren – weder die BDS-Demonstrationen noch diejenigen, die gegen die Besatzung sind.

Deutsche Linke unterscheiden oftmals nicht klar zwischen Antisemitismus und antizionistischen, besatzungs- und kriegsfeindlichen politischen Überzeugungen und Aktivitäten. Deshalb erkennen sie bedauerlicherweise oft nicht, dass sie die israelische Regierung unterstützen und nicht das israelische Volk.

Man sollte auch diejenigen nicht kriminalisieren, die für eine Einstaatenlösung eintreten. Ich stimme nicht mit ihnen überein, aber diejenigen, die auf der Straße rufen: «From the river to the sea, Palestine will be free!» («Vom Fluss bis zum Meer – Palästina wird frei sein»), sind nicht unbedingt Antisemit*innen. Einige von ihnen sind es, da mache ich mir nichts vor, und ich werde sie wie alle anderen Rassist*innen bekämpfen, aber viele von ihnen sind gute Menschen, die wirklich an einen demokratischen, säkularen Staat für alle zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan glauben.

Ich habe mehr als einmal Leute von der Linken getroffen, die sich dafür aussprechen, die Meinungsfreiheit dieser Menschen einzuschränken. Das halte ich für eine Katastrophe. Tun Sie das nicht. Sie spielen nur den Rechtsextremen in die Hände.
 

Übersetzung von Camilla Elle und Charlotte Thießen für Gegensatz Translation Collective

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news-51893 Mon, 15 Apr 2024 13:01:47 +0200 Krieg im Sudan: Der Hunger der Millionen https://www.rosalux.de/news/id/51893 Ohne einen baldigen Waffenstillstand droht die Situation, außer Kontrolle zu geraten. Es ist die zur Zeit größte Flüchtlingskrise des Planeten: Mehr als zehn Millionen Menschen sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mittlerweile im Zuge der Kämpfe im Sudan vertrieben worden. Das Welternährungsprogramm warnt zudem vor der größten Hungerkrise der Welt. Werde nicht bald ein Waffenstillstand erreicht, seien laut der UN-Organisation bis zu 25 Millionen Menschen von Hunger bedroht. Aber ein Ende des Bürgerkriegs, der vor einem Jahr, am 15. April 2023, begann, ist derzeit nicht in Sicht. Die Kämpfe, die damals in der Hauptstadt Khartum zwischen der sudanesischen Armee Sudan Armed Forces (SAF) und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) ausbrachen, haben sich schnell über fast das gesamte Land ausgebreitet.

Andreas Bohne leitet das Afrika-Referat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

In der Berichterstattung über die katastrophale Lage im Sudan ist oft von einem «vergessenen Krieg» die Rede, der im Schatten des Ukrainekrieges oder der Kampfhandlungen im Gazastreifen stehe. Und tatsächlich ist die Dimension des Krieges hierzulande vielen nicht bewusst. Dennoch greift die Zuschreibung zu kurz: Denn die internationalen Unterstützer beider Hauptkriegsparteien – allen voran die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) auf Seiten der RSF sowie Ägypten auf Seiten des sudanesischen Militärs, die Waffen liefern und das Gold, mit dem sich vor allem die RSF finanzieren, aufkaufen, vergessen den Krieg keineswegs.

Zudem haben westliche Länder wie die «Troika-Staaten» Norwegen, Großbritannien und die USA, die sich seit 2001 um einen Friedensprozess im Sudan bemühen, aber auch die Europäische Union, die militärischen Akteure im Sudan viel zu lange legitimiert, anstatt ihren Einfluss zu beschränken. Sie haben es versäumt, tragfähige zivile Strukturen mitaufzubauen, als es die Chance dazu gab, obwohl sie über Jahrzehnte im Sudan engagiert waren. Damit ist der Ausbruch des Krieges auch ihr Versagen. Das aber wird in der Berichterstattung vom «vergessenen Krieg» gerne ignoriert.

Wie aber konnte es überhaupt zu dieser katastrophalen Eskalation kommen? Noch im Dezember 2018 hatte die vor allem von jungen Sudanes:innen getragene Revolution das kleptokratische Regime des langjährigen sudanesischen Diktators Omar al-Bashir überwunden und eine Chance für den Übergang zur Demokratie geboten.[1] Doch den zivilen Strukturen fehlte damals die Unterstützung. Trotz der Warnungen ziviler und linker Kräfte innerhalb und außerhalb des Sudans setzte man im Namen der Stabilität auf das Militär. Die nach der Revolution eingerichtete zivil-militärische Koalitionsregierung mit dem zivilen Übergangspräsidenten Abdallah Hamdok und General Abdelfattah al-Burhan als Vorsitzendem des Militärrates festigte die Rolle des Militärs im sudanesischen military deep state, statt diesen zu überwinden. Seit Dekaden verfügt das sudanesische Militär über den Löwenanteil des nationalen Budgets und kontrolliert auch einen großen Teil der Wirtschaft.

Neben dem Militär spielen die paramilitärischen Kräfte der RSF eine entscheidende Rolle. Deren Kommandeur, Mohamed Hamdan Dagalo – genannt «Hemeti» –, ist der Gegenspieler von Armeechef al-Burhan im aktuellen Bürgerkrieg.[2] Hervorgegangen aus der Janjaweed-Miliz, die für den Völkermord in Darfur verantwortlich ist, sind sie ein toxisches Erbe des Ex-Diktators al-Bashir. Nach dessen Sturz blieb die kampferprobte Truppe, auch wegen ihrer externen Unterstützer wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, eine wichtige Macht. Ähnlich wie die SAF besitzt sie eine wirtschaftliche Basis: Sie finanziert sich unter anderem mit dem Goldabbau in Darfur und einem profitablen Söldnertum: So waren ihre Kämpfer auch im jemenitischen Bürgerkrieg aktiv.

In den Kämpfen sind nach Angaben der Vereinten Nationen bisher mehr als 12 000 Menschen gestorben.

Noch 2021 putschten die heutigen Kriegsgegner – al-Burhan und Hemeti – gemeinsam gegen die Zivilregierung. Die Bemühungen um den Aufbau einer zivilen politischen Kraft, die dem Militär entgegentritt und den Übergang zur Demokratie vorantreibt, waren damit gescheitert – gescheitert an der Machtgier ziviler Politiker und Militärs, den gesellschaftlichen Spaltungen sowie an externen Akteuren wie Ägypten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi die revolutionären Aktivitäten im Nachbarland mit Argwohn beobachtete und befürchtete, sie könnten auf sein eigenes Land ausstrahlen.

Kurz gab es noch einmal Hoffnung, als im Herbst 2022 Verhandlungen zwischen der Militärregierung und der zivilen Koalition der Forces of Freedom and Change (FFC) starteten. Sie mündeten in ein Rahmenabkommen zum erneuten «demokratischen Übergang», umfassten auch den Neuaufbau des sudanesischen Sicherheitsapparates und die Integration der paramilitärischen RSF in die reguläre Armee. Die Verschmelzung der beiden Militärformationen scheiterte letztlich jedoch an den Machtansprüchen der beiden Putschisten al-Burhan und Hemeti, die jeweils alleine über den Sudan herrschen wollen. Dabei versuchen beide, sich die gesellschaftliche und ethnische Spaltung des Vielvölkerstaats zunutze zu machen. So behauptet Hemeti, die «arabische Bourgeoisie», welche durch al-Burhan ihren verlorenen Einfluss zurückerhalte, sei sein Hauptfeind.

In dem Krieg ist die SAF mit 200 000 Soldaten zahlenmäßig den 100 000 Kämpfern der RSF überlegen. Einen schnellen Sieg konnte sie aber nicht davontragen. Im Gegenteil, die RSF kontrolliert inzwischen die Region Darfur und die strategisch wichtige Stadt Al Jazirah südlich der Hauptstadt. Khartum selbst ist weiterhin umkämpft. Und so zeichnet sich derzeit ein strategisches Patt zwischen beiden Parteien ab, während sich zugleich verschiedene lokale Milizen bewaffnen.

Vertreibung, Zerstörung und Menschenrechtsverletzungen

In den Kämpfen sind nach Angaben der Vereinten Nationen bisher mehr als 12 000 Menschen gestorben. Von den zehn Millionen Vertriebenen flohen 1,7 Millionen in andere Staaten, davon knapp 70 Prozent in die benachbarten Staaten Tschad und Südsudan. Nach Ägypten, in die arabischen Länder oder nach Europa schafften es vor allem Angehörige der Mittelklasse, während in den Flüchtlingscamps in Darfur oder im Südsudan arme, oftmals bereits früher von Vertreibung betroffene Menschen gestrandet sind.

Da sowohl die RSF als auch die SAF in dicht besiedelten Gebieten schwere Artillerie und Granaten einsetzen, sind wichtige Wasser-, Sanitär-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen weitgehend zerstört. Das gilt insbesondere für die Hauptstadt Khartum, wo Infrastruktur und Wohnbebauung in den ersten Kriegstagen massiv beschädigt wurden. Im Februar 2024 war zusätzlich die Internetverbindung für mehrere Tage unterbrochen – diese aber ist für viele im Sudan überlebenswichtig, weil sie auf digitalem Weg Geld von ihren Verwandten im Ausland erhalten.

Derart zwischen die Fronten der Kriegsparteien geraten, breitet sich in der Zivilbevölkerung der Hunger aus. Durch die Zerstörung der Infrastruktur können sich viele nicht mehr selbst versorgen. Die Kriegshandlungen haben mittlerweile die landwirtschaftliche Produktion weitgehend zum Erliegen gebracht, zudem blockieren beide Kriegsparteien immer wieder den Zugang für humanitäre Lieferungen.

Daneben ist die Zivilbevölkerung aber auch direkt von Angriffen betroffen. Ende Februar berichtete das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, dass beide Seiten Kriegsverbrechen begangen hätten, darunter wahllose Angriffe auf zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser, Märkte und Geflüchtetenlager.[3] Insbesondere die RSF ist in Darfur für Menschenrechtsverletzungen wie Tötungen und sexualisierte Gewalt verantwortlich. So haben die RSF und ihre verbündeten arabischen Milizen im April und November zwei Massaker in Geneina, der Hauptstadt von West-Darfur, verübt. Dabei wurden mehr als 10 000 Menschen getötet – die meisten von ihnen aus dem Volk der Masalit, das traditionell die SAF unterstützt. Auch der Gouverneur von West-Darfur, Khamis Abbakar, wurde im Zuge der Kämpfe gefoltert und ermordet und der Bundesstaat anschließend unter eine der RSF nahestehende Verwaltung gestellt.

Die Rolle externer Akteure

Ohne Partner im Ausland könnte sich die RSF kaum behaupten. Besonders die VAE stehen hinter der paramilitärischen Gruppe, auch wenn Abu Dhabi Waffenlieferungen an sie abstreitet. Der Nachschub an Waffen gelangt vor allem über Libyen, Tschad und Uganda ins Land. Dort beteiligen sich lokale politische Akteure am Waffenhandel. Einer davon soll der libysche Kriegsherr Khalifar Haftar sein. Auch die russische «Wagner-Gruppe» wird als Waffenlieferant für die RSF vermutet. Das ist deswegen bemerkenswert, weil die VAE viele Jahre als Verbündeter der USA in der Region agierten, jetzt aber offenbar eine sehr flexible Bündnispolitik betreiben – offenbar, um ihre ökonomischen Interessen im Sudan zu verteidigen. So haben die Emirate unter anderem in einen Hafenneubau nördlich von Port Sudan investiert.[4] Umgekehrt hat der RSF-Chef ganz persönliche ökonomische Verbindungen in den reichen Golfstaat. Dort besitzen sowohl Hemeti selbst als auch sein jüngerer Bruder Algoni Dagalo Unternehmen.

Die Machthaber in den VAE sahen die demokratische Revolution 2019 mit Sorge. Das haben sie mit dem ägyptischen Präsidenten al-Sisi gemein, anders als die emiratische Regierung in Abu Dhabi setzt dieser aber auf die reguläre Armee; Ägypten liefert ganz offiziell Waffen an die SAF.

In dieser Gemengelage musste der UN-Sonderbevollmächtige, der deutsche Diplomat Volker Perthes, seine politische Hilflosigkeit eingestehen. Nach zweieinhalb Jahren im Sudan reichte er im September 2023 seinen Rücktritt ein. Im Dezember beschloss dann der UN-Sicherheitsrat, die Mission Unitams, die Perthes geleitet hatte, zu beenden. Über die Ursache des Scheiterns wird seitdem gestritten: War es das Primat des Politischen vor dem ökonomischen Aufbau, das Querschießen externer Kräfte, die schlechte Ausstattung der Mission oder die Zusammenarbeit mit den Militärs bei gleichzeitigem Ausschluss vieler ziviler Akteur:innen? Auch wenn die Ursachen sicher vielfältig waren, der letzte Punkt hat dem Ansehen der Mission bei vielen Sudanes:innen geschadet. Denn beim Sturz al-Bashirs hatten selbstorganisierte Widerstands- und Nachbarschaftskomitees eine große Rolle gespielt. Getragen überwiegend von der Mittelklasse, hielten sie auch nach dem Machtwechsel trotz Repressionen lange den politischen Druck der Straße aufrecht, forderten den Ausbau der sozialen Infrastruktur und die Auflösung der RSF. Vor der jetzt eingetretenen Eskalation hatten sie frühzeitig gewarnt, der Krieg hat sie nun nachhaltig geschwächt. Zwar haben die Komitees von Khartum zwei Tage nach Kriegsbeginn mit einem gemeinsamen Statement ihre politische Position gegen die Militarisierung des Landes bekräftigt, sind jedoch seither vor allem mit humanitären Aufgaben beschäftigt. Von Informationen über halbwegs sichere Fluchtrouten über die Verteilung von Nahrungsmitteln bis zur Bereitstellung von Unterkünften organisierten sie die für viele Sudanes:innen überlebenswichtige Hilfe. Politisch können sie jedoch kaum noch durchdringen, gerade weil viele Aktvist:innen im Exil sind. Deshalb wird die Chance zum Aufbau einer starken Zivilgesellschaft so schnell nicht wiederkehren.

Wenn aber selbst temporäre Waffenstillstände aus religiösen oder humanitären Gründen, etwa zur Versorgung hungernder Menschen, keine Chance haben, dann liegt eine echte Konfliktlösung erst recht in weiter Ferne.

Auch gibt es wenig Anzeichen dafür, dass demokratische Staaten aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Kurzfristig setzen alle Initiativen für einen Waffenstillstand – realpolitisch nachvollziehbar – nur bei den militärischen Kontrahenten an. Überlegungen aber, wie zivile Akteur:innen einbezogen werden können, gibt es kaum. Damit wird ein Kardinalfehler der Vergangenheit wiederholt. Zwar werden immer wieder Foren für Wissenschaftler:innen, Vertreter:innen humanitärer Organisationen und für zivile Akteur:innen geschaffen, aber sie scheinen losgelöst von der Realpolitik und entfalten keine praktische Wirkung.

Doch auch alle Gespräche, die lediglich eine Waffenruhe erreichen wollen, schlugen bisher fehl. Einen der ersten Versuche starteten die USA zusammen mit Saudi-Arabien («Dschidda-Initiative»). Weitere Initiativen gab es von der Intergovernmental Authority on Development (IGAD), gestützt durch die Afrikanische Union und moderiert durch den südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir sowie den kenianischen Präsidenten William Ruto.

Keiner der Initiativen ist es gelungen, die beiden militärischen Kontrahenten an einen Tisch zu bekommen. Im März reiste der erst kürzlich eingesetzte US-Sondergesandte für den Sudan, Tom Perriello, nach Uganda, Äthiopien, Dschibuti, Kenia, Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, um Gespräche zu führen. Doch abgesehen von den Terminen ist nichts über die Inhalte dieser Gespräche bekannt.

Auch der Fünf-Punkte-Plan von Außenministerin Annalena Baerbock, den sie Ende Januar bei einer Reise nach Kenia vorlegte, bleibt mit Forderungen wie der nach Unterstützung ziviler Akteur:innen, der Unterbindung von Waffenlieferungen oder gezielten Sanktionen sehr allgemein. Wie das alles umgesetzt werden soll, ist unklar. Und so entstand der Eindruck eines hilflosen Versuchs, der vor allem vom Wunsch motiviert ist, Sudanes:innen von der Flucht nach Europa abzuhalten. Denn schon jetzt sitzen viele Geflüchtete aus dem Sudan in Tunesien fest und hoffen trotz der Lebensgefahr auf eine Fahrt über das Mittelmeer.

Wie verfahren die Situation ist, zeigt auch der folgenlos verhallte Aufruf des UN-Sicherheitsrats zu einem Waffenstillstand während des Ramadan. Vertreter der sudanesischen Armee schlossen einen solchen aus, solange die RSF nicht zivile öffentliche Einrichtungen verlässt. Wenn aber selbst temporäre Waffenstillstände aus religiösen oder humanitären Gründen, etwa zur Versorgung hungernder Menschen, keine Chance haben, dann liegt eine echte Konfliktlösung erst recht in weiter Ferne.

Der Text erschien zuerst in der Ausgabe 4/2023 der «Blätter für deutsche und internationale Politik».


[1] Vgl. Jörg Armbruster, Demokratie versus Despotie: Sudans Ringen um seine Zukunft, in: «Blätter», 2/2022, S. 101-108.

[2] Vgl. Simone Schlindwein, Sudan: Der Machtkampf der Generäle, in «Blätter», 6/2023, S. 19-22.

[4] Vgl. Oscar Rickett, How the UAE kept the Sudan war raging, in: «African Arguments», 21.2.2024.

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news-51876 Wed, 10 Apr 2024 14:09:05 +0200 Regionalwahlen in Polen: Mahnung an die Regierung https://www.rosalux.de/news/id/51876 PiS weiter in der Defensive, Teilerfolg für das Linksbündnis Am 7. April 2024 fanden in Polen Kommunal- und Regionalwahlen statt. Ihr Ergebnis war mit Spannung erwartet worden, nachdem im Oktober die national-konservative Regierung von «Recht und Gerechtigkeit» (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) abgelöst worden war. Laut Wahlumfrage (IPSOS-Exit-Poll) erreichte PiS bei den Wahlen zu den regionalen Parlamenten (Sejmiki) 33,7 Prozent, die liberale Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska, KO) 31,9 Prozent, der konservative Dritte Weg (Trzecia Droga, TD) 13,5 Prozent, die rechtsextreme Konföderation (Konfederacja) 7,5 Prozent und die Linke (Lewica, Bündnis der sozialdemokratischen Neuen Linken, Nowa Lewica, und der weiter linksstehenden Partei Zusammen, Razem) 6,8 Prozent. Seit Oktober regieren KO, TD und Nowa Lewica gemeinsam, toleriert von Razem.

Sieg der Bürgerkoalition in den Städten

Die Wahlen in den Großstädten konnte die liberale Bürgerkoalition von Ministerpräsident Donald Tusk für sich entscheiden. In Warschau, Gdańsk und Białystok wurden die amtierenden KO-Bürgermeister*innen gleich im ersten Wahlgang wiedergewählt. Die Kandidat*innen von PiS landeten in der Regel auf dem zweiten oder sogar dritten Platz. In den Fällen, in denen ihre Kandidat*innen nun zur Stichwahl antreten müssen, haben sie nur sehr geringe Chancen.

Achim Kessler leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.

Teilerfolg für die Linke

Magdalena Biejat (Razem), gemeinsame Kandidatin der Linken für das Amt der Bürgermeisterin von Warschau, erreichte mit 12,8 Prozent der Stimmen den dritten Platz nach Rafał Trzaskowski (KO) mit 57,4 Prozent und Tobiasz Bocheński (PiS) mit 23,1 Prozent. Verglichen mit den 6,8 Prozent der Linken im Landesdurchschnitt ein hervorragendes Ergebnis! Dies reichte zwar nicht aus, um mit dem amtierenden Bürgermeister Trzaskowski zu konkurrieren, zeigt aber, dass die Linke in der Hauptstadt eine starke Position hat. Biejats dynamische Kampagne hat sich offensichtlich ausgezahlt. Lewica konnte auch in Städten wie Częstochowa und Włocławek gute Ergebnisse erzielen, wo ihre Bürgermeisterkandidat*innen im zweiten Wahlgang gegen die Kandidat*innen der KO antreten werden. Allerdings bleibt Lewica mit landesweit durchschnittlich 6,8 Prozent die schwächste Partei.

Im Wahlkampf hat Lewica, derzeit kleinster Koalitionspartner in der Regierung, vor allem die Themen Wohnungsnot und Frauenrechte in den Mittelpunkt gestellt. Als einzige Partei setzt sie sich für einen Paradigmenwechsel in der Wohnungspolitik ein. Der Bau von Wohnungen ist in Polen weitgehend dem freien Markt überlassen. Der Anteil von Mietwohnungen liegt bei nur ungefähr zehn Prozent. Lewica fordert dagegen kommunale Wohnungsbauprogramme, um günstige Wohnungen anzubieten und über ein größeres Angebot an Mietwohnungen zugleich das allgemeine Mietniveau zu senken.

In Bezug auf die Rechte von Frauen betont Lewica die Tatsache, dass die meisten Krankenhäuser von der kommunalen oder regionalen Ebene verwaltet werden, so dass über das Recht von Frauen auf Abtreibung auch auf der kommunalen Ebene entschieden wird. In Polen sind Abtreibungen nur in sehr wenigen Ausnahmefällen erlaubt. Und selbst dann wird ihnen ein Schwangerschaftsabbruch häufig verweigert, weil Ärzt*innen Angst haben, dafür vor Gericht gestellt zu werden. Bei den Parlamentswahlen hatte die heutige Regierung das Recht auf Abtreibung gefordert, konnte sich aber bis jetzt nicht auf einen gemeinsamen Gesetzentwurf einigen. Das hat das Vertrauen der Frauen auf die neue Regierung erschüttert.

PiS bleibt ein wichtiger Akteur

Das schwache Abschneiden von PiS in den größeren Städten kam für niemanden überraschend. Die größte Herausforderung für PiS waren die Wahlen zu den Parlamenten der 16 Wojewodschaften (Województwa), vor allem in Ostpolen, wo sie bisher regiert. Obwohl die regionalen Parlamente keine große Macht haben, spielen sie eine wichtige Rolle bei der Vergabe von Mitteln des EU-Strukturfonds. In der Praxis bedeutet jede «verlorene» Region den Verlust zahlreicher Stellen in regionalen Behörden, die mit Parteimitgliedern besetzt werden können.

Mit 33,7 Prozent kann PiS nach dem Regierungswechsel zwar aufatmen, aber es besteht die Möglichkeit, dass sie einige Regionen verlieren wird, in denen sie bislang regiert, auch wenn sie dort nach wie vor stärkste Partei ist. Damit wurde im Wesentlichen das Ergebnis der Wahlen auf der nationalen Ebene bestätigt: PiS ist in der Defensive, bleibt aber eine starke Kraft in der polnischen Politik.

Die extreme Rechte

Zur Erleichterung vieler war der Versuch der rechtsextremen Konfederacja erfolglos, die Proteste der Bauern gegen sinkende Getreidepreise durch Importe aus der Ukraine und die hohe finanzielle Belastung durch die Klimapolitik der Europäischen Union für sich zu instrumentalisieren.

Mahnung für die Regierung

Insgesamt ist das Ergebnis eine Mahnung an die Regierung, ihre Versprechen aus dem Wahlkampf auch tatsächlich einzulösen. Wenn sie es weiterhin versäumt, die Rechte von Frauen und die soziale Situation zu verbessern, läuft sie Gefahr, bei den nächsten Wahlen die Regierung wieder zu verlieren. Die größte Gefahr ist dabei, dass Präsident Tusk alles daran setzt, Lewica innerhalb der Regierung zu marginalisieren, und zwar zulasten der Frauen und zulasten der Arbeitnehmer*innen. Wenn Tusk diese Strategie fortsetzt, läuft er Gefahr, sich selbst den Ast abzusägen, auf dem er sitzt.

Bislang konnte Lewica innerhalb der Regierung ihre Forderungen gegen Tusk nicht ausreichend durchsetzen. Notwendig wäre eine Zuspitzung der Regierungspolitik im Hinblick auf die Durchsetzung von Frauenrechten und einer Verbesserung der sozialen Situation. Gemeinsam mit Frauenrechtsorganisationen und Gewerkschaften könnte die Linke auf den Straßen Druck aufbauen, damit die Koalition sich endlich auf einen gemeinsamen Gesetzentwurf zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs einigt und die Verbesserung der Situation von Arbeitnehmer*innen in Angriff nimmt.

Die Wiedererhebung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel hat das Vertrauen auf eine soziale Politik der Regierung in Frage gestellt. Eine Fortsetzung dieser Politik wird sie auf lange Sicht die Mehrheit kosten. Denn PiS ist zwar noch in der Defensive, aber sie bleibt eine starke politische Kraft, solange es der Regierung nicht gelingt, Frauen langfristig an sich zu binden und die Arbeitnehmer*innen von PiS zurückzugewinnen.

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