Dokumentation Kämpfen und Überleben am Kurd Dagh

Eine Veranstaltung zur aktuellen Situation im syrisch-kurdischen Kanton Afrin seit der Eroberung durch die türkische Armee

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Zeit

17.04.2018

Themenbereiche

International / Transnational, Krieg / Frieden, Westasien, Libanon / Syrien / Irak, Westasien im Fokus

Die Weltgemeinschaft verschließt größtenteils die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen, die derzeit in der durch die Türkei besetzten Stadt Afrin stattfinden.

Helin Evrim Sommer, entwicklungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, findet klare Worte zu den spärlichen internationalen Reaktionen auf den völkerrechtswidrigen Angriff auf den syrisch-kurdischen Kanton Afrin und die anschließende Eroberung der gleichnamigen Stadt durch die türkische Armee im März dieses Jahres.

Der Alltag der türkischen Besatzung stand im Mittelpunkt der Buchvorstellung und Podiumsdiskussion «Kämpfen und Überleben am Kurd Dagh», die am Dienstag, den 17. April, im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung stattfand.  Neben Helin Evrim Sommer war Dr. Thomas Schmidinger aus Wien, Nahost-Experte und Autor des Buches «Kampf um den Berg der Kurden», der zweite Gast auf dem Podium. Moderiert wurde der Abend von Dr. Stefanie Kron, Referentin für Internationale Politik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Redaktionsgruppe der beiden Online-Dossiers der Stiftung zum Nahen Osten und zur Türkei hatte die Veranstaltung organisiert.

Afrin unter türkischer Besatzung

Details
Interview mit Thomas Schmidinger (Nahost-Experte und Autor des Buches «Kampf um den Berg der Kurden») und Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages, Die Linke) über die Lage in den kurdischen Gebieten im Frühjahr 2018.

Nach einem zweimonatigen Angriffskrieg wurde die Stadt Afrin in der zweiten Märzhälfte von der türkischen Armee und ihren verbündeten islamischen Milizen, eingenommen. Der Kanton Afrin gehört zu der kurdischen Autonomieregion Rojava in Nordsyrien. Am 20. Januar 2018 hatte, auf Befehl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die türkische Militäroffensive auf Afrin begonnen. Ziel war es, die kurdische Miliz YPG aus der türkisch-syrischen Grenzregion zu vertreiben. Die Türkei bezeichnet die YPG als Terrororganisation und sieht in ihr den syrischen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Tatsächlich ist jedoch mit dem Angriff auf Afrin die letzte demokratische und multiethnische Bastion in Syrien zerstört worden, denn der Kanton galt als eine der wenigen noch weitestgehend vom Krieg in Syrien verschonten Regionen. Viele Geflüchtete aus ganz Syrien haben hier in den vergangenen Jahren Zuflucht gefunden.

Thomas Schmidinger zufolge sind in den vergangenen Jahren bis zu 300.000 Geflüchtete nach Afrin gekommen. Kurd*innen aus Aleppo fanden hier oft Unterschlupf und Unterstützung bei Verwandten. Aber auch Araber*innen und Angehörige anderer Minderheiten wurden in Afrin aufgenommen. Wer komplett mittellos kam, habe zumindest einen sicheren Platz und ein Zelt bekommen.   

Die aktuelle Lage in Afrin, betonte Schmidinger, ist hingegen nur sehr schwer einzuschätzen. So gibt es keine unabhängige internationale Berichterstattung, weil die Türkei jeglichen Zutritt von Journalist*innen aus anderen Ländern in die Region unterbindet. Lediglich die Propagandasender der Türkei dürften über die Lage in Afrin berichten. Vereinzelt gebe es Informationen vom Untergrund-Medien-Netzwerk der PKK. Zudem hätten, so Schmidinger, seit der türkischen Eroberung am 18. März auch die letzten Informant*innen des Politikwissenschaftlers Afrin verlassen.

Das letzte Mal war Thomas Schmidinger 2015 für eine Recherche in Afrin. Schon damals war die Stadt nur sehr schwer zu erreichen und langwierige Kontrollen durch islamistische Milizen, die die Gebiete um Afrin herum kontrollierten, unvermeidbar. Erst Mitte April dieses Jahres ist Schmidingers Buch «Kampf um den Berg der Kurden» erschienen, in dem sich der promovierte Politikwissenschaftler intensiv mit der Region Afrin auseinandersetzt. Wichtig ist dem Autor auch die Geschichte der Region, die bis zu 50.000 Jahre zurückreicht und dessen kulturelles Erbe nun durch die türkischen Besatzer zerstört wird.

Auch Helin Evrim Sommer betont die derzeit sehr unübersichtliche Lage, insbesondere der Menschenrechte, in Afrin. Sommer ist seit Herbst 2017 entwicklungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag. Sie hat nicht zuletzt auch einen sehr persönlichen Bezug zu diesem Thema. Sommer ist in Varto in der Osttürkei geboren und kurdisch-alevitischer Herkunft. Sie ist die Tochter von Kazim Baba, dem Gründer der ersten sozialistischen Lehrer*innengewerkschaft «TÖP-DER» in der Türkei. Baba wurde aufgrund seines politischen Engagements vom türkischen Militär verfolgt und zu 15 Jahren Haft verurteilt. Von 1971 bis 1973 saß er im für Folterungen berüchtigten Militärgefängnis in Diyarbakır in Haft. Er hatte Glück und wurde durch Neuwahlen und eine darauf folgende Amnestie für politische Gefangene aus dem Gefängnis entlassen. Nach dem erneuten Militärputsch 1980 stand Baba auf der Todesliste des Regimes und die Familie sah sich gezwungen, die Türkei zu verlassen. Schließlich flüchteten sie aus der Türkei nach West-Berlin.

So ist es auch ein persönliches Anliegen von Helin Evrim Sommer, sich als entwicklungspolitische Sprecherin für den Frieden in der Türkei und im Nahen Osten einzusetzen. Die kaum existente unabhängige Berichterstattung, so Sommer, mache die aktuelle Einschätzung der Menschenrechtslage sehr mühselig. Dennoch seien einige Berichte von Vergewaltigungen an Jesid*innen und muslimischen Kurd*innen, Folterungen und Plünderungen bekannt geworden. Sommer zufolge sind vor allem die Jesidinnen in diesem Konflikt besonders verletzlich und von sexualisierter Gewalt durch islamistische Milizen und türkische Soldaten betroffen. Dies liege auch daran, dass Jesid*innen oft zu den ärmeren Schichten Afrins gehören und sich deshalb eine Flucht ins Ausland nicht leisten können. Allerdings, schränkte Sommer ein, könne sie derzeit nicht abschließend beurteilen, inwiefern sexualisierte Gewalt auch als explizite Kriegsstrategie eingesetzt würde.

Ebenfalls, erzählte Sommer weiter, bestehe der Verdacht auf ethnische Säuberungen seitens der türkischen Besatzer. Auch Thomas Schmidinger betont, dass die Türkei einen demographischen Wandel für die Region anstrebe: Kurd*innen würden aus Afrin vertrieben oder ihre Rückkehr verhindert, während vorwiegend arabische und turkmenische Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens und sogar aus dem Irak in den Häusern der Vertriebenen angesiedelt würden. Die Region solle, darin stimmten Schmidinger und Sommer überein, nicht mehr vorwiegend von Kurd*innen bewohnt werden, sondern Teil einer türkischen Republik in Nordsyrien werden.

Doch es gibt noch weitere Hinweise auf eine so genannte Türkifizierung Afrins: Schmidinger zufolge baue die Türkei gerade eine eigene türkische Verwaltung in der Stadt auf: So wurde bereits ein türkischer Gouverneur eingesetzt und mit dem so genannten Afrin-Rat eine eigene lokale Verwaltungsstruktur ins Leben gerufen. Der Afrin-Rat besteht aus Kurd*innen, die mit der Türkei kooperieren, sowie aus arabischen und turkmenischen Siedler*innen. Wie viel Macht dieser Rat tatsächlich haben wird, sei indessen noch schwer einzuschätzen, meinte Schmidinger. Auch in den Schulen würden neue türkische Lehrer eingesetzt, der Unterricht finde nun nicht mehr auf Kurdisch, sondern auf Türkisch statt; und es kursieren Videos auf Youtube, die zeigen, wie Kinder die türkische Fahne schwenken und sich bei Erdoğan bedanken. Ebenfalls, führte Schmidinger weiter aus, wolle die Türkei mit ihrem Angriff auf Afrin verhindern, dass an der Grenze zur Türkei ein kurdischer Korridor entstehe, der den Kurd*innen Zugang zu internationalen Märkten ermöglicht und somit deren Unabhängigkeit gefördert hätte. Dies alles sei Teil der türkischen Strategie, die autonom regierten kurdischen Gebiete in Nordsyrien unter türkische Kontrolle zu bringen. Schmidinger geht davon aus, dass in Afrin eine international nicht anerkannte de facto Provinz unter türkischem Einfluss entstehen soll.

Sommer und Schmidinger zufolge, sei der Grund des Rückzuges der kurdischen Kampfeinheiten der YPG umstritten. Die YPG hatte sich am 18. März, nach mehreren Wochen kriegerischer Auseinandersetzungen aus Afrin zurückgezogen und die Stadt damit schließlich der türkischen Armee und ihren islamistischen Verbündeten überlassen. Während das Gerücht kursiere, dass dies auf Druck von Russland hin geschehen sei, geht Schmidinger davon aus, dass die YPG sich zum Schutz der Zivilist*innen zurückgezogen habe, um ein weiteres Blutbad zu vermeiden. Die kurdischen Kampfeinheiten der YPG sind der Türkei waffenmäßig weitaus unterlegen und ihrerseits vollkommen abhängig von internationaler Unterstützung, insbesondere von den USA. Sommer ihrerseits forderte die kurdischen Organisationen auf, diesbezüglich Transparenz zu schaffen: «Kurdische Organisationen müssen sich hierzu positionieren und transparent machen, warum die YPG sich zurückgezogen hat». Die meisten Zivilist*innen wurden jedoch aus der Stadt evakuiert. Sie befinden sich in provisorischen Camps oder auf dem Weg nach Aleppo.

Auch die Bundesregierung spiele eine zentrale Rolle in diesem völkerrechtswidrigen Krieg, betonte Sommer. Deutsche Waffenlieferungen an die Türkei haben deren militärische Macht gestärkt. Nun stehen deutsche Panzer vor dem Rathaus von Afrin. Erst am 20. Januar fand die letzte deutsche Waffenlieferung an die Türkei in Höhe von vier Milliarden Euro statt. Den Grund für die anhaltenden deutschen Waffen-Lieferungen, sieht Sommer in der Abhängigkeit Deutschlands vom so genannten Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei. Dies werde allerdings nicht öffentlich diskutiert. DIE LINKE fordere jedoch, fasste Sommer zusammen, einen sofortigen Stopp aller deutscher Waffenlieferungen.

Die beiden Gäste auf dem Podium stellten zum Abschluss auch gemeinsame Forderungen an die bundesdeutsche und internationale Öffentlichkeit: So brauche es erstens internationalen Druck «von unten», nicht nur von linken Parteien, sondern auch von der außerparlamentarischen Linken. Dieser Druck sollte auch nicht nur von linken Spektren ausgehen, sondern auch von menschenrechtsnahen und sogar von liberal-konservativen Milieus. Die Türkei müsse, so Sommer und Schmidinger, gezwungen werden, einer internationalen Öffentlichkeit Zutritt zu Afrin zu gewähren, Beobachter*innen der Menschenrechte und Journalist*innen müssten sich selbst einen Eindruck vor Ort in Afrin verschaffen können. Ebenfalls brauche es dringend eine unabhängige internationale Berichtserstattung. Schmidinger forderte die sofortige Rückkehr der Vertriebenen Menschen und die Einrichtung einer internationalen Schutzzone im Norden Syriens. Hierfür benötige es, so der Nahost-Experte, aber erhöhten politischen Druck von Seiten der Europäischen Union und den USA, um die Türkei zu bewegen, sich schnellst möglich aus der Region zurückzuziehen. 
 

Liza Pflaum
 

Siehe auch:

heute plus - Die Türkei in Afrin
Vor vier Wochen hat die türkische Armee die syrische Stadt Afrin besetzt. Seither dringen nur wenig Informationen durch, doch wie ist die aktuelle Lage? (17.4.2018)