Kiran Nagakar zählt zu einem der wichtigsten Schriftsteller Indiens. Für seinen dritten Roman „Krishnas Schatten“ (1997) erhielt er die höchste Literaturauszeichnung seines Landes, den Sahitya Academy Award. Im Jahre 2006 wurde sein gerade veröffentlichter Roman „Gottes kleiner Krieger“ zu einem der meist besprochenen Bücher auf der Frankfurter Buchmesse.
Kiran Nagarkar wurde 1942 in Bombay geboren, und er lebt seitdem in Bombay. Er studierte hier, und er arbeitete als Dozent an verschiedenen Colleges. Er war als Journalist und Drehbuchschreiber tätig, auch arbeitete er für eine längere Zeit in der Werbebranche. Berühmt wurde er jedoch für seine Romane, Theaterstücke und Filmdrehbücher. Bereits sein erster Roman, in Marathi geschrieben und 1974 veröffentlicht, »Sieben mal sechs ist dreiundvierzig«, gilt ein wichtiges Buch der indischen Literatur. Rund zwanzig Jahre später legt er den ersten Roman »Ravan & Eddie« in Englisch vor. In diesem schildert er vor dem Hintergrund wachsender religiös-politischer Spannungen das Leben von zwei Nachbarn eines Hauses im heutigen urbanen Indien, einem Hindu und eines Christ.
Kiran Nagarkars Motiv ist das Erzählen von Geschichten, und er schildert diese mit „einem indischen Bewusstsein“. Angesichts der drängenden Fragestellungen Indiens stellen sie die verschiedenen Aspekte des Verhältnisses des Einzelnen in der Gesellschaft ins Zentrum. Kiran bleibt hierin ein sehr genauer Beobachter. Für ihn ist die Zeit von Konflikten geprägt, und diese Konflikte führen den Einzelnen an essentielle Fragen seiner Existenz. Indien ist in diesem Kontext zu einem wichtigen Schauplatz geworden, und Kiran legt die daraus resultierenden Probleme dar. Schwächen der indischen Gesellschaft, wie die wachsende Kluft zwischen arm und reich und die politische Rolle der Religionen, werden hierbei für ihn tragend. Fast selbstredend fordern seine Anschauungen vor dem Hintergrund wachsender innenpolitischer Spannungen in seiner Heimat den Widerspruch heraus. Kontroversen sind hier Kiran nicht fremd. Doch in „Gottes kleiner Krieger“ beobachtet Kiran auch, dass diese lebensbedrohlichen Fragen die Welt betreffen.
„Gottes kleiner Krieger“ erzählt das Leben eines Menschen -Zia-, der in Bombay geboren wurde und dort aufwächst. Die Welt und dessen Werte stürzen um ihn ein. Das Geschäft seines Vaters geht in den Bankrott, seine Mutter lebt mit einem anderen Mann. Zia nimmt „Zügellosigkeit und Konsumdenken“ (S. 488) wahr. An einem Punkt seines noch jungen Lebens sieht er sich angesichts dessen gezwungen, sich Gott anzunehmen und als dessen Verteidiger zu agieren. Seine Erfahrungen im Westen, er studiert in Cambridge, verstärken dieses Verlangen in ihm. Er sieht nur den einzigen Weg, sein vermeintliches Engagement für Gott auch durch Gewalt zu erzwingen. Zia und später seine Inkarnation als katholischer Mönch, Lucen, meinen hierbei bestimmen zu können, was Recht und Unrecht sind. Nagarkar zeigt Zia als einen modernen und intelligenten Menschen der Mittelklasse auf, der mitten in unserer Gesellschaft lebt. Doch Zia kommt an einem Punkt seines Lebens die Fähigkeit ab, sich selbst infrage zu stellen. Zias Zeitkritik verselbständigt sich somit und führt ihn in einen mörderischen Kreislauf.
Angesichts aktueller Terrorwarnungen könnte man meinen, dass Kiran sein Roman gerade erst veröffentlicht hat. Doch er arbeitete an diesem schon drei Jahre bevor das World Trade Center in New York Ziel des Anschlages von islamischen Fundamentalisten geworden war. Das Thema des Romans von Kiran, den Extremismus als solches zu ergründen und zu zeigen, wohin dieser, der sich in allen Religionen und Ideologien entwickelt kann, führt, wird von den Entwicklungen unserer Zeit ständig aufs Neue bewiesen. Kiran legte Wert darauf nochmals zu betonen, dass der Roman nicht Fragen des Terrorismus zum Gegenstand hat, sondern das des Extremismus. In seiner Kritik zum diesem kommt er zum Schluss, dass es, um ihn verhindern zu können, wichtig ist, niemals aufzuhören Fragen zu stellen. Leider kommt diese Fähigkeit unserer Welt, und damit nicht nur Indien, mehr und mehr abhanden. Gewalt ist die dominierende und einzige Form des Dialogs geworden. Zensur und Bestimmungen der Blasphemie sind seit den 1980er Jahren bekannt. Es herrscht ein Klima des Misstrauens. Auch wenn Kiran nicht im Detail die Situation in Indien schildern wollte, so sah er hier wenig alternatives Potential. Kiran fragte, wo der Idealismus der Unabhängigkeitsbewegung eines Mahatma Gandhis und eines Jawaharlal Nehrus geblieben ist. In Kirans Roman stellt der Abt Vater Augustine, der Zia/Lucen etwa zur Hälfte von dessen Handlung zur Wahrung der Menschlichkeit und Güte aufruft, ein solches Potential dar: „Gott könnte Sie mit ihrem besonderen Talent auf dem Gebiet der Wirtschaft ausersehen haben, das ökonomische Gleichgewicht, insbesondere der Dritten Welt, zugunsten der Armen und Benachteiligten zu verlagern“ (S. 390). Man ist geneigt festzustellen, dass gerade die Vernunft und die Weisheit solcher Menschen jenen Gegenentwurf zu Zias Leben zur Gewissheit macht. Hierzu lenkte eine Teilnehmerin der Veranstaltung während der Diskussion mit Kiran die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten der Bildungsarbeit von Stiftungen wie der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Kiran Nagarkars Betrachtungen zu Fragen des Extremismus zeigen, dass sie akut und uns somit näher sind, als der/die eine oder andere möglicherweise vermutet. Kiran lässt einen auch schlussfolgern, dass deren eingehende Analyse die notwendige gesellschaftliche Alternative ermöglichen kann.
Kiran Nagarkar, Gottes kleiner Krieger, München: A1 Verlag, 2006, 694 S.
Dr. Michael Schied