Dokumentation Diplomatie jetzt!

Internationale Konferenz verabschiedet einen Appell für den Frieden in der Ukraine

Information

Veranstaltungsort

Rosa-Luxemburg-Stiftung
Straße der Pariser Kommune 8A
10243 Berlin

Zeit

31.08.2024

Themenbereiche

Krieg / Frieden, Die Waffen nieder

Zugehörige Dateien

Das Blutvergießen in der Ukraine muss ein Ende finden. Wir stehen an der Seite der Menschen in der Ukraine und aller Opfer dieses Krieges. Sie alle brauchen so schnell wie möglich eine Perspektive von Frieden und Freiheit. Ohne Verhandlungen wird das kaum möglich sein. Lediglich 20 Prozent aller zwischenstaatlichen Kriege enden mit einem Sieg oder einer Niederlage, und dies oft erst nach vielen Jahren. Daher müssen wir jetzt alle Anstrengungen unternehmen, um den Weg für Friedensverhandlungen zu ebnen.

Auch wenn es wenig Signale aus dem Kreml gibt, dass Interesse an Verhandlungen besteht, die über Gefangenenaustausch und dergleichen hinausgehen: Verhandlungen lassen sich auch herbeiverhandeln. Es ist zu wenig, einfach nur darauf zu warten, dass sich die Regierungen in Kyjiw und Moskau aus eigener Motivation an einen Tisch setzen oder die Kriegsmüdigkeit der in diesem blutigen Abnutzungskrieg die Regierungen dazu zwingt. Wir wollen hier in Deutschland, Europa und dem Westen nicht mehr ausschließlich darüber diskutieren, welche Waffen als Nächstes geliefert werden sollen. Stattdessen wollen wir darüber diskutieren, wie die Regierungen des «Westens» Friedensgespräche ermöglichen, vereinfachen oder anstoßen könnten. Wer sind mögliche und notwendige Partner dabei? Wie können diplomatische Initiativen aus China, Brasilien, von Seiten der afrikanischen oder anderen Staaten genutzt werden, um gemeinsam Druck auf die Kriegsparteien auszuüben? Es braucht den Druck auf unsere Regierungen, die derzeit mehr mit der Systemkonfrontation mit China und Russland beschäftigt sind, als mit wirklicher Solidarität mit den Menschen in der Ukraine.

Mit internationalen Gästen, Wissenschaftler*innen und Politiker*innen aus der Ukraine, Russland, China, Brasilien, Südafrika, Indien und vielen europäischen Ländern diskutieren wir über Wege einer gemeinsamen neuen internationalen Initiative für Diplomatie. Auf der Konferenz am 31.8.2024 wurde ein Appell für Verhandlungen und Druck auf unsere Regierungen verabschiedet. Endlich soll nicht mehr nur in Waffen, sondern auch in Diplomatie zu investiert werden. Denn es geht um das Leben der Menschen, ihren Frieden und ihre Freiheit – und um die Frage, wie Frieden und Sicherheit in Europa künftig ohne weitere militärische Aufrüstung gesichert werden können und wie eine neue Blockkonfrontation verhindert werden kann, auch im Interesse anderer großer globaler Anliegen wie soziale Gerechtigkeit, Klima, Umwelt und demokratische Teilhabe.

Der Appell

Diplomatie jetzt!

Details

Mit:

Ines Schwerdtner (RLS)

Ingar Solty (RLS)

Heinz Bierbaum (Vorstandsvorsitzender RLS)

Luciana Castellina (Sinistra Italiana)

Evgeny Stupin (Politiker und Friedensaktivist)

Gesine Lötzsch (MdB, Die Linke)

Janine Wissler (Vorsitzende Die Linke)

Walter Baier (Europäische Linke)

Kazuo Shii (Vorsitzender des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Japan)

Marc Botenga (Mitglied des Europaparlaments, belgische Partei der Arbeit)

David Adler (Progressive International)

Jeremy Corbyn (Peace & Justice Project)

Das Blutvergießen in der Ukraine muss ein Ende finden. Wir stehen an der Seite der Menschen in der Ukraine und aller Opfer dieses Krieges. Sie alle brauchen so schnell wie möglich eine Perspektive von Frieden und Freiheit. Ohne Verhandlungen wird das kaum möglich sein. Lediglich 20 Prozent aller zwischenstaatlichen Kriege enden mit einem Sieg oder einer Niederlage, und dies oft erst nach vielen Jahren. Daher müssen wir jetzt alle Anstrengungen unternehmen, um den Weg für Friedensverhandlungen zu ebnen.

Auch wenn es wenig Signale aus dem Kreml gibt, dass Interesse an Verhandlungen besteht, die über Gefangenenaustausch und dergleichen hinausgehen: Verhandlungen lassen sich auch herbei verhandeln. Es ist zu wenig, einfach nur darauf zu warten, dass sich die Regierungen in Kyjiw und Moskau aus eigener Motivation an einen Tisch setzen oder die Kriegsmüdigkeit der in diesem blutigen Abnutzungskrieg die Regierungen dazu zwingt. Wir wollen hier in Deutschland, Europa und dem Westen nicht mehr ausschließlich darüber diskutieren, welche Waffen als Nächstes geliefert werden sollen. Stattdessen wollen wir darüber diskutieren, wie die Regierungen des «Westens» Friedensgespräche ermöglichen, vereinfachen oder anstoßen könnten. Wer sind mögliche und notwendige Partner dabei? Wie können diplomatische Initiativen aus China, Brasilien, von Seiten der afrikanischen oder anderen Staaten genutzt werden, um gemeinsam Druck auf die Kriegsparteien auszuüben? Es braucht den Druck auf unsere Regierungen, die derzeit mehr mit der Systemkonfrontation mit China und Russland beschäftigt sind, als mit wirklicher Solidarität mit den Menschen in der Ukraine.
 

Zum Appell

Beiträge/Workshops

  • Bestandsaufnahme und warum wir jetzt Diplomatie brauchen
    Perspektiven aus der Ukraine und Russland (Yurii Sheliazhenko, International Peace Bureau- Evgeni Stupin, Politiker und Antikriegsaktivist)
  • Internationale diplomatische Initiativen
    Brasilien (Mónica Valente, Arbeiterpartei PT - Ana Garcia, PUC Rio)
    Indien (Anuradha Chenoy, Jindal Global University)
    China (Wang Hui, Tsinghua Universität)
    Südafrika (Vishwas Satgar, Universität Withwatersrand)
  • Internationale Positionen
    Japan (Kazuo Shii, Vorsitzender des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Japan)
    Italien (Luciana Castellina, Sinistra Italiana)
    Belgien (Marc Botenga, Mitglied des Europaparlaments, Partei der Arbeit)
    Europäische Linke (Vorsitzender, Walter Baier)
    Deutschland (Janine Wissler, Parteivorsitzende Die Linke - Peter Brandt, Fernuniversität Hagen)
    Spanien (José Luis Centella, Vorsitzender der Kommunistischen Partei Spaniens - Marta Martin, Internationale Beziehungen der Kommunistischen Partei Spaniens)
    Peace & Justice Project (Jeremy Corbyn)
    Progressive International (David Adler)

Redebeiträge

Evgenii Stupin, Politiker (KPRF) und Antikriegsaktivist, Russland (im Exil)

Ein russischer Vorschlag für ein Ende des Krieges und die Erringung des Friedens

Am 24. Februar 2022, als Russland unter Wladimir Putin in die Ukraine einmarschierte, veröffentlichten russische linke Kriegsgegner*innen einen offenen Brief mit dem Titel «Nein zum Krieg». Zu den Unterzeichnenden gehörten: 

  • Boris Kagarlizki, ein Soziologe, der nun im Alter von 65 Jahren eine Haftstrafe antreten muss, weil er in einem Post in den sozialen Medien über die Folgen eines Angriffs auf die Krimbrücke terroristische Handlungen gerechtfertigt haben soll;
  • Grigori Judin, Soziologe;
  • Michail Lobanow, Mathematiker, Linkspolitiker und rechtmäßiger Gewinner des Mandats für seinen Wahlbezirk im Westen Moskaus bei den Dumawahlen 2021, das ihm durch einen offensichtlichen Wahlbetrug des Moskauer Rathauses gestohlen wurde;
  • Sergei Zukasow, ehemaliger Abgeordneter des Bezirks Ostankino in Moskau.

Daraufhin bezeichnete das Justizministerium der Russischen Föderation drei von uns – Judin, Lobanow und mich – als sogenannte ausländische Agenten, da wir «kritische Aussagen zur militärischen Sonderoperation» gemacht hätten. Unter den Unterzeichnenden waren auch Vertreter*innen der Linksfront, der Revolutionären Arbeiterpartei und der Russischen Sozialistischen Bewegung, die später ebenfalls in das Register ausländischer Agent*innen aufgenommen wurde.

Die Veröffentlichung des Briefes bleibt für die russische Linke von großer Bedeutung. In ihm konnten Mitglieder der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), der Linksfront und der Bewegung für einen neuen Sozialismus eine Alternative zur imperialistischen und militaristischen Position sehen, welche die offizielle Leitung ihrer Organisationen vertritt. So war es uns möglich, immer mehr Menschen zu erreichen. Die Userzahl meines YouTube-Kanals zum Beispiel ging rasch in die Höhe. Heute zählt er 790.000 Abonnent*innen und ist somit der zweitgrößte linke Kanal Russlands. Aktuell arbeiten wir daran, eine linke Antikriegsorganisation zu gründen, die russische Aktivist*innen und Politiker*innen zusammenbringt, um diese bereits mehrere Jahre andauernde Krise zu überwinden.

Zu Beginn der russischen Invasion in die Ukraine war ich nicht nur Abgeordneter der Moskauer Stadtduma, sondern auch Mitglied der KPRF. 2023 wurde ich dann aus der Partei ausgeschlossen, nachdem mich der erste stellvertretende Vorsitzende, Juri Afonin, persönlich dafür angeprangert hatte, die militärische Sonderoperation kritisiert und einen Brief an das Gericht unterzeichnet zu haben, in dem ich mich für den politischen Gefangenen Ilja Jaschin einsetzte, der seither im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zwischen Russland, Deutschland und den Vereinigten Staaten freigelassen wurde.

Es gibt derzeit mehrere Friedensinitiativen, die einen diplomatischen Ausweg aus dem Konflikt in der Ukraine suchen. Neben den Bemühungen Chinas, Brasiliens und mehrerer afrikanischer Staaten wurden auch auf dem Schweizer Friedensgipfel im Juni 2024 entsprechende Lösungsansätze vorgestellt. Sie alle stimmen in mehreren Punkten überein:

  • Der Einsatz von Atomwaffen muss verhindert werden;
  • Kriegsgefangene müssen ausgetauscht werden;
  • die Ernährungssicherheit muss gewährleistet werden;
  • Friedensverhandlungen müssen stattfinden;
  • die Konsolidierung konfrontativer Militärblöcke muss beendet werden und
  • Konflikte müssen auf der Grundlage des Völkerrechts gelöst und die territoriale Integrität von Staaten gewährleistet werden.

Auch wenn ich die oben genannten Grundsätze voll und ganz unterstütze, muss ich doch darauf hinweisen, dass keine dieser Initiativen konkrete Schritte aufzeigt, die zu einem Waffenstillstand, Verhandlungen und zum Abschluss eines Friedensvertrags führen sollen, was auch die Umsetzung der oben genannten Punkte erschwert. Sie enthalten weder einen Handlungsablauf und die Bedingungen für einen Frieden noch erwähnen sie die eigentlichen Ursachen für den Ausbruch des Krieges – wirtschaftliche und soziale Ungleichheit.

Wir sind der festen Überzeugung, dass der Krieg nur mit einem Siedlungsplan beendet werden kann, von dem sich weder Ukrainer*innen noch Russ*innen benachteiligt fühlen. Selbst wenn Politiker*innen sich weiter gegen Friedensverhandlungen sperren, werden die russische und die ukrainische Gesellschaft mit Ausblick auf eine echte Alternative dazu übergehen, ihre Regierungen unter Druck zu setzen und somit den politischen Wandel herbeiführen.

Um einen Großteil der russischen Gesellschaft für Friedensverhandlungen zu gewinnen, sollten die europäischen Politiker*innen öfter darauf hinweisen, dass ihre Maßnahmen gegen die russische Regierung nicht darauf abzielen, die russische Bevölkerung zu demütigen, russisches Territorium zu besetzen oder Russland wirtschaftlich und politisch auszugrenzen. Derartige Statements hören wir hier fast nie. Stattdessen berichten die Nachrichten vom zehnten, elften oder gar zwölften Sanktionspaket gegen Russland, das für gewöhnlich die einfachen russischen Bürger*innen stärker in Mitleidenschaft zieht als Wladimir Putins Entourage.

Gleichzeitig fehlt uns jegliche Information über die Bedingungen, die an die Aufhebung der Sanktionen geknüpft sind. So entsteht bei russischen Bürger*innen das Gefühl, dass sich die Feindschaft mit den westlichen Ländern verfestigt, was die russische Bevölkerung unbewusst empfänglicher für Putins Propaganda macht und die Aussichten auf einen politischen Wandel in Russland verschlechtert.

Vor diesem Hintergrund schlagen wir folgende Schritte vor, um eine friedliche Beilegung des Konflikts in der Ukraine zu erreichen:

  • die sofortige Aufhebung von Sanktionen, die normale russischen Bürger*innen beeinträchtigen und russischen Propagandist*innen in die Hände spielen;
  • die Aufhebung sämtlicher Sanktionen, die direkt oder indirekt den Arzneimittelimport nach Russland beeinträchtigen;
  • die Aufhebung der Sanktionen bezüglich der Nutzung von Kreditkarten oder zumindest Festlegung eines Limits, das die Nutzung für Bürger*innen mit geringem oder durchschnittlichem Einkommen ermöglicht;
  • die Zulassung der Monetarisierung russischer YouTube-Kanäle. Derzeit ist es Nutzer*innen mit Wohnsitz in Russland nicht möglich, ihre Inhalte zu monetarisieren, was insbesondere für unabhängige Blogger*innen eine große Herausforderung darstellt, während Sprecher*innen, die für die Staatspropaganda arbeiten, praktisch nicht von den Sanktionen betroffen sind, da ihnen der Staat ein beträchtliches Einkommen gewährt;
  • die Aufhebung des Einreiseverbots in die Europäische Union für den Individualverkehr;
  • die Einführung einer neuen Sicherheitsinfrastruktur ohne Militärblöcke, die eine Gefahr für benachbarte Staaten darstellen. Die bloße Existenz eines solchen Blocks (wie der NATO) ermöglicht es Regierungen anderer Staaten, sich auf die Bedrohung zu berufen, die von ihm ausgeht, und damit die Erhöhung von Militärausgaben zu rechtfertigen. Letztlich trägt dies zum Entstehen von Diktaturen und militärischen Konflikten bei. Wir schlagen vor, die Auflösung der NATO zu prüfen und eine neue Vereinigung zu gründen – beispielsweise eine internationale Partnerschaft, der Russland, die Ukraine, europäische Länder, die USA, China usw. angehören könnten und deren Entscheidungen auf demokratischer Grundlage getroffen würden und verbindlich wären;
  • bis zur endgültigen Klärung der Territorialfrage zwischen Russland und der Ukraine könnte die Kontrolle über die umstrittenen Gebiete auf diese internationale Partnerschaft übertragen werden, um Gewalt gegen die Einwohner*innen durch die zurückkehrenden Armeen zu vermeiden;
  • den Wiederaufbau der Wirtschaft Russlands und der Ukraine auf Kosten der russischen Oligarch*innen, die sich an der Vorbereitung und Führung des Krieges bereichert haben.

Um das Entstehen neuer Diktaturen und Kriege zu verhindern, sollte die Internationale Partnerschaft Entscheidungen treffen:

  • über die Auflösung von Offshore-Konten;
  • über die Einrichtung eines Registers für Luxusgüter und eine deutliche Erhöhung der Steuern auf diese;
  • über die Einführung einer mindestens 50-prozentigen Erbschaftsteuer;
  • über die Einführung eines einheitlichen progressiven Steuersystems, bei dem minderbemittelte Haushalte von der Steuer befreit sind und die Wohlhabenden höhere Steuern zahlen;
  • die Übernahme der Kontrolle in Unternehmen sämtlicher Eigentumsformen durch die Arbeiternehmer*innen, sodass Eigentümer*innen ohne die direkte Zustimmung der Arbeiterschaft oder eines designierten Vertretungsorgans weder Entscheidungen treffen können, welche die Arbeitnehmer*innen betreffen, noch wesentliche Änderungen an der Arbeit des Unternehmens vornehmen können.

Diese Maßnahmen könnten soziale Ungleichheiten deutlich verringern und die wirtschaftlichen Voraussetzungen bekämpfen, die es ermöglichen, dass mittellose Bevölkerungsschichten als Kanonenfutter dienen. Nur so kann in allen Ländern eine echte Demokratie eingeführt werden. Die hier aufgeführten Punkte mögen einen langen und mühsamen Weg beschreiben, aber sie sind die einzige Möglichkeit, den derzeitigen Missstand zu überwinden.
 

Übersetzt von Charlotte Thießen und André Hansen für Gegensatz Translation Collective

Mónica Valente, Partido dos Trabalhadores, Brasilien

Ich möchte mich für die Einladung der Arbeiterpartei Brasiliens (PT) zur Teilnahme an der internationalen Konferenz «Diplomatie jetzt – Appell für Frieden» bedanken. Die Konferenz wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit dem Ziel organisiert,  konkrete Vorschläge für Maßnahmen zur Beendigung des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland zu diskutieren, der alle Völker und Länder der Welt bedroht.

Wie es in der Einladung zur Konferenz hieß, «wissen wir alle, dass es in der internationalen Linken unterschiedliche Perspektiven auf diesen Krieg gibt». Aber wir glauben auch, dass eine gemeinsame Position möglich ist: ein gemeinsamer Aufruf zu Verhandlungen und Druck auf unsere Regierungen, damit sie  ihre diplomatischen Bemühungen verstärken. «Denn das Leben der Menschen, ihr Frieden und ihre Freiheit stehen auf dem Spiel.»

Zunächst möchte ich betonen, dass die Regierung von Präsident Lula die russische Invasion auf ukrainischem Territorium stets verurteilt hat, da wir das Prinzip der territorialen Integrität der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zutiefst respektieren. Dies wird durch zahlreiche Stellungnahmen der brasilianischen Diplomatie in den Gremien der Vereinten Nationen belegt.

Zweitens verurteilen Brasilien und die Regierung Lula die Anwendung von Instrumenten wie unilateralen Wirtschaftssanktionen. Wirtschaftliche Macht und die Beherrschung des internationalen Finanzsystems durch Instrumente wie das SWIFT-System dürfen nicht als Druckmittel gegen Länder und Völker eingesetzt werden. Zum einen schaden sie in vielen Fällen den Völkern mehr als den Regierungen, zum anderen scheinen sie im Falle Russlands unwirksam zu sein.

Und drittens glaubt die Regierung von Präsident Lula nicht, dass ein Friedensabkommen ohne die Beteiligung beider Konfliktparteien möglich ist. Diejenigen von uns, die wirklich ein Friedensabkommen wollen, wissen das.

In diesem Zusammenhang möchte ich Elemente einer gemeinsamen Erklärung von Brasilien und China hervorheben, die Ende Mai 2024 veröffentlicht wurde und die brasilianische Position zusammenfasst:

  1. Alle relevanten Akteure sind aufgerufen, drei Grundsätze zur Deeskalation des Krieges zu beachten: keine Ausweitung des Schlachtfeldes, keine Intensivierung der Kampfhandlungen und keine Verschärfung der Situation auf irgendeiner Seite.
  2. Dialog und Verhandlungen sind die einzige praktikable Lösung für die Krise in der Ukraine. Alle beteiligten Akteure müssen die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines direkten Dialogs schaffen und die Deeskalation der Lage bis zu einem umfassenden Waffenstillstand fördern.
  3. Es müssen Anstrengungen unternommen werden, um die humanitäre Hilfe in den betroffenen Gebieten zu verstärken und eine humanitäre Krise größeren Ausmaßes zu verhindern. Angriffe auf Zivilpersonen oder zivile Einrichtungen sind zu vermeiden und die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen, Kinder und Kriegsgefangene, ist zu schützen.
  4. Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen, insbesondere von atomaren, chemischen und biologischen Waffen, ist auszuschließen. Es müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um die Weiterverbreitung von Kernwaffen zu verhindern und eine nukleare Krise zu vermeiden.
  5. Angriffe auf Kernkraftwerke oder friedliche kerntechnische Anlagen sind zu unterlassen. Alle Parteien müssen das Völkerrecht, einschließlich des Übereinkommens über nukleare Sicherheit, einhalten und von Menschen verursachte nukleare Unfälle entschlossen verhindern.
  6. Die Aufteilung der Welt in isolierte politische oder wirtschaftliche Gruppen muss vermieden werden. Wir müssen weitere Anstrengungen unternehmen, um die internationale Zusammenarbeit in den Bereichen Energie, Währungspolitik, Finanzen, Handel, Lebensmittelsicherheit und Sicherheit kritischer Infrastrukturen, einschließlich Öl- und Gaspipelines, optischer Unterseekabel, Strom- und Energieanlagen sowie Glasfasernetze, zu stärken, um die Stabilität globaler Industrie- und Lieferketten zu schützen.

Die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft müssen gemeinsam eine konstruktive Rolle bei der Deeskalation und der Förderung von Friedensgesprächen spielen.

Brasilien und Präsident Lula unterstützen eine internationale Friedenskonferenz zum richtigen Zeitpunkt, die sowohl von Russland als auch von der Ukraine anerkannt wird. Sie sollte eine faire Diskussion aller Friedenspläne unter gleichberechtigter Beteiligung aller beteiligten Parteien ermöglichen.

Mónica Valente,  Mitglied des Nationalen Vorstands der PT Brasilien, 31. August 2024

Marc Botenga, Parti du travail, Belgien

Diplomatie kann Kriege verhindern und sie beenden. Es ist eine große Tragödie, dass in diesen Zeiten des globalen Wandels mehrere europäische Länder – darunter mein Heimatland Belgien und auch Frankreich – ihr Diplomatisches Korps abwerten und unterfinanzieren. Mit besonderem Interesse habe ich auf dieser Konferenz den Redner*innen aus Brasilien, China und Indien zugehört, die wichtige Perspektiven zu Krieg und Frieden dargestellt haben, die den Horizont der in EU-Institutionen vorherrschenden eurozentrischen Sichtweise erweitern.

In den über zweieinhalb Jahren, die der Krieg in der Ukraine schon dauert, hat die Europäische Union noch keine einzige diplomatische Initiative für seine Beendigung präsentiert. Diese Untätigkeit steht im starken Widerspruch zu der proaktiven Rolle der EU in anderen Konflikten, wie zum Beispiel im jüngsten Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien. Die diplomatische Abwesenheit der Union sticht insbesondere angesichts der langen Liste von Vorschlägen und Versuchen anderer Länder hervor, besonders aus dem Globalen Süden: Man denke nur an die brasilianisch-chinesische Initiative für Friedensverhandlungen, die Bemühungen der Afrikanischen Union und die Vermittlungsversuche diverser anderer Akteure wie der Türkei und des Vatikans.

Die Behauptung, dass Verhandlungen aussichtslos seien, hält einer genauen Überprüfung nicht stand. Ihr Erfolg ist nie von vornherein gewährleistet, aber immerhin haben die Ukraine und Russland sich schon mehrmals zu Verhandlungen zusammengefunden. Einige Gespräche zu Themen, die vom Getreideexport, einem Gefangenenaustausch bis hin zur nuklearen Sicherheit reichen, konnten sogar erfolgreich abgeschlossen werden. Die Zeitschrift Foreign Affairs behauptete kürzlich, die Ukraine und Russland hätten nur wenige Wochen nach Beginn des Krieges schon kurz vor einer Einigung gestanden. Die EU hat es nicht nur versäumt, diese Verhandlungen zu unterstützen – vielleicht hat die westliche Diplomatie ein Friedensabkommen sogar aktiv untergraben.

Viele Regierungschef*innen aus dem Globalen Süden, darunter der brasilianische Präsident Lula und der Präsident Südafrikas Ramaphosa, haben bereits darauf hingewiesen, dass der Krieg vielleicht auch gänzlich hätte vermieden werden können, wenn der Westen nicht darauf bestanden hätte, der Ukraine die NATO-Mitgliedschaft zuzusichern. Ähnlich erklärte Papst Franziskus, das «Bellen» der NATO an russischen Grenzen hätte negative Konsequenzen gehabt. Anstatt auf der NATO als Universallösung zu bestehen, hätten europäische Regierungen und die europäische Diplomatie im Laufe der Jahre eine unverzichtbare Rolle dabei spielen können (und sollen), eine alternative Vereinbarung für die kollektive Sicherheit auf dem Kontinent zu finden, mitsamt robusten Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Ein solches Arrangement hätte vielleicht auch die Anziehungskraft von Putins nationalistisch-imperialer Rhetorik in Russland eindämmen können und so seine Machtposition geschwächt.

Die EU hat sich jedoch gegen eine derartige Friedensdiplomatie entschlossen. Ohne einen solchen Fahrplan konnten aber auch die in letzter Minute erfolgten Besuche des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und des deutschen Kanzlers Olaf Scholz kaum etwas bewirken.

Nach der russischen Invasion in die Ukraine hat die Europäische Union eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die sowohl der sozialen als auch der physischen Sicherheit der europäischen Arbeiterklasse schaden und dem Frieden nicht näherkommen.

Die Sanktionen haben den Krieg weder verhindert noch beendet. Die russische Wirtschaft wurde militarisiert, aber sie ist nicht eingebrochen. Vielmehr haben die Sanktionen die Energiepreise in Europa in die Höhe getrieben, was nicht nur für die Bürger*innen, sondern auch für die Industrie negative Konsequenzen hatte. Die Vereinigten Staaten wiederum konnten sich diese Situation zu Nutze machen. Der Inflation Reduction Act und aktive Wirtschaftsdiplomatie funktionierten als Sogfaktor, der Investor*innen dazu bewegte, ihre Geschäfte auf der anderen Seite des Atlantiks anzusiedeln. Mit dem Bruch zwischen der EU und Russland haben die Lieferungen US-amerikanischen Fracking-Öls die europäische Abhängigkeit von Washington nur noch ausgeweitet.

Die Waffenlieferungen an die Ukraine haben die Glaubwürdigkeit der EU als ehrlichen diplomatischen Makler untergraben. Mit der Weigerung, sich an diplomatischen Prozessen zu beteiligen, wurde die militärische Eskalation nicht nur akzeptiert, sondern auch vorangetrieben. Anfangs wollten europäische Länder überwiegend Schutzausrüstung zur Verfügung stellen. Es dauerte aber nicht lange, bis auch sogenannte Defensivwaffen und später sogar Angriffswaffen bis hin zu Kampfjets und Panzern geliefert wurden. Was folgte, war eine schleichende Eskalation. Nachdem die Europäische Union zunächst den Einsatz ihrer Waffen für Angriffe auf russische Ziele untersagt hatte, gab sie letzten Endes sogar grünes Licht für den Einmarsch ukrainischer Truppen in russisches Territorium.

Der damit verbundene massive Anstieg der europäischen Militärausgaben – die bereits vor Kriegsbeginn die Ausgaben Russlands übertrafen – hat zudem Gelder in Anspruch genommen, die für grundlegende Investitionen in Schulen, Krankenhäuser, öffentliche Verkehrsmittel und Renten benötigt werden.

Gleichzeitig gerieten die Lehren des Kalten Krieges zunehmend in Vergessenheit. Die Stationierung von US-Langstreckenraketen in Deutschland führt nicht zu mehr Sicherheit, sondern steigert das Bedrohungsgefühl und Misstrauen der anderen Seite. Es waren zunehmendes gegenseitiges Vertrauen und ein größeres Sicherheitsgefühl, die es ermöglichten, dass die USA und die UdSSR Ende der 1980er sich gemeinsam dazu entschlossen, solche Langstreckenraketen zu verbieten.

Und wie kommt es, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten nicht einmal den terroristischen Anschlag auf kritische europäische Energieinfrastruktur wie Nord Stream ernst nahmen? Kann es sein, dass sie Angst hatten, die USA und die Ukraine gegen sich aufzubringen?

In einer zunehmend multipolaren Welt, in der viele Länder sich nicht mehr an der Politik des Westens orientieren, scheint es die Tendenz der EU zu sein, sich noch stärker an die USA zu halten – oder anders gesagt, sich immer mehr der schwindenden Dominanz der USA zu unterwerfen. In der Tat bezeichneten die USA die Förderung des derzeitigen Krieges als «die beste Investition aller Zeiten». Das ist leicht nachzuvollziehen: Der Zermürbungskrieg schwächt den historischen Gegner Russland, ermöglicht es den USA, ihre militärische Präsenz in Europa zu stärken, treibt die Waffenverkäufe von US-Unternehmen in die Höhe und drängt die EU in eine größere US-Abhängigkeit – und das alles, ohne die Interessen der USA zu gefährden.

Einige Länder wie Polen und die baltischen Staaten haben dabei eine Vorreiterrolle übernommen. Die Nominierung Kaja Kallas zur neuen EU-Außenbeauftragten ist Ausdruck dieser Tendenz.

Die Folgsamkeit gegenüber den USA und die verstärkte Abhängigkeit von ihnen stehen im starken Widerspruch zu dem Gedanken, einen unabhängigen, bündnisfreien europäischen Pol in der Welt zu schaffen. Die zunehmende Unfähigkeit Europas, eine positive eigenständige Rolle auf der internationalen Bühne zu spielen, schadet der Arbeiterklasse unseres Kontinents auf mehreren Ebenen.

Das EU-Establishment ist im Begriff, eine gefährlichere Welt für alle zu schaffen. Wir vergessen nicht nur alle Lehren, die wir aus dem Kalten Krieg in Sachen Diplomatie und Abrüstung gewonnen haben. Mit unserer Unterwerfung unter den US-Imperialismus opfern wir gleichzeitig jegliche Glaubwürdigkeit als internationale diplomatische Akteure. Warum sollte sich Russland mit Europa abgeben, wenn die Entscheidungen in Washington fallen? Genau das ist auch die Botschaft, die die USA mit ihrem einseitigen Rückzug aus Afghanistan ausgesandt haben, als sie ihre EU-Verbündeten nicht einmal über ihre Absichten vorher in Kenntnis setzten.

Sich hinter den US-Imperialismus zu stellen, bedeutet auch, jeden Anspruch auf universelle Werte aufzugeben. Nirgendwo ist dies so offensichtlich wie aktuell in Palästina. Vor zwanzig Jahren forderte das Europäische Parlament als Reaktion auf die israelische Gewalt nach der Zweiten Intifada die Aussetzung des Assoziierungsabkommens mit Israel. Heute scheint selbst eine verbale Verurteilung des Völkermordes in Gaza zu viel verlangt. Wie schon Josep Borrell beklagte, werde ich, wo immer ich mich um Unterstützung für die Ukraine bemühe, von Ländern in aller Welt auf unsere Doppelmoral hingewiesen. «Ja, ihr behauptet, ihr würdet euch für Staatssouveränität und das Völkerrecht einsetzen, aber warum tut ihr das dann nicht in Palästina?»

In der Tat ist heute die vollständige Anpassung an die US-Politik der Unterstützung Israels – wobei einige Länder wie Deutschland ihre Waffenverkäufe an Israel sogar noch erhöht haben – nicht nur ein eklatantes Beispiel europäischer Doppelmoral, sondern sendet auch die Botschaft, dass die EU eine Weltordnung unterstützt, in der es akzeptabel ist, den Internationalen Gerichtshof zu ignorieren, das Völkerrecht, die Wiener und die Genfer Konvention zu verletzen, Millionen von Menschen zu vertreiben, Journalist*innen, UN-Mitarbeiter*innen und medizinisches Personal ins Visier zu nehmen und Tausende von Kindern zu massakrieren, eine ganze Bevölkerung auszuhungern und sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen an Gefangenen zu begehen. Eine solche Welt des legalisierten Unrechts ist für uns alle weniger sicher.

Zum Glück gibt es Alternativen zur Unterwürfigkeit gegenüber Washington. In Europa und in mehreren Ländern existieren nach wie vor unterschiedliche politische Strömungen – so war es schon immer. In der innereuropäischen Debatte über den Irak-Krieg 2003 zeichnete sich eine ähnliche interne Spaltung ab: Die einen unterstützten die USA blind und uneingeschränkt, selbst als diese sich anschickten, das Völkerrecht zu verletzen, während die anderen sich weigerten, sich der Koalition der Willigen anzuschließen. Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges hat die «unabhängige» Strömung in der öffentlichen Debatte an Bedeutung verloren. Aber sie ist immer noch sehr präsent. Ebenso wie der Wunsch der Menschen nach Frieden.

Es muss einen anderen Weg geben. General Harald Kujat, ehemals Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses – also alles andere als ein naiver Pazifist –, wies darauf hin, dass die Ukraine weiter geschwächt wird und Gebiete verliert, während die Sanktionen Russland nicht in die Knie zwingen konnten. Eine weitere Eskalation birgt enorme Risiken. Sollten unsere Armeen beispielsweise Schläge gegen russische Atomwaffen unterstützen, laufen wir Gefahr, einen «Punkt zu erreichen, an dem es kein Zurück mehr gibt», erklärte der deutsche General erst kürzlich. Wollen wir wirklich einen Dritten Weltkrieg riskieren?

Im Jahr 2022 mahnte der damalige US-Generalstabschef Mark Milley, die Welt, dass weder die Ukraine noch Russland ihre Ziele auf militärischem Wege erreichen würden. Wir müssen einen gerechten Frieden verhandeln, der auf den Grundsätzen des Völkerrechts beruht.

Das ist der einzig mögliche Weg. Es gibt Friedenspläne. Diplomatische Fahrpläne wurden bereits vorgelegt. Was jetzt fehlt, ist der politische Wille. Deshalb ist es so wichtig, für den Frieden zu mobilisieren. Für eine Zukunft des Friedens in Europa und darüber hinaus.
 

Übersetzung von Charlotte Thießen und Felix Kurz für Gegensatz Translation Collective

Luciana Castellina, Sinistra Italiana, Italien

Zunächst möchte ich der Rosa-Luxemburg-Stiftung dafür danken, dass sie uns zu dieser Konferenz eingeladen hat, damit wir uns darüber austauschen können, wie wir gemeinsam die dringlichste Aufgabe unserer Zeit bewältigen können: trotz der schwierigen Lage den Krieg zu beenden. Alle dazu aufzurufen, nicht aufzugeben. Ich danke der Rosa-Luxemburg-Stiftung auch dafür, dass sie Freund*innen aus allen Kontinenten zu einem Treffen eingeladen hat, wie es früher so häufig stattfand, in letzter Zeit jedoch immer seltener wurde.

Trotz der Differenzen, die innerhalb der Linken aufgekommen sind, glaube ich, dass eine Zusammenarbeit zur Verhinderung von Kriegen immer noch möglich ist. Wie das gehen soll? Mich hat der Redebeitrag von Kate Hudson zu Beginn der Konferenz sehr bewegt. Sie vertritt die britische Kampagne und die europäische Bewegung für nukleare Abrüstung, das große europäische Netzwerk, das sich hinter dem Slogan «Ein Europa ohne Raketen vom Atlantik bis zum Ural» versammelt hat. Dieses Netzwerk wurde vor fast 45 Jahren gegründet und war eine der bedeutendsten politischen Bewegungen der 1980er Jahre. Dabei war sie die erste und bis heute leider auch die einzige wahrhaft europäische Initiative, der es gelang, sich zu etablieren und zu einem von der Bevölkerung ausgehenden politischen Subjekt zu werden.

Hudsons Worte haben mich bewegt, weil sie mich in diese Zeit zurückversetzt haben. Aber sie haben mich auch traurig gemacht, weil ich nicht umhinkonnte, mich schuldig zu fühlen. Ich glaube, dass wir – und damit meine ich jene, die zur alten Generation gehören und diese Bewegung miterlebt haben – uns jetzt ernsthaft fragen müssen, wie wir es so weit haben kommen lassen, dass sie sich in den 1990er Jahren praktisch auflöste. Wir haben uns in andere furchtbare Konflikte eingebracht, die in anderen Teilen der Welt stattfanden und dabei die Entwicklungen in Europa aus den Augen verloren. Dabei hätten wir uns nach dem Fall der Mauer aktiv für ein unabhängiges Europa frei von Militärblöcken einsetzen und Verbindungen zum neuen Russland knüpfen müssen – wo eine neue Generation mit einer schwierigen Transition zu kämpfen hatte –, um ein friedensorientiertes kulturelles, wirtschaftliches und soziales Netzwerk zu bilden. Stattdessen haben wir den schlimmsten Auswüchsen europäischer und westlicher Politik freien Lauf gelassen und es ihr ermöglicht, genau das Gegenteil zu tun. Die NATO wuchs von 12 auf 30 Mitgliedstaaten an, alle rund um Russland, das dem schlimmsten Wildwest-Kapitalismus ausgesetzt wurde. So kam es zum Übergang von Jelzin zu Putin und damit genau zu dem Revanchismus, dem wir den heutigen Krieg zu verdanken haben.

Kriege lassen sich verhindern, bevor sie ausbrechen, aber wenn sie erst einmal begonnen haben, sind sie nur schwer zu beenden. Die Friedensbewegung, für die wir stehen, darf sich also nicht ablenken lassen. Sie muss wachsam bleiben – und genau das haben wir versäumt.

Was können wir jetzt tun? Das ist schwer zu sagen, auch weil sich die Welt in einem so tiefgreifenden und dramatischen Wandel befindet, und zwar aufgrund der technologischen Krise, die eine so weitreichende Transition erzwingt, und weil der Kapitalismus selbst in einer dramatischen Krise steckt – nicht nur aus ökologischen Gründen, sondern weil das Modell des andauernden industriellen Fortschritts, das in den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich war, auf globaler Ebene gescheitert ist und sich als nicht realisierbar erwiesen hat. Wenn eine Macht geschwächt wird, beginnt sie, um sich zu schlagen. Die aktuellen Ereignisse sind der beste Beweis dafür.

Wir brauchen also nichts weniger als einen tiefgreifenden Systemwandel. Andernfalls sehen wir einem immer größeren Risiko sich mehrender Kriege entgegen. Bedeutet das, dass sich Kriege nur noch durch eine Revolution verhindern lassen? Allein das Wort «Revolution» scheint heutzutage unmöglich – selbst wir, die sich größtenteils in revolutionären Parteien organisieren, trauen uns nicht mehr, es in den Mund zu nehmen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es einen tiefgreifenden Wandel braucht und uns gleichzeitig der Tatsache stellen, dass eine Revolution früher einfacher war, da der Sitz der Macht sich einfacher identifizieren ließ, wie zum Beispiel im Winterpalast während der Oktoberrevolution von 1917. Wie wir alle wissen, ist dies nicht mehr der Fall. Mit der Globalisierung lässt sich die Macht immer schwieriger verorten. Sicher ist nur, dass die offiziellen Institutionen nicht mehr die Kontrolle haben, weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene. Sie können nur noch das Regelwerk stellen, nach dem die wirklich wichtigen Entscheidungen, die auf der Ebene der Weltmärkte getroffen wurden, umgesetzt werden. Sogar die politische Entscheidungsfindung ist privatisiert worden. Das ist der Grund für die tiefe Krise der Demokratie, die wir derzeit erleben.

Ich muss nicht in einem Gebäude einer Stiftung stehen, die nach Rosa Luxemburg benannt wurde, um euch zu sagen, was getan werden muss. Die Frage der Revolution wurde über viele Jahre hinweg diskutiert, und ich denke, dass insbesondere Rosa Luxemburg und auch Antonio Gramsci viel über diese Problematik geschrieben haben – dass es sich an erster Stelle um einen langen Prozess handelt, der die gesamte Gesellschaft einschließt.

Ihr mögt euch fragen, warum ich hier von Revolution spreche, wenn wir doch «nur» hier sind, um den Krieg zu beenden. Ich tue dies, weil ich fest davon überzeugt bin, dass wir uns bewusst sein müssen und alle darüber aufklären müssen, dass die gegenwärtigen Kriege das Ergebnis einer großen Verwirrung sind, welche die Welt heimsucht und deren erstes Opfer unser demokratisches System ist. Auch wenn wir hier an erster Stelle nach unmittelbaren Wegen suchen, den Krieg zu beenden, müssen wir uns auch darüber im Klaren sein, dass wir vielleicht hier und da einen Krieg vorübergehend beenden können, die Idee des Krieges lässt sich aber nur mit einer Umwälzung unseres sozialen und politischen Systems beseitigen – des Kapitalismus. Wir sind hier, um uns der schwierigen Aufgabe zu stellen, die Menschen davon zu überzeugen, dass wir unsere Gesellschaft verändern müssen, aber zuallererst bedeutet dies, dass wir alle Menschen mobilisieren müssen, um den Krieg zu beenden, der die Menschheit als solche auszulöschen droht. Die Aufgabe ist nicht einfach. Aber sie ist unerlässlich.

Trotzdem bin ich zuversichtlich. Es stimmt nicht, dass junge Leute sich nicht für Politik interessieren. Sie interessieren sich nur nicht für die Diskussionen, die für gewöhnlich in unseren Parlamenten abgehalten werden. Noch ein Beweis dafür, dass Politiker*innen keine Ahnung von dem haben, was tatsächlich vor sich geht. Wenn wir aber von den Herausforderungen sprechen, die dieser Wandel mit sich bringt, dann hören die jungen Menschen uns zu und werden aktiv. Unter uns auf dieser Konferenz ist ein junger marxistischer Dozent von der Universität Tokio. Ich habe mich sehr gefreut, ihn endlich persönlich zu treffen, weil ich ihn das ganze letzte Jahr in all meinen Reden zitiert habe, weil er mich optimistisch stimmt. Sein Name ist Kohei Saito und er ist Autor des Buches Capital in the Anthropocene. Von diesem Buch mit einem so komplizierten Titel wurden allein in Japan 500.000 Exemplare verkauft, wobei 85 Prozent der Käufer*innen unter 35 Jahre alt waren. Findet ihr nicht auch, dass das ein sehr gutes Zeichen ist? Das sollte uns den Mut geben, Europa zu einer unabhängigen diplomatischen Initiative zu drängen, die nicht mehr von den Entscheidungen der NATO abhängig ist.
 

Übersetzt von Charlotte Thießen und André Hansen für Gegensatz Translation Collective

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