Der scharfsinnige Beobachter Bertolt Brecht schrieb: „In den Zeiten der Schwäche fehlt es oft nicht an richtigen Leitsätzen, sondern an einem einzigen. Von der Lehre paßt ein Satz zum andern, aber welcher paßt zum Augenblick? Es ist alles da, aber alles ist zuviel. Es fehlt nicht an Vorschlägen, aber es werden zu viele befolgt. […] In den Zeiten der Schwäche ist vieles wahr, aber es ist gleich wahr; ist viel nötig und kann weniges geschehen…“ Der Hintergrund für diese Tatsache ist, so Frigga Haug in ihrem Referat auf dem Symposium, dass Herrschaft die Unterlegenen verstrickt in Knoten, dass sie sich selbst binden in Verhältnisse, denen sie sich dabei unterwerfen. Ihre eigenen Anstrengungen. Hoffnungen und Wünsche sind es, die die Herrschaftsknoten enger und enger machen. Indem sie an einem Ende ziehen, binden sie alle Ende noch fester zusammen.
Wie also diese Knoten befreiend und solidarisch auflösen? Ausgehend von einer Deutung des Märchens vom Fischer und seiner Frau zeigte Frigga auf, welcher Kunst es bedarf, aus diesem Verstricken auszubrechen. Es müssten Strategien entwickelt werden, die an verschiedenen Fäden zugleich ziehen, eine Vier-in-Einem-Perspektive entwickeln, durch erst die sehr unterschiedliche Forderungen der sozialen, der ökologischen, der feministischen, der radikaldemokratischen Linken ihre befreienden Charakter erhalten.
Das Symposium war Teil der gemeinsamen Arbeit, die Frigga Haug mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung verbindet. Wie Konstanze Kriese einleitend bemerkte, ist Frigga Haug nicht nur Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung, sondern auch Autorin in einer ganzen Reihe von Publikationen der Stiftung, unteranderem zu Luxemburgs revolutionärer Realpolitik. Das Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus, das Frigga Haug gemeinsam mit ihrem Mann Wolfgang F. Haug und Wolfgang Küttler herausgibt, wird seit vielen Jahren durch die Stiftung gefördert. Viele ihrer Mitarbeiterinnen und Schülerinnen sind im Umfeld der Stiftung tätig. Dadurch wird viel gemeinsame Aufgabe an der Lösung von Herrschaftsknoten geleistet.
Das Symposium folgte dem von Frigga Haug gespannten Bogen. Katja Kipping, Vorsitzende der Partei DIE LINKE, griff die Marxsche These auf, dass in einer nachkapitalistischen Gesellschaft sich letztlich alle Ökonomie in der Ökonomie der Zeit auflösen würde. Solidarische Befreiung sei nur möglich durch ein radikal neues Verhältnis von Zeit in den Reichen der Notwendigkeit und den Reichen der Freiheit. Die Frauenaktivistin Gabriele Dietrich aus Südindien zeigte, wie sich Herrschaftsknoten und befreiende Kämpfe unter den Bedingungen der unheilvollen Verknüpfung von neoliberalem Finanzmarkt-Kapitalismus und Frauenunterdrückung, Landraub und Zerstörung der gemeinschaftlichen Lebensgrundlagen darstellt.
Melanie Stitz, Regionalbüromitarbeiterin der Stiftung im nordrhein-westfälischen Duisburg, stellte ihrerseits die Erfahrungen dar, die sie aus der Bildungsarbeit mit Frigga gewonnen hatte. Else Laudan, Leiterin des Argument-Verlages, zeigte die emanzipative Wirkung seiner Reihe von Frauenkrimis, die ganz radikal am Alltag und zugleich an der Kriminalität der herrschenden Politik und Ökonomie ansetzen. Den Abschluss machte Sybille Stamm, langjährige Gewerkschaftsfunktionärin und eine der Landessprecherinnen der Partei DIE LINKE in Baden-Württemberg, die die Bedeutung des von Frigga Haug geleiteten Projekts Automation und Qualifikation in den 1970er und 1980er Jahren für die strategische Orientierung der IG Metall aufzeigte. Aufklärende konkrete Forschung, die den Risiken wie aber auch Chancen von Produktivkraftentwicklung unter kapitalistischen Bedingungen nachging, erwies ihre Überlegenheit gegenüber Thesen von der Polarisierung zwischen wenigen Gewinnern und vielen Verlierern der Automation unter den Facharbeitern. Die Vorträge des Symposiums werden als Paper der Rosa-Luxemburg-Stiftung erscheinen.
Michael Brie
Zusammenfassung der Symposium-Texte
Videodokumentation (wir bitten, den schlechten Ton am Anfang zu entschuldigen):
Anmerkung von Melanie Stitz zu ihrem Vortrag (ab 2:16:25):
«Missverständlich spreche ich hier vom Konzept der "Mittäterinnenschaft". Dieser Begriff ist eng verknüpft mit den Arbeiten Christina Thürmer-Rohrs zu Rolle und Beitrag von Frauen in totalitären Systemen. Im Kontext dieses Vortrags beziehe ich mich jedoch auf Frigga Haugs Aufsatz "Frauen - Opfer oder Täter?" (1980), indem sie ausführt, inwiefern Frauen eben jene Verhältnisse mit herstellen, in denen sie sich selbst als Unterdrückte erfahren. Sie verwendet den Begriff der "Mittäterinnenschaft" in diesem Kontext nicht.»
Programm:
Erster Teil (15 bis 17 Uhr), Moderation Konstanze Kriese | |
Fotos aus den letzten 75 Jahren kommentiert durch Wolf F. Haug | |
Vorträge | Frigga Haug: Was bringt es, Herrschaft als Knoten zu denken? |
Katja Kipping: Ökonomie der Zeit, darin löst sich alle Ökonomie auf | |
Gabriele Dietrich: Denken und Handeln in Alternativen, um bei Verstand zu bleiben | |
Lesung | Volker Braun: „Die Diener zweier Herren oder: Truffaldino in Taranto“ |
Pause (17 bis 18 Uhr) | |
Zweiter Teil (18 bis 20 Uhr), Moderation Konstanze Kriese | |
Ausschnitte aus Filmen und Interviews mit Frigga Haug | |
Vorträge | Melanie Stitz: Lernen, Knoten zu entwirren |
Else Laudan: Die dunklen Knoten aufspüren. Kriminalromane als Bausteine einer Politik des Kulturellen | |
Sybille Stamm: Den Herrschaftsknoten durchschlagen oder auflösen? Widersprüche in der politischen Arbeit | |
Diskussion | Die Referentinnen im Gespräch befragt durch Katharina Pühl und Silke Veth |
Schlussbemerkung von Frigga Haug | |
Empfang zu Ehren von Frigga Haug (nach 20 Uhr) |