Dokumentation "Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen"

Prof. Micha Brumlik, Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, stellt sein gleichnamiges Buch vor. Die Veranstaltung findet auch am 1.3. in Hamburg statt.

Information

Zeit

02.03.2005

Mit

Prof. Micha Brumlik, Leiter des Fritz-Bauer-Instituts.

In seinem gleichnamigen Buch greift Micha Brumlik die aktuellen Debatten um Umsiedlung, Flucht und Vertreibung deutscher Bevölkerungsgruppen aus Osteuropa auf und setzt sie in Bezug zu den ihnen vorangehenden und sie hervorbringenden Nazi-deutschen Verbrechen. Es geht ihm nicht darum, das Leid der vertriebenen Deutschen zu relativieren. Er betrachtet es jedoch als eine beinahe notwendige Konsequenz der monströsen Vernichtungs- und Umsiedlungspolitik der Nazis. Seine Analyse stellt diese Politik in den historischen Kontext des »Jahrhunderts der Vertreibungen«.

Prof. Micha Brumlik ist Direktor des Fritz-Bauer-Instituts. Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt/Main (www.fritz-bauer-institut.de)

Das Buch "Wer Sturm sät" ist im Aufbau-Verlag erschienen, mit dem die RLS bei der Durchführung der Veranstaltung kooperiert. Link zum Buch: http://www.aufbauverlag.de/index.php4?page=28&show=5053

Die Veranstaltung fand auch am 1.3.2005 in Hamburg statt. >>mehr

In beiden Veranstaltungen wurde einführend darauf hingewiesen, dass gerade ein sich links verstehender Bildungsträger, der frei von jeder geschichtsrevisionistischen Sichtweise ist, sich auch historisch schwierigen, manchmal quälenden Fragen stellen sollte. Micha Brumlik greift in seinem gerade erschienen Buch Fragestellungen auf und stellt auch Vergleiche (aber eben nicht Gleichsetzungen) mit anderen Vertreibungen, Genoziden, Kriegsverbrechen, staatlichen Massenverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an. Er beginnt dabei mit den jungtürkischen Aktionen gegen die Armenier im Osmanischen Reich 1915/16, die er klar als Genozid bewertet, und spannt den Bogen über die Ereignisse von 1915/16 über Nationalsozialismus und Stalinismus bis in die neunziger Jahre (Ruanda, Jugoslawien) und die Gegenwart (Sudan, Kongo u.a.). Eine These Brumliks lautet dabei, dass den meisten Genoziden Vertreibungen vorausgingen, dass jedoch Vertreibungen nicht zu Genoziden führen müssen und an sich keine Genozide darstellen. Eine – angedeutete oder explizite – Einordnung der deutschen Opfer von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung als Genozid verwirft Brumlik daher nicht nur aus moralischen und politischen, sondern auch aus begrifflich-methodischen Gründen.  

Die Fragen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung deutscher oder deutschsprachiger Bevölkerungsgruppen aus Mittelosteuropa bzw. ihre opferreichen Umstände waren in der „alten“ Bundesrepublik, entgegen manchen heutigen Behauptungen, nie tabuisiert oder verdrängt. Ganz im Gegenteil spielten sie in der politischen Diskussion, im Verbandswesen, in Filmen und Büchern eine große Rolle. Anders verhielt es sich sicherlich in der DDR, was in der Berliner Veranstaltung am 2. März am Rande eine Rolle spielte, worauf Ralf Bachmann vom Jüdischen Kulturverein einging. Anders verhielt es sich bis zu einem gewissen Grade auch in der westdeutschen Linken seit Ende der sechziger Jahre, was in der Veranstaltung in Hamburg am 1. März thematisiert wurde. Micha Brumlik meinte dazu, angesichts der dominierenden revanchistischen und den Nationalsozialismus indirekt relativierenden Positionen in den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik sei es vielleicht unvermeidlich gewesen, dass die Linke das Thema von Flucht und Vertreibung eher ausgeklammert habe. Es stelle sich für eine heutige Linke, die sich vor allem als universell-menschenrechtlich ausgerichtetes Projekt und nicht mehr als sozialrevolutionäres verstehen müsse, anders dar.

Brumliks Buch (er spricht von einem Essay) ist in sechs Kapitel aufgeteilt. Im ersten Kapitel wird anhand der Forschungsliteratur ein kommentierender Abriss der Ereignisse von Flucht und Vertreibung ab Ende 1944 gegeben, wobei verschiedene Phasen herausgearbeitet werden:

„Die Umsiedlung der Volksdeutschen und die ersten Deportationen osteuropäischer Juden markierten die erste Phase des Vertreibungsprozesses. Darauf folgte gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und mit der zurückweichenden Ostfront die von der Wehrmacht befohlene Evakuierung der von Deutschen bewohnten Gegenden – die zweite Phase. Ihr folgte die dritte Phase unorganisierter Flucht aus Furcht vor Greueltaten der Roten Armee, an die sich schließlich die vierte, die Phase der politisch ausgehandelten Vertreibung, die sich von März 1945 bis ins Jahr 1949 erstreckte, anschloss.“ (Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin 2005,  S. 30).

Zu ergänzen wäre, dass in der von Brumlik so bezeichneten ersten Phase auch viele Polen und andere Gruppen zwangsweise umgesiedelt und die monströsen Pläne des „Generalplans Ost“ entwickelt wurden – unter Beteiligung auch von Wissenschaftlern wie Theodor Schieder, die später, wie Brumlik darlegt, an der offiziellen Geschichtsschreibung der Vertreibung der Deutschen mitwirkten, und dass sich die vierte Phase noch einmal in eine Phase „wilder“ Vertreibungen bis zur Potsdamer Konferenz sowie eine geregeltere danach unterteilen lässt.

Nachdem Brumlik sein erstes Kapitel mit einer Erörterung zum Verhältnis von Genoziden und Vertreibungen beschließt, schildert das zweite Kapitel die Rolle der Vertriebenenverbände in Bundesrepublik Deutschland und den Weg von der „Charta der Heimatvertriebenen“ von 1950 zu Erika Steinbachs „Zentrum gegen Vertreibungen“. Brumlik arbeitet dabei sowohl den nationalsozialistischen Hintergrund vieler Vertriebenenfunktionäre der fünfziger Jahre und die ungeheuerliche Anmaßung ihrer Charta als auch die (zumindest rhetorische) „menschenrechtliche Wendung“ unter Erika Steinbach heraus, die ihr Mitstreiter wie Peter Glotz und Ralph Giordano zuführte. Konsequent ernst zu nehmen wäre diese Wendung für Brumlik jedoch nur, wenn u.a. die „Charta“ aufgehoben werden würde.

Im dritten Kapitel behandelt Brumlik die Behandlung des Vertreibungsthemas in der westdeutschen Nachkriegsliteratur bis hin zu Grass „Im Krebsgang“ und anderen aktuellen Büchern. Dieses Kapitel spielte in den Veranstaltungen ebenso wie das fünfte, das sich mit „Schuld und Versöhnung vor der Geschichte“ beschäftigt, kaum eine Rolle, anders als das vierte („Das Jahrhundert von Völkermord und Vertreibung“) und sechste Kapitel, in dem deutsche Reaktionen auf Flucht und Vertreibung von Palästinensern 1947/48 und 1967 sowie die Umstände dieser Ereignisse in Israel und Palästina thematisiert werden. Dabei bezieht Brumlik einen Standpunkt, der weder „antiimperialistischen“ Israel-Kritikern auf der Linken und rechten deutschen Israel-Kritikern noch deutschen „Antideutschen“ gefallen dürfte. Gerade dieses Kapitel unterstreicht, dass Brumlik ein im positiven Sinne unbequemes, forderndes Buch vorgelegt hat, dass sich allen heiklen, komplizierten Fragen und Argumenten (erfolgreich) zu stellen versucht und dabei differenziert, ohne historische Entwicklungen und Verantwortungen zu nivellieren.

Eine der Grundeinschätzungen Brumliks besteht darin, die Vertreibungen 1945 und in den Jahren danach als den heutigen Vorstellungen von Menschenrechten vollkommen widersprechend zu charakterisieren und das Konzept des ethnisch homogenen Nationalstaats zu kritisieren. Graduelle Differenzen ergaben sich in den Diskussionen, vor allem in Berlin, aber darüber, in welchem Umfang diese Überlegungen auf die Zeitumstände von 1945 übertragbar sind bzw. ob es realistische Alternativen zur Umsiedlung bzw. ihren Formen gab. Im Wesentlichen bestand aber in beiden Veranstaltungen Konsens über Brumliks Ausgangspunkt, dass Flucht und Vertreibung gleich in mehrfacher Weise eine Konsequenz des Nationalsozialismus waren: Als Reaktion auf seine massenhaften Verbrechen wie als Fortwirkung seiner riesigen NS-Umsiedlungsaktionen, von denen auch deutschsprachige Minderheiten aus ganz Europa betroffen waren.

Während in den Diskussionen die Aussiedlung der Sudentendeutschen aus der CSR weitgehend einheitlich als kaum vermeidbar angesehen wurde, gab es zwischen Micha Brumlik und einigen TeilnehmerInnen unterschiedliche Auffassungen über das Ausmaß der Grenzveränderungen und Umsiedlungen aus dem wieder errichteten polnischen Staat. Einerseits hatte Polen noch weit mehr unter dem Nazi-Terror gelitten als die Tschechoslowakei, andererseits war die Illoyalität der meisten Sudetendeutschen gegenüber dem tschechoslowakischen Staat ausgeprägter gewesen. Diese Diskussion berührte auch die Frage der polnischen Westverschiebung, der Umsiedlung von Polen aus den zur Sowjetunion kommenden Gebieten usw.