Haben wir ein falsches Bild von Afrika? Welche „Hilfe“ aus Europa erwartet Afrika, wenn es um Konfliktlösungen geht? Gibt es Ansätze in der Zusammenarbeit, die wirklich nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ funktionieren? Welchen Blick haben Afrikanerinnen und Afrikaner auf die europäische Politik, insbesondere auf die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union? Welche Rolle spielen die Beziehungen zwischen Europa und den afrikanischen Staaten für den Frieden in der Welt? Was ist die jetzige Entwicklungszusammenarbeit wert? Ist ein Perspektivwechsel von Nöten?
Wie einen Fächer blätterte Moderatorin Bärbel Romanowski den Fragen-Katalog auf, mit dem sie die Teilnehmer der Veranstaltung „Brennpunkt Afrika: Zwischen Aufbruch und Armut“ befassen wollte. Im Rahmen ihrer Reihe „Baustelle Europa“ hatte die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu diesem Abend Anfang September 2008 ins Europäische Haus in Berlin eingeladen. Aufs Podium gebeten waren Gabi Zimmer, die Europa-Abgeordnete der LINKEN und frühere PDS-Bundesvorsitzende, Emiliano Chaimite, Vorstandsmitglied des Ausländerrates, Dresden, und Gründungsmitglied des Vereins „Afropa“, und Andrej Hermlin, der Bandleader des Swing Dance Orchestra, Berlin und Thumaita (Kenia).
Nach dem Einspielen eines kurzen Films des ZDF-Korrespondenten Werner Heinz zur Lage in Afrika insgesamt (Stichworte: Dürren, Hunger, bewaffnete Konflikte, Armut, Krankheiten wie Aids, HIV und Malaria) und zu den Lebensverhältnissen in einer für dortige Verhältnisse mittelständischen Familie berichteten Gabi Zimmer, Emiliano Chaimite und Andrej Hermlin von ihren persönlichen Erfahrungen und Projekten in Ruanda, Mosambik und Kenia. Emiliano Chaimite schilderte die Schwierigkeiten, in Mosambik wirtschaftlich tätig zu werden, wenn man nicht zu den Clans gehört, die das Sagen haben, und einem das Geld fehlt, um die Bürokratie zu schmieren. Andrej Hermlin beschrieb Kenia als einen Hort relativ friedlicher Verhältnisse, auch wenn es bereits in der Vergangenheit im Kontext von Wahlen immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen sei. In Oppositionsführer Odinga hätten vor allem junge Menschen ihre Hoffnungen auf Arbeit und auf ein funktionierendes Sozialsystem projiziert. Die blutigen Ereignisse vom Januar/Februar 2008 hätten sich vor allem auf Elendsgebiete in West-Kenia konzentriert. Jetzt sei die Lage stabil, doch würden in den explodierenden Energie- und Lebensmittelpreisen neue Bedrohungen liegen.
Die Europa-Abgeordnete Gabi Zimmer konstatierte durchaus Fortschritte in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Afrika. Die EU habe eine für zehn Jahre bemessene Afrika-Strategie. Vorgesehen seien die Verdoppelung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit ebenso wie die Förderung der Bildungs- und Gesundheitssysteme, ein europäisches „Peace Corps“ sowie europäisch-afrikanische Partnerschaften von Parlamenten, Gemeinden, Schulen, Universitäten oder Unternehmen. Aber: „Es gibt mitnichten eine Gesamtstrategie“, sagte Gabi Zimmer. Denn: Stacheldrahtzäune werden erhöht, und EU-Innenminister wollen, dass im Rahmen von „Schutzprogrammen“ Auffanglager errichtet werden. Hier gelte es, Öffentlichkeit zu schaffen und immer wieder die Menschen unwürdigen Zustände in den Auffanglagern anzuprangern.
Die zunehmende Arbeitsmigration sei nicht durch Abschottung zu bekämpfen. Ob der Weg, Afrikas Rohstoffe durch den Bau von Straßen und Schienen schnellstmöglich auf den Weltmarkt zu bringen, der richtige ist, dürfe bezweifelt werden. In der EU wolle sich keiner mit der europäischen Agrarlobby anlegen, obwohl es auch die immensen Agrarsubventionen in Europa sind, die den Afrikanern ihre Existenzgrundlage rauben und sie zur Flucht zwingen.
Andrej Hermlin sah in den Flüchtlingen im Mittelmeer die Vorboten der kommenden Verteilungskämpfe um Wasser, um Öl und um andere Ressourcen in der Welt. Es genüge nicht, nur Geld in die afrikanischen Länder zu pumpen. Entscheidend sei die „Hilfe zur Selbsthilfe“ und in diesem Zusammenhang die Vermittlung von Bildung.
Frau Zimmer hob hervor, dass die afrikanischen Staaten sowohl nach gleichberechtigten Wirtschaftsbeziehungen als auch nach einer Partnerschaft mit der EU auf gleicher Augenhöhe streben. Sie brauchen keine einseitige Belehrung in Sachen Demokratie. In diesem Sinne vertreten sie die Auffassung, dass nicht nur die EU Wahlbeobachter nach Afrika entsenden dürfe. Auch umgekehrt müsse dies möglich sein. Man könne nicht nur von ihnen „good governance“ einfordern, wenn Belgien ein Jahr braucht, um eine funktionsfähige Regierung zu bilden.
Die Politikerin der LINKEN machte in diesem Kontext auf eine neue, Besorgnis erregende Tendenz aufmerksam: In der EU-Bürokratie gebe es in jüngster Zeit Ernst zu nehmende Stimmen, die darauf drängen, den Prinzipien von „good governance“ einen geringeren Stellenwert einzuräumen, um in der Konkurrenz mit China, Indien und einer Reihe anderer Staaten beim Ringen um den Zugang zu natürlichen Ressourcen (Erdöl, Erze usw.) die Nase vorn zu haben.
Emiliano Chaimite ist 1986 aus Mosambik als Auszubildender in die DDR gekommen. Er wurde im Heizkesselwerk Schönebeck zum Gießereifacharbeiter ausgebildet. Nach der Wende, als 80 Prozent der Menschen „zurückgeschickt“ wurden, ist er geblieben und hat sich unter großen Schwierigkeiten durchgekämpft. Seit 1991 lebt er in Dresden, einer Stadt, die nicht bei allen Ausländerinnen und Ausländern einen positiven Ruf hat. Er sitzt im Vorstand des Ausländerrates und hat den Verein für afrikanisch-europäische Verständigung „Afropa“ e.V. gegründet, dessen Palette von politischen Bildungsveranstaltungen über Projektarbeit bis zu Sprachkursen reicht.
Integration ist dem gelernten Krankenpfleger ein Herzensanliegen. In demokratischer Bildung sieht er eine unabdingbare Voraussetzung für volle gesellschaftliche Teilhabe: „Afrika braucht Respekt und Bildung.“ Emiliano Chaimite selbst hat mit seinem Verein „Afropa“ Projekte der Entwicklungszusammenarbeit – z.B. mit dem Joy-World-Kinderdorf mit integrierter Schule in Kenia – auf den Weg gebracht. Er kritisierte die Ausrichtung der offiziellen Entwicklungshilfezusammenarbeit als von oben gesteuert und forderte kleine Projekte, gemeinsam mit den Menschen vor Ort.
Andrej Hermlin, der Berliner Jazzmusiker mit der Vorliebe für Musik, Autos und Anzüge aus dem Amerika der 30er Jahre, berichtete anschaulich, wie er vor acht Jahren zum ersten Mal in das Heimatdorf seiner kenianischen Frau Joyce kam, nach Thumaita. Heute hat er dort seinen zweiten Wohnsitz und engagiert sich in Kenia sozial und politisch. Er unterstützt den Oppositionspolitiker Raila Odinga, in dem er zwar keine makellose Lichtgestalt sieht, aber doch einen Kämpfer für ein demokratisches und sozial gerechtes Kenia. Der Bandleader schilderte, wie er in Thumaita tatkräftig die Müllabfuhr organisierte und mit privaten Spenden zum Anstrich der Häuser am Dorfplatz, zur Aufstellung von Straßenlaternen und zur Sanierung der Dorfschule beigetragen hat. Hermlin erklärte, alle vom ihm verfolgten Projekte sollen nicht einzelnen allein, sondern stets der dörflichen Gemeinschaft zugute kommen.
In der anschließenden, für das Publikum geöffneten Diskussion ging es insbesondere um Fragen der konkreten Hilfe für die Projekte von Emiliano Chaimite und Andrej Hermlin und um die Frage, wie die Probleme Afrikas zu lösen seien, um das Flüchtlingsproblem an der Wurzel zu packen.
In der Debatte monierte eine Teilnehmerin enttäuscht, die Chancen und Potenzen Afrikas seien in der Veranstaltung zu wenig beleuchtet worden. Eine andere Diskutantin meinte, die Fluchtursachen müssten durch die Schaffung lebenswerter Verhältnisse in Afrika beseitigt werden – durch ein Leben ohne Krieg, durch wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Gabi Zimmer verwies auf die Millenniumsziele der UNO, die ebenso umgesetzt werden müssten wie der Kampf gegen Seuchen (HIV, Aids, Malaria). Nur dann könne die Welt solidarisch leben. Das beinhalte aber auch, dass die Europäer über sich selbst nachdenken müssten: Wenn 70 Prozent der Italiener der menschenverachtenden Ausländerpolitik der Regierung Berlusconi zustimmten, dann gebe das Anlass zu großer Besorgnis.
Auf die Position einer Teilnehmerin, die EU auf die Herrschenden in den Mitgliedsstaaten zu reduzieren, entgegnete Gabi Zimmer: „Die EU sind nicht nur die Herrschenden, sondern die EU sind wir. Wir müssen uns als Linke in die europäische Politik einmischen. Da gibt es auch Erfolge. Wir haben es in der EU nicht mit einem reinen Raubtier-Kapitalismus zu tun, sondern die Gesellschaft verändert sich.“
Ein Teilnehmer merkte an, dass die Probleme Afrikas ihre Ursache im Kapitalismus hätten. Ohne die Beseitigung dieser Ursache seien auch die Probleme dieses Kontinents nicht zu lösen.
Dem hielt Andrej Hermlin entgegen, dass es zwar in Lateinamerika – bei allen Schwächen und Problemen – hoffnungsvolle Anzeichen für einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ gebe. Er gehe jedoch davon aus, dass der Kapitalismus möglicherweise noch 150 Jahre existieren werde. Nur: „Das Dorf Thumaita kann nicht warten, bis der Kapitalismus überwunden ist.“
Jochen Weichold
Bisherige Veranstaltungen der Reihe »Baustelle Europa« (dokumentiert)
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