Dokumentation Gerecht ist, wenn mensch von seiner Arbeit leben kann! Wie populistisch ist die Forderung nach einem Mindestlohn?

Über Probleme der Gegenwart die ein Mindestlohn lösen soll und seine Potenziale für eine andere Gesellschaft.

Information

Zeit

05.09.2005

Mit

Mit VertreterInnen von ver.di, der AG Betrieb & Gewerkschaft der Linkspartei u.a.

Themenbereiche

Wirtschafts- / Sozialpolitik

Mit dieser Veranstaltung sollte eine auf den ersten Blick recht nachvollziehbare Forderung vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen und Überlegungen der Teilnehmenden diskutiert werden. So waren nicht Thesen der eingeladenen Gäste sondern die mitgebrachten Fragestellungen Ausgangspunkt der Debatte. Diese wurden gesammelt und dann besprochen. Nachfragebedarf gab es zu Wegen, einen Mindestlohn verbindlich zu machen und zu internationalen Erfahrungen. Der Schwerpunkt der Fragen bezog sich jedoch nicht auf das makroökonomische Konzept des Mindestlohnes, sondern seine Wirkungen auf der individuellen Ebene. Verhindert Mindestlohn Arbeitsplätze im Kleinunternehmen? Wirkt sich demnach Mindestlohn negativ auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus? Schottet Mindestlohn Arbeitsmärkte ab? Was nützt der Mindestlohn dann eigentlich den vielen Millionen Erwerbslosen? Wie berücksichtigt Mindestlohn die Realitäten von Teilzeit und öffentlich geförderter Beschäftigung? Wieso gibt es in Deutschland überhaupt Tariflöhne unter 4 € die Stunde? Und warum soll die Zukunft nicht auch ohne Erwerbsarbeit denkbar sein?

Hier waren die GesprächspartnerInnen - Dr. Lutz Brangsch von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Dr. Sabine Reiner, Mitarbeiterin beim ver.di-Bundesvorstand - als MitdiskutantInnen gefragt. In dieser sehr alltagsbezogenen Debatte, etwa über die Wirkungen des Mindestlohnes im sächsischen Friseurhandwerk (Tariflohn 3,06 €) wirkten die theoretischen Effekte einer Stärkung der Binnennachfrage durch Mindestlohn plötzlich deplaziert und wenig überzeugend. Plausibler erschien ein Rückgang nach Friseurdienstleistungen insgesamt. Dies würde zwar die verbleibenden Friseurangestellten tatsächlich besser stellen und Dumpung eindämmen, aber auch weitere Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen.

An dieser Stelle wurde der Konflikt zwischen einer sozialpolitischen Begründung des Mindestlohnes (Friseurangestellte müssen von Arbeit leben können) und einer ökonomischen (Friseurangestellte müssen einen Job finden können) exemplarisch in seiner ganzen Widersprüchlichkeit deutlich. Und je nachdem, welche Sichtweise überwiegt, wird das Ergebnis der Bewertung, ob Mindestlohn dennoch auch für Sachsen Frisörhandwerk Sinn macht, ein anderes sein. Ähnliche Konfliktlagen sind auch für das Backhandwerk, KFZ-Gewerbe oder auch den „Tante Emma“-Einzelhandel zu erwarten. Mit anderen Worten wird, insbesondere im strukturschwachen Osten und vergleichbaren Regionen der Alten Bundesländer, das soziale Problem des Niedriglohnsektors durch ökonomische Probleme einer strukturbedingt niedrigen Binnenkaufkraft, die zu einem erheblichen Teil ihre Ursache in Arbeitslosigkeit und dem forcierten Abbau staatlicher Transferleistungen hat, überlagert. Die Konzept-Logik, höhere Niedriglöhne würden nun dieses Kaufkraftdefizit nachhaltig beseitigen und damit eine (wieder) wachsende Dienstleistungsnachfrage hervorrufen, die auch Mindestlöhne wirtschaftlich macht, kann nicht nachempfunden werden. Als möglicher Denkweg wurde die Querverbindung zur Forderung nach bedingungslosem Grundeinkommen in „ausreichender Höhe“ gezogen. Dann nämlich wäre zumindest eine Kaufkraftbasis vorhanden. Wird das eine Problem aber durch scheinbar gute Ergänzungen gelöst, entstehen gleich weitere. Denn macht es wirklich Sinn, nach gedanklicher Einführung eines ausreichenden Grundeinkommens auf jegliche Möglichkeit eines zusätzlichen und deshalb niedrigentlohnten Erwerbseinkommens zu verzichten?
Der Abend hätte länger sein können, die Diskussion bot Stoff genug.

Im Resumee bleibt festzuhalten, dass ein Konzept eben ein Konzept ist und die Praxis die Praxis. Will das Konzept Mindestlohn eine realistische Chance auf Durchsetzung haben, muss es stärker und eigenständiger als bislang in der Argumentation sozialpolitisch, zur Abwehr von „Armut trotz Arbeit“ gestützt werden. Die ökonomischen Wirkungen sind im Detail eben nicht nur positive, sondern zum Teil ernsthaft problematisch für eine linke Politik (Lohndruck nach unten, Abschottung des dt. Arbeitsmarktes ...). Eine Einbettung in eine größere Strategie, in die auch die Forderungen nach Grundeinkommen, Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhungen, Tarifautonomie und eine zumindest europäische Dimension abgestimmt eingepasst werden, scheint zwingend notwendig.

Ob nach Abwägen sozialer und ökonomischer Argumente das Konzept unterm Strich dann Zustände verbessert, konnte der Abend nicht mehr klären. Die erlebte Bereitschaft der Teilnehmenden zu Mitdiskussion, der eingebrachte Sachverstand und entstandene Ideen machen jedoch Mut, das Konzept auf breiter Basis weiterzuentwickeln. Es gibt auch keine Alternative, denn 5 Millionen offiziell Erwerbslose, Tariflöhne unter 4 € sowie wachsende Armut bleiben Realitäten in diesem Land. Und „Mindestlohn“ hat zumindest den Anspruch, genau da anzusetzen ...

(Bericht: Ronald Höhner)