Gefangen im Gewirr der Interessen
Beim Besuch Erich Honeckers in Moskau und Magnitogorsk (27.6.-1.7.1989) wurden Freundschaft und Zusammenarbeit zelebriert und es wurden Abkommen für die Zukunft geschlossen. Tatsächlich befand sich das sozialistische Weltsystem bereits in Auflösung.
Mitte Juni 1989 hatte Michail Gorbatschow die Bundesrepublik besucht, zwei Wochen später brach Erich Honecker nach Moskau auf. Dort tagte immer noch der Kongress der Volksdeputierten, über den Gorbatschow sagte:
«Hier sei eine neue Generation im Kommen, die tiefgreifende Veränderungen herbeiführen werde. Es gehe darum, das Potential des Sozialismus über die Demokratie in allen Bereichen des Lebens voll zu entfalten. Sozialismus und Demokratie seien nicht voneinander zu trennen.»[1]
Unter dem Eindruck der lebhaften Auseinandersetzungen sprach er gegenüber Honecker ausführlich über die aktuellen Herausforderungen. Die Spannungen im Lande hätten «eine sehr große Zuspitzung» erreicht. Mit Bezug auf die nationalen Fragen in der Sowjetunion führte der Gastgeber aus:
«Die Sowjetunion habe eine schwierige, komplizierte Geschichte hinter sich, vor allem was die Stalinzeit betreffe. Was damals auf diesem Gebiet getan wurde, räche sich jetzt.»[2]
Mit Absicht oder nicht – Gorbatschow beschrieb damit gegenüber dem Gast aus der DDR die Grenzen, die die künftige Zusammenarbeit bestimmen würden und die Erwartungen, die die Sowjetunion auch gegenüber der DDR hatte.
Wie auch schon in dem Gespräch mit Schewardnadse am 9. Juni malte Honecker ein Bild einer heilen DDR-Welt. Nun wirkten die Probleme des Landes vielleicht noch klein im Vergleich zu Polen, Ungarn oder Rumänien. Trotzdem hätte man von einem Staatsmann (Honecker war nie einer, nahm aber den Posten ein) erwarten dürfen, einen klaren Blick auf die Realitäten in seiner Umgebung und die Konsequenzen für das eigene Land zu haben. Denn die sozialistische Staatengemeinschaft befand sich in rasanter Auflösung.
Die sowjetische Botschaft in Ungarn konstatierte im Mai/Juni 1989, dass wegen der wirtschaftlichen Probleme ein «immer größerer Teil der Gesellschaft , besonders die Vertreter der Intelligenz und der Jugend, … die Perspektiven für die Lösung der Probleme… nicht auf sozialistischer Grundlage [sieht]. Ein Ausweg aus der entstandenen Lage stellt sich für sie im Wege einer stufenweisen Integration Ungarns in die weltweite kapitalistische Wirtschaft dar.»[3] In Polen war mit den Wahlen vom 4. bzw. 18. Juni 1989 klar, dass die Kommunistische Partei ihre Herrschaft verloren hatte und zu zerfallen begann.[4] In Bulgarien und Rumänien wurden ethnische Konflikte, ähnlich wie in der Sowjetunion, zu Katalysatoren der Unzufriedenheit und z.T. Ausgangspunkt brutaler Auseinandersetzungen.
Und natürlich hatte der Westen seine grundsätzlichen Strategien zur Beseitigung jedes alternativen gesellschaftspolitischen Ansatzes nicht aufgegeben. Die Akzeptanz der Existenz eines Realsozialismus als Fakt (was schon viel war), Verhandlungen zur Abrüstung oder wenigstens Rüstungskontrolle, Boykott, Sabotage und Unterstützung oppositioneller Kräfte fielen im Handeln des Westens immer zusammen – wie auch die realsozialistischen Länder ihre Freunde im Westen mit allen Mitteln unterstützten. Konservative, ReformerInnen und Oppositionelle im Realsozialismus mussten sich immer, auch 1989, in diesem Interessengeflecht positionieren – und sie taten dies in sehr unterschiedlicher Weise. Am Beginn stehen z.B. mit den Runden Tischen in Polen, Ungarn, später in der DDR oder dem Kongress der Volksdeputierten in der Sowjetunion innovative Formen der Demokratisierung des politischen Systems. Warum setzte sich diese Richtung nicht fort?
Die allgemeine Erwartung war die der Entstehung eines wohlfahrtsstaatlichen bürgerlichen Systems nach dem allerdings idealisierten Bild der Verhältnisse im Westen. Maßgebliche Teile der Opposition und Teile der noch herrschenden Eliten vor allem in Polen und Ungarn hatten sich aber, so die selbstkritische Reflexion Oppositioneller einige Jahre später, schon früh von diesem Gedanken einer sozialen Marktwirtschaft verabschiedet.
Tadeusz Kowalik beschreibt für Polen den Umschwung in der Opposition von einem sozialdemokratisch-wohlfahrtsstaatlichen Kurs hin zu einem beinhart neoliberalen noch 2011 mit offensichtlicher Fassungslosigkeit. Er betont dabei die kulturell-ideologische Komponente, aber auch die Langfristigkeit dieser Umorientierung. Seiner Meinung nach war 1988 schon klar, dass eine Änderung der Politik nur in diese Richtung verlaufen könnte.[5] Gáspár M. Tamás beschreibt diesen Prozess so:
«In Polen scheiterten, ziemlich symbolhaft, die Partei und ihr Gegner, die Arbeiterräte, gemeinsam. Beide endeten damit, dass sie – aus unterschiedlichen, vielleicht sogar gegensätzlichen Gründen – das Marktsystem befürworteten… In anderen Ländern wurde die Macht der Partei zu Geheimdiensten, regulären Regierungen, Runden Tischen, Reformkomitees, Managern von Großbetrieben, der zentralen Planungsbehörde, der Nationalbank, den Forschungsinstituten der Akademien der Wissenschaften, regionalen Bossen und zu den immer unabhängigeren liberalen oder nationalistischen Medien ausgelagert.»[6]
In der Sowjetunion formierten sich zwei Flügel unter den ReformerInnen. Der eine, der eine schrittweise Wirtschaftsreform unter Wahrung von Momenten zentraler Planung und Leitung befürwortete, und einer, der eng verbunden mit vor allem US-amerikanischen Vorstellungen (und wohl auch BeraterInnen) einen schnellen Übergang in eine neoliberale Wirtschaftsordnung favorisierte. Beide Flügen rekrutierten sich aus den alten Eliten, auch wenn die marktradikale Strömung eher der jüngeren Generation angehörte. Sie sind es auch, die in den neunziger Jahren die Wirtschaftspolitik bestimmten und bis heute wichtige Positionen in den Apparaten der nachsowjetischen Staaten einnehmen, vor allem in Russland.
Offen bleibt allerdings, warum es so kam. Sicher waren die ökonomischen (Verschuldung gegenüber westlichen Gläubigern, technisch-technologischer Rückstand usw.), sozialen und Umweltprobleme groß und sie bilden den entscheidenden Hintergrund. Warum aber wurden durchweg solidarische Lösungswege von der überwiegenden Mehrheit nicht einmal in Erwägung gezogen? Die in den Machtstrukturen liegenden Gründe sind ausführlich diskutiert. Bezogen auf die polnische KP (PVAP) meinte deren Parteichef Rakowski im Herbst 1989:
«Sowohl in der Partei als auch in der Führung herrschte eine besondere Art des Konservatismus. Zudem ist die Partei auch jetzt nicht für einen politischen Kampf bereit. Wir haben gelernt, Verordnungen zu erlassen, Beschlüsse zu fassen, Parolen zu verlautbaren und zu plakatieren, anschauliche Agitation zu betreiben; unter dem Schirm des Staates, der Armee, der Sicherheitsorgane fühlte sich die Partei wohl und hat es verlernt, mit den Massen zu arbeiten…»[7]
V. Holub, der Leiter des Sekretariats des Generalsekretärs der KPČ erklärte in einem Gespräch in der sowjetischen Botschaft, dass die Stagnation und die Unmöglichkeit, tatsächlich die notwendigen Reformen durchzusetzen, vor allem mit dem «Stillstand der Kaderarbeit» zusammenhingen. Im Verlaufe der letzten 20 Jahre sei man so in eine Sackgasse geraten.[8] Mit anderen Worten – es gab einfach niemanden, der oder die eine glaubhafte Alternative verkörpern und eine andere Arbeitsweise hätte durchsetzen können. Das oft beschworene Potential, das durch die sozialistische Entwicklung entstanden war, wurde in den entscheidenden Fragen eigenständiger Partizipation und Selbstorganisation nie herausgefordert und war verkümmert.
Es ging aber eben nicht nur um die Veränderung des politischen Systems. Eine Lösung jenseits der Selbstaufgabe an den Westen hätte genauso mit dem seit Jahrzehnten verfolgten Weg der Imitation westlicher Lebensweise brechen müssen. Dazu fehlte aber die gesellschaftliche Akzeptanz und eine entsprechende politische Kultur.
Im Juni 1989 bleibt es allerdings, wenn offensichtlich noch eindrucksvoll, noch bei der Fassade von sozialistischer Staatengemeinschaft und proletarischem Internationalismus. Der dahinter laufenden Erosion des sozialistischen Weltsystems steht die US-amerikanische Strategie gegenüber, die Condoleeza Rice so charakterisierte: Eine Wiedervereinigung ohne NATO-Erweiterung sei für die USA undenkbar gewesen:
«Es ist richtig, dass die USA tatsächlich nur eine Sorge hatten, diejenige nämlich, dass die Wiedervereinigung Deutschlands die NATO zerstören könnte.»[9]
Diese Sorge beginnt nicht im Herbst 1989, sie bestimmt die USA-Politik schon davor. Rice beschreibt die Sorge der USA zu einem Zeitpunkt, als Verhandlungen über Abrüstung und gemeinsame Sicherheit in den öffentlichen Diskussionen einen heute kaum noch vorstellbaren Stellenwert hatten.
Es ist müßig zu spekulieren, welche Alternativen sich unter welchen Bedingungen hätten bieten können. Es bleibt der Fakt, dass diese Vielschichtigkeit der Problem- und Interessenlagen die Linken und auch die Gesellschaften insgesamt in den gerade noch realsozialistischen Ländern überforderte.
(Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung neues deutschland und ihres online-Archivs.)
[1] Honecker, Erich/Gorbachev, Mikhail Sergeevich (1993). Dokument 19: Niederschrift des Arbeitstreffens des Genossen Erich Honecker, Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, mit Genossen Michail Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, am 28.6.1989 in Moskau, in: Küchenmeister, Daniel/Stephan, Gerd-Rüdiger (Hrsg.): Honecker, Gorbatschow: Vieraugengespräche, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 208–239. S. 217f.
[2] Ebenda, S. 213.
[3] Dokument 53: Analyse des sowjetischen Außenministeriums [nicht vor Mai 89], in: Karner, Stefan/Kramer, Mark/Ruggenthaler, Peter/Wilke, Manfred (Hrsg.) (2014). Der Kreml und die „Wende“ 1989 : interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime ; Dokumente, Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz - Wien - Klagenfurt : Sonderband ; 15. Innsbruck: StudienVerlag S. 351–357. S. 352
[4] Dokument 58: Zur Lage in Polen nach den Wahlen zur Nationalversammlung und die Perspektiven ihrer Entwicklung [9. Juni 1989], in: Karner, Stefan u.a. (Hrsg.). a.a.O., 370–373
[5] Kowalik, Tadeusz. 2011. From Solidarity to sellout: the restoration of capitalism in Poland. New York, NY: Monthly Review Press.
[6] Tamás, Gáspár M. 2015. Marx zu 1989. In: Kommunismus nach 1989. Beiträge zu Klassentheorie, Realsozialismus und Osteuropa, Hrsg. Georg Wallner, S. 199–235. Kritik & Utopie. Wien: Mandelbaum. S. 221f.
[7] Dokument 78: Aufzeichnungen des Gesprächs Michail S. Gorbačevs mit dem Ersten Sekretär des ZK der PVAP, Mieczysław Rakowski, in: Karner, Stefan u.a. (Hrsg.). a.a.O., S. 471
[8] Dokument 36: Notiz über das Gespräch mit dem Leiter des Sekretariats des Generalsekretärs Vaclav Holub, in: Karner, Stefan u.a. (Hrsg.). a.a.O., S. 282.
[9] Plato, Alexander von. 2003. Die Vereinigung Deutschlands - ein weltpolitisches Machtspiel: Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle. 2., durchgesehene Aufl., Lizenzausg. Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung 381. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung., S. 29