Überschattetes Jubiläum: 60 Jahre Unabhängigkeit Algeriens

Mit Algerien sind zahlreiche Themen verknüpft, die für Linke relevant sind: Unabhängigkeit(skampf), die Bewegung der Blockfreien oder soziale Mobilisierung – aber auch autoritäre Strukturen, aggressiver Extraktivismus und fehlende koloniale Aufarbeitung. Zwischen März und Juli 2022 wird dieses Themen-Spezial zu Algerien anlässlich des 60. Jahrestages der algerischen Unabhängigkeit von Frankreich 1962 fortlaufend mit Artikeln zu verschiedenen Facetten rund um die algerische Unabhängigkeit und die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Land ergänzt. Die Texte sollen eine Brücke schlagen zwischen Vergangenheit und Gegenwart und dabei helfen zu verstehen, wo Algerien heute steht.

Autor: Andreas Bohne

Hirak Demonstration 2019 in Oran, CC BY-ND 1.0, Sofian Philipp Naceur

Das am 18. März 1962 unterzeichnete Abkommen von Evian beendete den algerischen Unabhängigkeitskrieg zwischen der französischen Regierung und der Nationalen Befreiungsfront (Front de libération nationale, FLN). Das Abkommen führte zwar nicht zu einer vollständigen Befriedung in den folgenden Monaten, legte aber einen weiteren Grundstein für die Proklamation der algerischen Unabhängigkeit am 5. Juli des gleichen Jahres. Noch Jahre zuvor hat Francois Mitterand, damaliger Innenminister, in Übereinstimmung mit vielen seiner Zeitgenoss*innen verlauten lassen: «L’Algérie c’est la France» («Algerien ist Frankreich»).

Ein repressives Jahrhundert der Hoffnung

Durch dieses jahrelang von französischen Offiziellen wiederholte Mantra ist es wenig überraschend, dass die französische Kolonialvergangenheit und der Algerienkrieg bis heute von vielen Französ*innen verdrängt oder gar verschwiegen wird. Auch der gegenwärtige Präsident Emmanuel Marcon konnte sich - auch aus innenpolitischem Kalkül - bis heute zu keiner konsequenten Entschuldigung durchringen. Es erscheint als logische Konsequenz, dass eine Skulptur von Emir Abdelkader, der den Kampf gegen die französische Invasion in Algerien im Jahr 1830 anführte, vor wenigen Wochen nur kurz vor seiner feierlichen Einweihung im zentralfranzösischen Amboise beschädigt wurde. Assistiert wird die französische Gesellschaft und die politische Rechte in ihren Auffassungen durch wissenschaftliche kolonialrevanchistische und –apologetische Diskurse.

Andreas Bohne ist Leiter des Afrikareferates und Referent für Nordafrika und Wissenschaftskooperationen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Der Unabhängigkeitskampf ebnete den Weg für heftige Repressionen gegen die algerische Zivilbevölkerung und gegenüber Protestierenden in Frankreich – dafür stehen Daten wie der 8. Mai 1945 oder das «Massaker von Paris» am 17. Oktober 1961, bei dem hunderte algerische Demonstrant*innen getötet und ihre Leichen in die Seine geworfen wurden, exemplarisch. Gleichzeitig war die algerische Unabhängigkeitsbewegung nicht der monolithische Block, wie er vor allem im Ausland oft dargestellt wurde und wird Spannungen über die politische Ausrichtung des Unabhängigkeitskampfes brachen bereits während des Krieges in der FLN und zwischen ihr und anderen antikolonialen Bewegungen aus. Die internen Spannungen innerhalb der algerischen Antikolonialbewegung führten nicht nur zu autokratischen Zügen innerhalb der FLN, sondern spiegelten sich auch in zunehmenden repressiven Strukturen für das ganze Land wieder.

«Habt den Mut, ihn zu lesen» schrieb Jean-Paul Sartre im Vorwort zu «Die Verdammten dieser Erde». Dessen Autor Frantz Fanon präsentiert in seinem Hauptwerk nicht nur eine schonungslose Abrechnung mit dem französischen Kolonialismus, sondern scheut auch nicht mit Kritik an der sich neuformierenden algerischen Bourgeoise. Fanon sah bereits am Vorabend der Unabhängigkeit voraus, dass sie das Kolonialsystem nicht stürzen, sondern die Position der ehemaligen Kolonialherren einnehmen würden.

Ab den 1960er Jahren begannen die neuen Machthaber*innen in Algier, die Wirtschaft des Landes auf die Förderung von Erdgas auszurichten. Diese Entscheidung sollte verheerende Auswirkungen für Algeriens politisches System und die sozioökonomische Entwicklung haben. Denn die somit im Land entstandene Rentenökonomie, die sich fast ausschließlich auf die Förderung von Erdgas und Erdöl stützt, verhinderte eine wirtschaftliche Entwicklung hin zu einer diversifizierten Wirtschaft. Die daraus resultierende Wirtschaftskrise der 1980er Jahre gipfelte zwar in der Revolte von 1988, die einer demokratischen Transition den Weg ebnete. Doch der Wahlsieg einer islamistischen Partei und der darauffolgende Militärputsch der algerischen Armee 1992 führte das Land in einen rund zehn Jahre andauernden blutigen Bürgerkrieg, der bis heute weder gesellschaftlich noch politisch aufgearbeitet worden ist.

Während des sogenannten «Arabischen Frühlings» 2011 nahm Algerien eine Sonderrolle ein, blieben doch umfangreiche Proteste aus zahlreichen Gründen aus – zumindest vorerst. Sie sollten sich erst im Frühling 2019 mit der Protestbewegung «Hirak» einen Weg an die Oberfläche bahnen und Algeriens Gesellschaft aufrütteln. Seit nunmehr drei Jahren fordert diese ein echtes demokratisches politisches System und ein Ende der Einmischung des allmächtigen Militärs in Algeriens Politik. Auch der wirkungsmächtige rhetorische Rückgriff des Hirak auf Fanons Schriften sowie die jüngsten weltweiten Black-Lives-Matter-Proteste erweitern die Sichtweise auf die von Verhaftungen und fehlenden politischen Visionen geprägte, aber dennoch nicht gescheiterten Bewegung. Getragen wird sie angesichts der heftigen Repressalien von «Le pouvoir» - wie Algeriens Militärregime im Land oft genannt wird – in Algerien zunehmend von Aktivist*innen in der Diaspora.

Außenpolitische Balance

Derweil zehrt Algerien außenpolitisch weiterhin von seiner früheren Solidarität mit vielen Befreiungsbewegungen in Afrika und anderen Teilen der Welt. Diese damals in linken Bewegungen weltweit äußerst populäre Politik ist jedoch heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Der Titel des Dokumentarfilms «Mekka der Revolutionäre» beschreibt in pointierter Weise wie Algerien damals in der Welt wahrgenommen wurde, wimmelte es doch bis in die 1970er Jahre in Algier nur so an Büros revolutionärer Unabhängigkeitsgruppen. Dass sich Algerien prägend der Blockfreien Bewegung verschrieben hatte und im Westsahara-Konflikt eindeutig Partei ergriff, führte zu hohem Ansehen – und auch Übersehen der innenpolitischen Lage – bei vielen Linken. Heute hat die Solidarität deutliche Risse bekommen. Algerien, viele Jahrzehnte ein Einwanderungs- und Transitland für Arbeitsmigrant*innen und Flüchtlinge aus Westafrika und der Sahel-Zone, schiebt heute fast im Wochenrhythmus hunderte Geflüchtete in die Nachbarländer Mali und Niger ab.

Zu Wort kommen sollen in dem Themen-Special Personen, die sich nicht nur lange Zeit mit Algerien befasst haben, sondern Personen, deren Biographie mit der älteren und jüngeren politischen Entwicklung eng verwoben ist. Herausgehoben soll an der Stelle ein Interview mit Mohammed Harbi. Während des Unabhängigkeitskrieges übernahm der bekannte Historiker wichtige Aufgaben innerhalb der FLN und nahm an den Verhandlungen über das Abkommen von Evian teil. Als Berater des algerischen Präsidenten Ahmed Ben Bella wurde er nach dem Putsch von Houari Boumedienne von 1965 bis 1968 inhaftiert. Später unter Hausarrest gestellt floh er 1973 aus dem Gefängnis in das französische Exil und arbeitet seither als Universitätsprofessor. Heute lebt er von der algerischen Geheimpolizei, radikalen Islamist*innen und rechtsgerichteten ehemaligen französischen Siedler*innen bedroht zurückgezogen in Paris.

Wir danken Werner Ruf für seine wertvollen Hinweise.