Dokumentation Die Linke in der Regierung – ein strategisches Projekt? Lateinamerika und Europa im Vergleich

Dokumentation der Internationalen Konferenz des RLS-Auslandsbüros in Brüssel

Information

Zeit

01.05.2009 - 04.05.2009

Mit

Regierungsvertretern und Vertretern der Zivilgesellschaft aus Lateinamerika und Europa

Themenbereiche

Staat / Demokratie, International / Transnational, Parteien / Wahlanalysen, Demokratischer Sozialismus

VertreterInnen linker Parteien und Intellektuelle aus Lateinamerika und Europa diskutieren über den Balanceakt linker Regierungsbeteiligung.

»The Left in Government – a Strategic Project«, so lautete das Thema der Konferenz, zu der am ersten Mai-Wochenende hochrangige VertreterInnen aus 20 lateinamerikanischen und europäischen Ländern in Brüssel zusammen kamen. Eingeladen hatte das Büro Brüssel der Rosa-Luxemburg-Stiftung, und so nahm Michael Brie, Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse, in seiner Eröffnungsrede denn auch Rekurs auf Rosa Luxemburg. Diese hatte in ihrem Beitrag „Sozialismus oder Barbarei“ Linke davor gewarnt, sich an bürgerlichen Regierungen zu beteiligen. Sie befand, Kapitalismus könne nicht verändert, sondern nur durch Revolution überwunden werden. Der Staat müsse ausschließlich als Instrument der wirtschaftlich herrschenden Klasse angesehen werden.

Bries Aufforderung, diese Thesen zu widerlegen, bot die Grundlage einer kontroversen zweitägigen Debatte zum strategischen Projekt Regierungsbeteiligung. So argumentierten GegnerInnen linken Mitregierens wie der Gewerkschafter Asbjörn Wahl aus Norwegen, dass die dortige Regierungsbeteiligung die radikale Linke geschwächt und neoliberale Politik erst möglich gemacht habe. Die Risiken, vor denen Linke in Regierungen stehen, sind tatsächlich kaum zu übersehen: Fast überall befinden sie sich in einer Juniorposition, sie müssen ihre Wählerschaft also fast zwangsläufig enttäuschen. TeilnehmerInnen aus Italien, Paraguay und Chile betonten zudem, dass linke Politik von strukturellen Zwängen im internationalen Umfeld eingeschränkt werde – zu gering sei der nationale Handlungsspielraum, der im Rahmen neoliberaler Regionalbündnisse für linke Projekte bleibt. In der wachsenden Interdependenz zwischen den Staaten sahen einige RednerInnen jedoch auch die Chance zur Schaffung eines handlungsfähigen gegenhegemonialen Blocks; als erfolgreiches Beispiel wurde mehrfach die Zusammenarbeit in der lateinamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ALBA erwähnt.

Als zentraler Erfolgsfaktor linker Regierungsbeteiligung gilt die gesellschaftliche Verankerung der radikalen Linken. Die Nähe zur Parteibasis und die Partnerschaft mit sozialen Bewegungen und Gewerkschaften seien entscheidend für den Erfolg linker Regierungen, fasste Cornelia Hildebrand die Ergebnisse einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung zusammen. Als Positivbeispiel nannte sie die Niederlande, kritischer sei hingegen die Regierungsbeteiligung in Schweden zu bewerten. François Houtart vom Centre Tricontinental wies darauf hin, dass solide Partnerschaften mit sozialen Bewegungen auch die Chance bieten, von der Regierung in die Gesellschaft zurückzuwirken. Im Idealfall könnten linke Regierungen „die Menschen darin unterstützen, Handlungshoheit zurück zu gewinnen, ihre Interessen zu artikulieren, wieder zum eigenen Akteur zu werden“.

Auf die konkreten Gewinne einer Regierungsbeteiligung ging Stefan Liebich, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, ein. Sei es der von der Linken auf den Weg gebrachte Öffentliche Beschäftigungssektor (ÖBS) oder das Projekt Eine Schule für alle – Regierungsbeteiligung sei der beste Weg, etwas zu verändern, und man erfülle damit „eine Verpflichtung gegenüber den Menschen, die uns ihre Stimme gegeben haben“. Ähnlich argumentierte Dag Seierstad von der sozialistischen Linken in Norwegen: Gemeinsam mit den Gewerkschaften habe man immerhin den Stopp von Privatisierungen und eine kritischere Position gegenüber WTO, Weltbank und IWF durchsetzen können.

Einen Schwerpunkt in der Debatte bildeten die Finanz- und Wirtschaftskrise und das gleich­zeitige Auftreten einer damit verbundenen Umwelt- und Nahrungsmittelkrise. Vor allem lateinamerikanische RednerInnen wie Pedro Paez, ehemaliger Wirtschaftsminister von Ecuador, sahen in dieser „kapitalistischen Weltkrise“ eine einzigartige Chance, einen Strukturwandel einzuleiten. Doch gehe von der Krise auch die Gefahr aus, dass linke Regie­rungen nun für die Konsequenzen dessen verantwortlich gemacht würden, was neoliberale konservative Regierungen verursacht hätte. Gleichzeitig ist die Linke mit ihrer Dominanz in Lateinamerika genau dort an der Regierungsmacht beteiligt, wo es den geringsten finanziellen Handlungsspielraum gibt, wo also Regierungen in der derzeitigen Situation am wenigsten verteilen können. Ein besonderer Fall ist hier Venezuela, das sich nach Ansicht von Margarita Lopez-Maya, Dozentin an der Zentralen Universität von Venezuela, entgegen weit verbreiteter Wahrnehmung nicht als bestes Beispiel linken Regierens in Lateinamerika eignet. So be­schrieb Lopez-Maya die speziellen Folgen eines politischen und wirtschaftlichen Zentralis­mus und Klientelismus, der vor allem durch die Abhängigkeit vom internationalen Ölpreis verursacht werde (Öl macht 94 Prozent aller Exporte Venezuelas aus). Sie warnte insbesondere vor den Auswirkungen, die die derzeitige Krise auf die Demokratie haben könnte.

Offensichtlich wurden während der Konferenz die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der lateinamerikanischen und der europäischen Linken. Während linke Ideen in der Bevölkerung Lateinamerikas tief verankert sind und die politische Kultur zum Beispiel in Brasilien stark von sozialen Bewegungen geprägt ist, befindet sich die europäische Linke mit dem Erbe des Eurokommunismus immer noch in der Defensive. So ist es denn auch nicht erstaunlich, dass nach einer kurzen Erfolgsphase der europäischen Linken in den 90ern heute die Regierungen in Brasilien, Bolivien und Venezuela mit großem Vorsprung vorangehen.

Trotz der Unterschiede gibt es auch gemeinsame Erfahrungen: Sowohl in Europa als auch in Lateinamerika haben linke Regierungsbeteiligungen mit stark negativ gefärbten Medienberichten und mit den Entscheidungen konservativer Gerichte zu kämpfen. Über die starke Gegenwehr der Elite können auch die aktuellen Wahlsiege in Ecuador und El Salvador nicht hinwegtäuschen. Wie Lole Llíada, Direktorin der brasilianischen Perseu Abramo Stiftung, betonte, muss es Regierungen deshalb darum gehen, zum jetzigen Zeitpunkt nachhaltige strukturelle Veränderungen anzustoßen, damit die erreichten Erfolge nicht schon nach den nächsten Wahlen rückgängig gemacht werden können: „Es mag schwer sein, während einer Krise Reformen anzustoßen, aber wir müssen Momente der Macht nutzen. Lasst es uns jetzt tun!“

Anna Striethorst, wissenschaftliche Mitarbeiterin des RLS-Auslandsbüros in Brüssel