Fünf gegen Eins
Am 5. Mai 1990 beginnen nach längeren Verhandlungen in Bonn die «Zwei-plus Vier»-Gespräche zwischen den beiden deutschen Staaten, der UdSSR, Frankreich, Großbritannien und den USA.
Nachdem mit dem Beginn der Verhandlungen zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion die Verhältnisse innerhalb der sich vergrößernden BRD weitgehend geklärt waren, mussten nun die äußeren Verhältnisse fixiert werden. Immerhin hatten die Siegermächte des 2. Weltkrieges noch Sonderrechte in beiden deutschen Staaten. Der Status Westberlins war zu klären. DDR und BRD waren in zwei sich feindlich gegenüberstehende Militärblöcke und Wirtschaftsorganisationen mit entsprechenden vertraglichen Verpflichtungen integriert. In der DDR war auf dieser Grundlage ein Kontingent der Sowjetarmee mit einem Personal von mehr als einer halben Million stationiert. Das Thema der künftigen Stellung der neuen BRD in Europa und in den Bündnissystemen war gleichzeitig mit dem Zusammenbruch der DDR im Herbst 1989 zum Gegenstand der Diskussionen auf den verschiedensten Ebenen geworden. In vier Verhandlungsrunden zwischen 5. Mai und 12. September 1990 wurde der «Zwei-plus-Vier-Vertrag» ausgehandelt, der die außenpolitischen Voraussetzungen für die deutsche Einheit schuf. Gleichzeitig wurde damit der Rahmen für eine Neubestimmung der globalen Machtverhältnisse abgesteckt.
Noch Mitte 1989 verkündeten Helmut Kohl und Michail Gorbatschow gemeinsam:
«Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion erklären, daß man eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer gewährleisten darf. Sie verfolgen deshalb das Ziel, durch konstruktive, zukunftsgewandte Politik die Ursachen für Spannung und Mißtrauen zu beseitigen, so daß das heute noch gegebene Gefühl der Bedrohung Schritt um Schritt von einem Zustand gegenseitigen Vertrauens abgelöst werden kann. Beide Seiten erkennen an, daß jedem Staat unabhängig von seiner Größe und seiner weltanschaulichen Orientierung legitime Sicherheitsinteressen zustehen. Sie verurteilen das Streben nach militärischer Überlegenheit. Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein.»
Noch im April 1990 glaubte Egon Bahr (SPD), einer der wichtigsten Sicherheitspolitiker der BRD, «daß eine vollständige Ausdehnung der NATO auf das dann ehemalige Gebiet der DDR ausscheidet. Was zur Diskussion steht, ist das Verbleiben der NATO-Truppen dort, wo sie sind. Aber auch das erscheint mir ziemlich grotesk.»
Bahr sprach in dieser Hinsicht die Meinung vieler DDR-BürgerInnen aus und auch die Friedensbewegung der BRD-alt konnte er hinter sich wissen.
Der Arbeitskreis Sicherheits- und Verteidigungspolitik des Parteivorstandes der PDS beschrieb die Position der Partei Anfang April 1990 folgendermaßen:
«Das im Ergebnis des Einigungsprozesses entstehende neue Deutschland kann angesichts der historischen Schuld der Deutschen für zwei verheerende Kriege und in Erwartung einer starken ökonomischen Leistungsfähigkeit nur mit radikal reduzierten, im Charakter und Auftrag gewandelten Streitkräften und einbezogen in neuartige nichtmilitärische kooperative Sicherheitsstrukturen Europas sich selbst und anderen Völkern Frieden und Sicherheit geben. Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bietet dafür den Rahmen. Denkbar wäre ein gesamteuropäischer Sicherheitsrat unter Einbeziehung aller bisherigen NATO- und WVO-Staaten [Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages]. Eine ständige Konferenz der europäischen Verteidigungsminister könnte das Dach für umfassende vertrauensbildende Maßnahmen und kontinuierliche Abrüstungsschritte bilden und damit auch den Wiener Verhandlungen neue Impulse geben.»[1]
In den von Hans Modrow im März[2] und Gregor Gysi im Jun[3]i mit der sowjetischen Seite geführten Gesprächen spielte die Frage nach einem neuen kollektiven Sicherheitssystem in Europa eine herausragende Rolle.
Die Diskussionen auf Regierungsebene liefen aber bereits in eine ganz andere Richtung. Bezüglich der Frage der NATO-Mitgliedschaft zeigten sich Ende April in den Gesprächen zwischen Lothar de Maizière und Michail Gorbatschow in Moskau gegensätzliche Positionen. Der zuständige Minister Rainer Eppelmann hatte sich einige Tage zuvor schon für eine NATO-Mitgliedschaft ausgesprochen. Er befand sich damit in Übereinstimmung mit der Koalitionsvereinbarung, in der es hieß, dass das vereinigte Deutschland für eine Übergangszeit bis zur Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems Mitglied der sich in ihren Funktionen verändernden NATO sein würde. Wie aber die «Funktionen der NATO» sich verändern sollten, war völlig offen. In einem Gespräch im Mai 1990 warnte Johannes Schönherr hier vor Illusionen. Er war im Dezember 1989 einer der Initiatoren des «Appells der 89» gewesen, in dem eine totale einseitige Abrüstung der DDR bis zum Jahr 2000 gefordert wurde. Schönherr meinte:
«Die USA… haben ein elementares Interesse daran, in Europa neben anderem auch militärisch präsent zu sein und zu bleiben. Frankreich und Großbritannien gehen ebenfalls nicht davon aus, dass der militärische Faktor an Bedeutung verloren hätte. Beide bauen ihre jeweiligen Atomarsenale aus – immer mit der Begründung, dass sie darauf gestützt den Eckpfeiler europäischer Sicherheitspolitik darstellen. Was das eigentlich heißt, definieren sie nicht.»
Bezüglich der immer wieder bekundeten Vision der Einbindung Deutschlands in neuartige gesamteuropäische sicherheitspolitische und weitere Strukturen bekundete er recht hellsichtig seine Skepsis:
«So schön und wichtig das wäre, ich glaube, dass die Verführungen des Mächtigseins in Deutschland auf sehr sensiblen Boden treffen. Es wird Kräfte geben, die mit der Macht nicht umzugehen verstehen, wie wir es gerne wünschen.»[4]
Die Entscheidungen dazu fielen ohnehin nicht in der DDR. Aus den Akten des Auswärtigen Amtes und Forschungen zum Einigungsprozess geht hervor, dass die Westmächte und die BRD von Anfang an davon ausgingen, dass die Konstellation nicht «2 plus 4», sondern «alle gegen die Sowjetunion» lauten würde. Zwar wurden auch hier der KSZE und den Abrüstungsverhandlungen große Bedeutung beigemessen, aber nicht im Sinne eines neuen kollektiven Sicherheitssystems. Es ging um die dauerhafte Dominanz der westlichen Bündnisse in den internationalen Beziehungen.
Im Jahr nach dem Beitritt der Länder der DDR zur BRD schrieb Frank Deppe über die neue Weltordnung:
«So zeichnen sich die Konturen einer Weltordnung ab, die sich radikal von den Visionen des "Neuen Denkens" abhebt. Dieses hatte das Ende des Ost-West-Gegensatzes und des Kalten Krieges als eine welthistorische Chance angesehen, kooperative Strategien für die Bewältigung der "globalen Menschheitsprobleme" … zu entwickeln… Nunmehr zeichnen sich die Konturen einer weltpolitischen Architektur ab, die die Regulation von multipolaren Machtbeziehungen innerhalb der Triade der kapitalistischen Zentren mit einer Kriegserklärung an die Dritte Welt verbinden. Die reichen Länder rücken - unter der politisch-militärischen Führung der USA - zusammen, um ihre Ökonomien, aber auch das Konsum- und Zivilisationsmodell der westlichen Welt mit Gewalt gegen alle Gefahren des Nationalismus, Fundamentalismus, Terrorismus etc. aus der Dritten Welt abzuschotten und zu verteidigen. Diese Ordnung beruht auf militärischer Gewalt und sie erzeugt notwendig neue Gewaltverhältnisse; …»[5]
(Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung neues deutschland und ihres online-Archivs, der Redaktion der Zeitschrift Z. Marxistische Erneuerung sowie der Bibliothek der Rosa-Luxemburg-Stiftung)
[1] AK Sicherheits- und Verteidigungspolitik (1990). Gedanken zum sicherheitspolitischen Konzept der PDS. Vorgelegt vom Arbeitskreis Sicherheits- und Verteidigungspolitik des Parteivorstandes, in: PDS - dokumente. standpunkte. materialien. Auswahl, Berlin: Kommission Politische Bildung beim Parteivorstand der PDS, 151–155. S. 152, siehe auch Pressedienst PDS vom 31.05.1990, Beilage, S. 1-3.
[2] Nakath, Detlef/Neugebauer, Gero/Stephan, Gerd-Rüdiger (Hrsg.) (1998). Dokument 25: Niederschrift über ein Gespräch von Hans Modrow, DDR-Ministerratsvorsitzender, mit Michail Gorbatschow, KPdSU-Generalsekretär und Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, am 6. März 1990 in Moskau, in: «Im Kreml brennt noch Licht»: die Spitzenkontakte zwischen SED/PDS und KPdSU 1989-1991, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 179–183, S. 181
[3] Dies.: Dokument 31: Vermerk über ein Gespräch von Gregor Gysi, Vorsitzender der PDS, mit Alexander Jakowlew, Politbüromitglied und Sekretär des ZK der KPdSU, am 14. Juni 1990 in Moskau (Auszüge), in: ebenda, S. 205–215, S. 206
[4] IPW-Berichte (1990). Der Stand der 2-plus-4-Gespräche - Probleme und Perspektiven, in: IPW-Berichte, Vol. 19(7), 1–6
[5] Deppe, Frank (1991). Die Weltordnung nach dem Ende der Systemkonkurrenz, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Vol. 2(8), 25–41; S. 41