Dokumentation Unterirdische Gespräche über irdische Probleme: Energie, Umwelt, Mensch und Politik

Information

Veranstaltungsort

Salzbergwerk Wieliczka
Daniłowicza 10
Wieliczka

Zeit

24.09.2014 - 25.09.2014

Themenbereiche

Gesellschaftliche Alternativen, Sozialökologischer Umbau

540 km Ostsüdost (Luftlinie), 120 m Richtung Erdmittelpunkt, an Goethe vorbei – auch so ließe sich die Topografie einer internationalen Konferenz am 24. und 25. September beschreiben, die sich mit Fragen der Energiepolitik aus sozialer Perspektive befasste. Eingeladen dazu hatten das Warschauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung und die einflussreiche polnische Bergarbeitergewerkschaft der ZZG (Związek Zawodowy Górników w Polsce).

Wieder einmal war dies eine sehr interessante und gelungene Veranstaltung, die von Joanna Gwiazdecka und ihren Mitarbeitern mitorganisiert wurde (siehe auch meinen Bericht über die Konferenz über die Geschichtspolitik und den Umgang mit der Geschichte in Zamość Anfang Juli diesen Jahres), und wieder war es für mich sehr bildend.

Zunächst etwas zum Tagungsort oder, wie es heute heißt, zur Location. Die Tagung fand untertage statt, genauer in dem ehemaligen Salzbergwerk Wieliczka, knapp 20 km südöstlich von Kraków. Seit 1978 ist diese Mine Weltkulturerbe der UNESCO und zieht jährlich 1 Million Besucher aus aller Welt an, darunter viele Schulgruppen aus Polen. Die Kinder kommen mit an- und aufgeregten Gesichtern wieder zutage.

Um zu unserem Konferenzraum zu gelangen, geht es für uns erst einmal 120 m hinab in die Unterwelt: Wir steigen zu sechst (je nach Körperfülle) in den bergmännischen Aufzug; dann wird es dunkel und zugig, und wir hören die Signale der Bergarbeiter untereinander. Durch einen relativ breiten Stollen gehen wir, an mehreren Kammern und Statuen vorbei, in Richtung unseres Konferenzraumes. Hier unten ist im Laufe der Jahrhunderte eine Welt für sich entstanden mit Kammern, in welchen früher das Steinsalz abgebaut wurde, Verbindungsstollen mit einer Gesamtlänge von ca. 300 km, unterirdischen Seen, ja sogar einer Kirche, in welcher der Altar, die Fresken und selbst die Kronleuchter  aus Salz bestehen. Die Wände sind steingrau, in ihnen ziehen sich die kristallinen Salzadern entlang – wenn man mit einem angefeuchteten Finger darüber streicht, schmeckt er salzig. Eine der Kammern heißt Weimar-Kammer, und vor ihr steht überlebensgroß Johann Wolfgang von Goethe, aus Salzstein gehauen: Im Jahre 1790 stattete er dem Salzbergwerk einen Besuch ab, schließlich war er am Weimarer Hof in Sachen Reform des Bergbaus aktiv. Dennoch: In Wieliczka eine für mich unverhoffte Begegnung mit diesem Herrn.

Im Konferenzsaal selbst treffen nach und nach die ca. 50 KonferenzteilnehmerInnen aus fast allen Teilen der Welt ein: Es entsteht ein Sprachgewirr aus Polnisch, Russisch, Englisch, Spanisch und Französisch – die DolmetscherInnen haben zu tun.

Die Themen der Konferenz sind vielfältig: Die TeilnehmerInnen stellen die Energiefragen aus ihrer jeweils spezifischen nationalen Perspektive. Was sie eint ist die Frage danach, ob es denn so etwas wie eine europäische, wenn nicht gar internationale/globale Energiepolitik sozialen Zuschnitts geben kann, welche also die Belange der betroffenen Menschen, darunter auch der künftigen Generationen, mitberücksichtigt. Hört man den Beiträgen zu, wird deutlich, wie diffizil die mit Energiefragen verbundenen Probleme sind und wie kompliziert eine internationale Energiepolitik wäre. Mir als Laiin wird klar: Hier wie überall gibt es nicht die eine einfache Lösung, das Herangehen muss komplex und vielschichtig sein.

Differente Positionen zu den jeweils konkreten Energiefragen treten schon, wie die RednerInnen aufweisen, innerhalb der jeweiligen Nationalstaaten auf. Je nach geografischer Lage und Ausgestattetsein mit Rohstoffvorkommen differieren die Positionen und Politiken zwischen den Nationalstaaten, und hinzukommen Differenzen zwischen den Regionen auf globaler Ebene. Energiefragen sind nur im politischen Kontext zu sehen, ja mehr noch: Energiefragen sind politische Fragen, und möglicherweise sind es ja die politischen Fragen der Zukunft.

Das wird schon deutlich am „polnischen Fall“ selbst: Joanna Gwiazdecka wie auch Dariusz Potyrała, ZZG-Vorsitzender, betonen in ihren Eingangsworten den politischen Kontext der Konferenz. Diese finde zu einem Zeitpunkt statt, zu dem in Polen eine neue Regierung die Macht übernimmt; es werde sich herausstellen, wie diese zu den traditionellen Energieformen Polens (Stein- und Braunkohle) und damit zu den Bergarbeitern stehe; zum anderen habe der Russland-Ukraine-Konflikt Auswirkungen auf die Energiesituation. (So blockierten gerade in der Nacht zum 24. September an der russisch-polnischen Grenze Mitglieder der Gewerkschaft Solidarność die Gleise, auf welchen russische Kohle, die billiger ist als die polnische, nach Polen eingefahren wird.) Und schließlich wirke sich auch die Situation in Südosteuropa auf die polnische Energiesituation aus.

Die polnischen Konferenzteilnehmer weisen darauf hin, dass Stein- und Braunkohle die wichtigsten Energieträger Polens sind. Der Bergbau ist ein mächtiger Wirtschafts- und Arbeitsplatzfaktor, allerdings mit abnehmender Tendenz: Wurden in den 70er Jahren 200 Mio. Tonnen Steinkohle abgebaut, so waren dies 2001 noch 100 Mio. Tonnen, während die Zahl im Jahre 2013 auf 73 Mio. Tonnen sank. Die natürlichen Vorkommen an Stein- und Braunkohle begründen die hohe Energiesicherheit und Unabhängigkeit des Landes in dieser Hinsicht. Sollten nun, so der Vertreter der Kohlegewerkschafter, die polnischen Arbeiter aus Gründen der Umweltschonung für eine Reduzierung des Abbaus kämpfen, und damit ihre eigene wirtschaftliche und damit soziale Existenz untergraben? Sein Heimatland, so ein polnischer Vertreter, stehe unter mehreren Koordinaten: a) sind dies die natürlichen Rohstoffvorkommen, insonderheit Stein- und Braunkohle; b) handelt es sich um die Vorgaben der EU, die auf eine Reduzierung des Abbaus ebendieser Rohstoffe und den Übergang zu den erneuerbaren Energien drängt; und c) ist da die geografische Lage des Landes zwischen den beiden „Riesen“ Russland einerseits, Deutschland andererseits mit ihren energiepolitischen Auswirkungen. Eine der Auswirkungen ist eben die bereits erwähnte Konkurrenz preiswerter Kohle aus russischen Minen, die andere die Frage des Erdgases aus Russland, welches nicht erst seit der Ukraine-Krise als politisches Druckmittel verwendet wird, wovon auch Polen im Zweifelsfalle betroffen wäre.

Die Kohle spielt nicht nur in Polen eine solche Rolle. Ralf Henrichs von der Ökologischen Plattform in NRW weist auf die diesbezüglichen Debatten innerhalb der deutschen LINKEN hin, welche etwa die Brandenburger LINKE vor eine Zerreißprobe gestellt hatten, und erläutert das energiepolitische Programm der Partei DIE LINKE. In Südafrika wie China bildet bis dato die Kohle den Hauptenergieträger: Die Vertreter beider Staaten betonen die hohen sozialen Kosten, die damit verbunden sind: die extreme Umweltverschmutzung, ja die Zerstörung der Natur, darin eingeschlossen der menschlichen: So stehe Peking an 2. Stelle des WHO-Gesundheitsreports, was das Auftreten von Lungenkrebs anbelangt. China sei derzeit hauptverantwortlich für den weltweit steigenden Energiebedarf, es habe die USA abgelöst. 2020 werde diese Rolle wahrscheinlich von Indien übernommen.

Ein Übergang zu anderen Formen der Energieerzeugung und -verwendung steht also dringend an. Dass aber der Übergang zu den sog. Erneuerbaren Energien, also Biogas, Photovoltaik, Windenergie u.a. nicht unproblematisch ist und ebenfalls hohe soziale Kosten haben kann, darauf verweisen nicht zuletzt die beiden Teilnehmer aus Mexiko: Sie stellen den Fall eines Windenergieparks im Golf von Tehuantepec vor, einer Region, die bislang hauptsächlich von traditionell lebenden Indianern bewohnt wird und wo 52% kommunales Eigentum herrscht. Diese Lebensweise wird nun von internationalen Konzernen bedroht, die hier ausgedehnte Windparks errichten wollen und die ansässige Bevölkerung mittels physischer und psychischer Gewalt von ihrem Territorium zu vertreiben suchen.

Auch die differente nationale Bewertung von Energieträgern wird deutlich: Während etwa in Deutschland, spätestens seit Tschernobyl, verstärkt noch einmal durch Fukushima, Atomenergie als äußerst gefährlich und im Ernstfall als nachhaltig extrem destruktiv (sowohl was die äußere Natur als auch was die Natur des Menschen selbst anbelangt) angesehen wird, wird sie in anderen Staaten, angefangen von Frankreich, als sauberer und moderner Energieträger gewertet. Auf die Diskussionen um den Bau eines Atommeilers in seinem Land, der von der in einem Referendum befragten Bevölkerung abgelehnt, von den Regierungen jedoch forciert wird, geht der Vertreter aus Litauen ein.

Summa summarum plädieren die meisten der KonferenzteilnehmerInnen für einen Mix aus traditionellen Energieträgern, die aus unterschiedlichen Gründen heraus (Umwelt, aber auch deshalb, weil diese sich ohnehin mittelfristig erschöpfen) zurückgefahren werden müssen, und erneuerbaren Energien, wobei der Übergang zu den Erneuerbaren sozialverträglich und nichtdiktatorisch verlaufen sollte. Zugleich müsse eine deutliche Effektivierung des Energieeinsatzes herbeigeführt werden. Von mehreren TeilnehmerInnen wurde im Übrigen Deutschland unter diesen Gesichtspunkten als vorbildlich dargestellt.

Viele Fragen wurden also auf dieser internationalen Konferenz aufgeworfen, und meine Hauptfrage am Ende ist: Welchen Einfluss werden diese Debatten haben auf die praktische Politik im Konferenzland selbst, also Polen, in meinem Heimatland, und in all den Ländern, aus welchen die KonferenzteilnehmerInnen kommen? Wie können wir an der praktischen Lösung der vielen drängenden Fragen teilnehmen, vor denen die Menschen in den unterschiedlichen Teilen dieser Welt stehen?

Ungeachtet dieser für mich erst einmal nicht lösbaren Fragen bin ich wieder einmal beeindruckt von der Höflichkeit und Gastfreundschaft unserer polnischen GastgeberInnen. Und am Diensttagnachmittag finde ich auch noch Zeit, mir die Altstadt Krakóws mit dem Königsschloss und der Kathedrale auf dem Wawel anzuschauen, wo die polnischen Könige gekrönt und begraben wurden. Den größten Einfluss besaß Kraków vom 10. bis zum 16. Jahrhundert, als es polnische Hauptstadt war; nachdem 1596 Warschau zur Hauptstadt Polens erklärt wurde, verlor Kraków diese Bedeutung. Seit der Zeit der polnischen Teilungen beansprucht die Hauptstadt von Małopolska (Kleinpolen)  die Rolle der „wahren“ oder auch „geistigen“ Hauptstadt Polens für sich. Der Reichtum der Stadt beruht, vergleichbar mit dem Salzburgs und des Salzburger Landes, im Übrigen auf dem Salzabbau, so erfahre ich.

Bei der Führung durch Schloss und Kathedrale schließe ich mich einer französischen Reisegruppe an; ich bewundere die riesigen Gobelins aus Flandern. Unsere „Führerin“ erzählt von der Weltreise, die die Teppiche hinter sich haben, um vor Krieg und Raub durch Deutsche und Russen gerettet zu werden… Und sie deutet auf die unterschiedlichen Stilepochen hin, die im Schloss aufeinanderstoßen, da seit seiner Errichtung unter Zygmunt I. unablässig an ihm gebaut wurde: So treffen hier Renaissance, Barock, Rokoko, Empirestil aufeinander; sogar ein Bad im Stil des Art déco der 1920er Jahre ist zu besichtigen mit einer in den Boden eingelassenen Wanne aus weißem Carrara-Marmor. Hans Frank, Generalgouverneur der von den Deutschen besetzten polnischen Gebiete, residierte auf dem Wawel seit November 1939 – seine eigenen Parteigenossen nannten das Territorium spöttisch Frank-Reich: Hat dieser Hans Frank in der weißen Wanne aus Carrara-Marmor sein Bad genommen?

Als ich vom Wawel Richtung Rynek Główny die schönen Altstadtstraßen entlanglaufe – der Stadt blieb die Zerstörung im II. Weltkrieg erspart –, wird mir die Bedeutung von Jan Paweł, bei uns eher bekannt als Papst Johannes Paul II., bewusst: Schon auf dem Wawel gibt es ein ihm gewidmetes Museum und eine Statue des Polen, der unweit Krakóws geboren wurde, in der Stadt von 1938 bis 1978 lebte, studierte und hier seinen Bischofssitz hatte. Immer wieder erinnern Namensschilder und Plaketten an ihn. Nach einer Stärkung durch Pelmeni und Kwas in einem kleinen russischen Restaurant spaziere ich weiter und komme vorbei an Werbeplakaten mehrerer Touristikunternehmen, die für Busreisen nach Zakopane in der Tatra, zur Saline Wieliczka und nach Oświęcim, bekannt als Auschwitz, werben, das nur 52 km von Kraków entfernt liegt…

So gehe ich mit gemischten Gefühlen durch die Altstadt Krakóws und denke über die komplizierte Geschichte des Landes und der deutsch-russisch-polnisch-jüdischen Beziehungen nach.

Am Mittwochabend fahre ich dann mit Krzysztof Pilawski, einem Warschauer Publizisten, nach Kazimierz, dem jüdischen Stadtteil Krakóws. An dem Abend wird Rosh Hashanah gefeiert, das jüdische Neujahrsfest. Leider kommen wir etwas spät, die Synagoge ist bereits zu. Doch allein durch die Straßen zu laufen ist eindrucksvoll. Die ul. Józefa, also die Josefstraße, erinnert mich an die Straße, in der sich in dem Film „Der große Diktator“ mit Charlie Chaplin der Salon des von diesem verkörperten Friseurs befand. Dieser Film wurde wohl nicht in Kraków gedreht, dafür aber ein anderer, nämlich „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg. Denn die Rüstungsfabrik von Oskar Schindler, in welcher er 1200 jüdische Männer und Frauen beschäftigte und auf diese Weise vor dem Tod in Auschwitz rettete, befand sich in Kraków und ist noch heute zu besichtigen. Weite Teile des Filmes wurden in Kazimierz aufgenommen.

Mit all den Impressionen fliege ich wieder nach Haus. Und wenn mir auch die Auswirkungen der Konferenz auf die europäische, wenn nicht gar globale Energiepolitik und -wirtschaft noch nicht ganz klar sind – auf unsere häusliche Wirtschaft hat sie einen ganz unmittelbaren Einfluss: Denn neuerdings würzt meine Mutter Ursula die Speisen, die sie für die Großfamilie zubereitet, mit sól kamienna, also Steinsalz, aus der Kopalnia Soli "Wieliczka".

Effi Böhlke, Oktober 2014