
Der Solidarische Migrationsgipfel hat am 14. Juni 2025 in Berlin getagt. Fast 50 Vertreter*innen von migrantischen Selbstorganisationen, Forschungsinstitutionen und zivilgesellschaftlichen Initiativen haben dort von ihrer Praxis für eine gerechte und inklusive Gesellschaft berichtet, für die in langen Zyklen gekämpft wurde und für deren Verwirklichung es die Solidarität der demokratischen Zivilgesellschaft braucht. Die anwesenden Vertreter*innen haben diese Erklärung auf der Bühne als einen kraftvollen Ausdruck gegen die autoritären und migrationsfeindlichen Angriffe auf unsere vielfältige Migrationsgesellschaft gemeinsam verabschiedet.
Die Abschlusserklärung der Teilnehmer*innen:
Die Gesellschaft der Vielen
Eine Einladung zur Solidarität
Deutschland war und ist eine Migrations- und Einwanderungsgesellschaft – das ist keine Behauptung, keine Vision oder Utopie, sondern eine Tatsache. Es gibt kein «vor der Migration». Deutschland hat einen Migrationshintergrund, ein anderes Deutschland gibt es nicht und gab es nie. Es gibt nur unterschiedliche Arten der Gestaltung der Migrationsgesellschaft. Hier erinnern wir auch an den demokratischen Impuls des sogenannten Sommers der Migration vor zehn Jahren, der von Gastfreundschaft, gegenseitigen Interesse und Solidarität gekennzeichnet war und unsere Gesellschaft nachhaltig positiv geprägt hat.
Die Migrationsgesellschaft wird derzeit massiv angegriffen. Das führt zu Abbau und Zerstörung von Demokratie und Menschenrechten allgemein. Forderungen nach Homogenität und Schließung behaupten zwar Harmonie und Sicherheit, bedeuten aber Exklusion und Gewalt. Abschottung schafft ein Klima der Ohnmacht, des Misstrauens und der Angst. Aktuell beobachten wir in erschreckender Parallele zur Entwicklung in den USA, wie sich ein Bundesinnenminister öffentlich gegen geltendes Recht stellt, zivilgesellschaftliche Organisationen mit kleinen Anfragen, Klagen und Verleumdungen an ihrer demokratischen Arbeit gehindert werden, Menschen um ihren Aufenthalt und ihre Staatsangehörigkeit, ihre körperliche Unversehrtheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung bangen müssen, Kinder aus ihrer Schulklasse heraus abgeschoben werden und geflüchteten Familien das Zusammenleben unmöglich gemacht wird – alles im Namen eines imaginierten homogenen «Wir», dessen Willen gegen vermeintliche Minderheitenpositionen durchgesetzt werden soll. Aber die Bedrohung liegt in der Kategorisierung und Entrechtung von Bevölkerungsgruppen, den offenen Rechtsbrüchen der Regierung, den autoritären Angriffen auf die demokratische Zivilgesellschaft und rassistischer Gewalt, nicht in der Migration.
Diejenigen, die – sichtbare oder unsichtbare – Grenzen überschreiten, um ihre Ausgrenzung zu überwinden, sind Pionier*innen der Demokratie. Sie streben ein gutes Leben unter Bedingungen ihrer strukturellen Entrechtung an. Dabei fordern sie ein, was allen zusteht und erweitern so den demokratischen Raum: Bedingungen, unter denen Menschen sich als würdige und gleichberechtigte Subjekte verstehen, darstellen und als solche leben können. In diesen Kämpfen offenbart sich, was Demokratie im Kern ist: nicht ein Vorteilssystem für Wenige, sondern die gemeinsame Aushandlung gesellschaftlichen Zusammenlebens unter Vielen.
Als Solidarischer Migrationsgipfel stellen wir uns gegen rassistische Stigmatisierung und moralische Panikmache. Wir weisen die vehemente Skandalisierung von Migration und Leugnung der migrationsgesellschaftlichen Realität Deutschlands zurück und wenden uns gegen alle Spielarten eines zunehmenden Autoritarismus.
Eine offene Migrationsgesellschaft stellt ein Versprechen auf eine Zukunft dar, in der soziale Rechte nicht begrenzt, sondern erweitert werden – für alle. Migration benötigt nicht nur demokratische Verhältnisse, sondern bringt diese auch maßgeblich hervor.
Wir kämpfen um und für die Gesellschaft der Vielen, für einen offenen Raum des Zusammenlebens unter Bedingungen von Differenz und Dissensfähigkeit. Genau darin liegt ihre demokratische Qualität. Denn Demokratie lebt nicht von Vereindeutigung und Vereinseitigung, sondern vom produktiven Streit, von konflikthaften Aushandlungen darüber, wie wir zusammenleben wollen, und darüber, was gerecht, gleichberechtigt und menschenwürdig ist.
Bewegungen der Migration sind Ausdruck unser globalen Verwobenheit und unser lokalen Bedürfnisse. Sie bringen die Vielfalt menschlichen Lebens und menschlicher Lebensweisen miteinander in Kontakt, erfordern ein anderes gesellschaftliches Miteinander in der Gegenwart und ermöglichen so neue Zukunftsentwürfe – nicht im Sinne multikultureller Buntheit, sondern als Vision radikaler Mitbestimmungsrechte für alle, die von Entscheidungen betroffen sind. Die vielen solidarischen Kommunen und Solidarity Cities machen vor, wie Inklusion, Wohlstand und Sicherheit für alle gestärkt werden kann. Dort, wo sich verschwistert wird, wo Nachbarschaften sich gegen die Abschiebung ihrer Mitmenschen wehren, wo eine Stadtgesellschaft vereint um Opfer rechter Gewalt trauert, wo gemeinsam gelernt, gearbeitet und gelebt wird, schwindet die Angst und wächst der gesellschaftliche Zusammenhalt.
Die solidarische Migrationsgesellschaft der Vielen ist beides: Eine gelebte Realität und gleichzeitig ein Ausblick auf eine gerechtere Zukunft. Sie ist der Ausgangspunkt für eine politische Praxis, die auf gelebte Solidarität und soziale Inklusion zielt: auf mehr Teilhabe, mehr Freiheit, mehr soziale Gerechtigkeit und die Ausweitung sozialer Rechte für Alle.
Der Solidarische Migrationsgipfel lädt dazu ein, unsere Türen zu öffnen und empathisch für die Gleichwertigkeit der Leben einzutreten. Und er fordert dazu auf, uns ausdrücklich und vehement zur Gesellschaft der Vielen zu bekennen und für Offenheit, Streitbarkeit und Solidarität zu kämpfen!
Berlin, 14. Juni 2025