Das bewusst provokant formulierte Thema Menschenrechte war Gegenstand der letzten Veranstaltung in der Reihe „Baustelle Europa“ im Jahr 2005, zu der die Rosa-Luxemburg-Stiftung Anfang November wie gewohnt ins Berliner Magnushaus eingeladen hatte. Die bekannte Fernsehjournalistin Bärbel Romanowski, die sich bereit erklärt hat, die Veranstaltungsreihe auch im Jahre 2006 weiter zu moderieren, befragte an diesem Abend Tor Åke Ronnie Nilsson, Botschaftsrat des Königreiches Schweden, und Tobias Pflüger, Mitglied des Europäischen Parlaments, PDS-Delegation in der Konföderalen Fraktion GUE/NGL.
Zu Beginn der Podiumsdebatte verwies Bärbel Romanowski darauf, dass die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union (EU) mit der Türkei begonnen haben, obwohl die so genannten Kopenhagener Kriterien in Bezug auf die Menschenrechte bei weitem nicht erfüllt sind. Unterschiedliche – vor allem ökonomische – Interessenlagen spielten hier nach ihrer Auffassung eine Rolle. Am deutlichsten habe dies der französische Sozialist Michel Rocard gesagt: Reden wir nicht über Menschenrechte, reden wir über Geopolitik. Nicht anders könne es ihrer Auffassung nach zu erklären sein, dass bis zum heutigen Tag Rüstungskonzerne in Krisen- und Kriegsgebieten wie dem Irak und in Afghanistan große Gewinne machen. Das veranlasste sie schließlich zu der Frage, ob die Politiker, die einerseits Frieden fordern und andererseits für Waffen stimmen, Heuchler seien?
Tobias Pflüger erklärte, er beobachte immer wieder im Europäischen Parlament, dass in der Frage der Menschenrechte gegenüber Staaten in der Dritten Welt „mit angezogener Handbremse gefahren“ werde, wenn wirtschaftliche oder/und strategische Interessen der EU-Mitgliedsstaaten berührt werden. Markantes Beispiel sei Usbekistan, wo die Bundesrepublik Deutschland den Militärstützpunkt Termes unterhalte, der für militärische Transporte nach Afghanistan von eminenter Bedeutung sei und der auch von anderen EU- und NATO-Staaten genutzt werde. Die Kritik an Usbekistan, in dem Menschenrechte massiv verletzt würden, falle äußerst milde aus – ganz anders als bei Ländern wie Simbabwe, wo die geopolitischen Interessen des Westens viel geringer seien. Es handele sich also in der Tat um eine Frage von Doppelmoral der EU.
Ronnie Nielsson berichtete, dass Schweden seit dreißig Jahren versucht, mit afrikanischen Ländern einen Dialog über Menschenrechte zu führen und dies mit Entwicklungshilfe zu verbinden. Das skandinavische Land gebe rund ein Prozent seines Bruttonationalproduktes (exakt: 0,96 Prozent) für Entwicklungshilfe aus (zum Vergleich: Deutschland: 0,27 Prozent). Schweden versuche auf diese Weise, die ökonomischen Voraussetzungen für die Einhaltung der Menschenrechte zu verbessern und halte dies für einen Erfolg versprechenden Weg. Wirtschaftliche Interessen dürften nicht gegen Menschenrechte ausgespielt werden.
Unterschiedlicher Auffassung waren die Diskussionspartner in der Bewertung des Verfassungsentwurfs des Europäischen Konvents. Ronnie Nielsson betonte, der Text für die Europäische Verfassung sei ein guter Entwurf. Tobias Pflüger kritisierte hingegen scharf die neoliberale Ausrichtung des Verfassungsentwurfs und die Bestimmungen zur Militarisierung der Europäischen Union. Er musste zugleich konstatieren, dass gerade jene Passagen des Verfassungsentwurfs zur verstärkten militärischen Zusammenarbeit und zur Rüstungsagentur umgesetzt werden, obwohl die Verfassung nicht angenommen sei und damit für ein derartiges Vorgehen die Rechtsgrundlage fehle. Während Nielsson hinsichtlich der Frage, ob die Europäische Verfassung „tot“ sei, für Abwarten plädierte, war Pflüger überzeugt, dass die Verfassungsfrage mit der Übernahme der Ratspräsidentschaft durch Österreich Anfang 2006 erneut auf den Tisch kommen werde.
Tobias Pflüger berichtete in diesem Zusammenhang davon, dass in militärpolitischen Grundsatzpapieren der EU wie der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS), dem European Defence Paper und dem Kuhne-Bericht unter dem Motto, mit den USA militärisch gleich ziehen zu müssen, angedacht wird, die Atomwaffen Frankreichs und Großbritanniens in die europäische Verteidigung einzubeziehen. Mehr noch: Teil der künftigen militärischen Strategie der EU sollen auch Präventivkriege und die Führung von Regionalkriegen zur Rohstoffsicherung sein. Ronnie Nielsson unterstrich in diesem Kontext klar, dass eine solche strategische Linie nicht die Linie Schwedens sei, das seit zweihundert Jahren neutral ist und an dieser Neutralität auch in Zukunft festhalten wolle.
In der anschließenden, für das Publikum geöffneten Diskussion ging es insbesondere um die Haltung der europäischen Linken zu den aktuellen Jugendunruhen in Frankreich und ihren Ursachen. Ronnie Nielsson und Tobias Pflüger betonten übereinstimmend, dass angesichts der erschreckenden Zustände in den Vorstädten von Paris und anderen Großstädten Frankreichs der Ausbruch des Protests nicht überraschend gekommen ist und als Reaktion auf die über lange Zeit andauernde Verletzung der Menschenwürde zu bewerten sei. Tobias Pflüger verwies auf die Einschätzung seiner französischen Kollegen in der Konföderalen Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament, dass es sich bei den Jugendunruhen um einen sozialen und nicht um einen ethnischen Konflikt handele. Die Form des Protests, bei dem auch wichtige Infrastruktureinrichtungen in den Vorstädten zerstört und Autos und anderes Eigentum der zum unteren Drittel der französischen Gesellschaft gehörenden Einwohner dieser Vorstädte angezündet und vernichtet wird, sei jedoch völlig falsch und nicht akzeptabel.
(Bericht: Jochen Weichold)