Parallelwelten

Nachdem in den Wochen zuvor die Diskussionen zwischen den BürgerInnen, seien sie Parteilose oder Mitglieder von Parteien, schon liefen, versuchte nun die Parteiführung, sich auch diesen Debatten zu stellen. Allein in Dresden beteiligen sich am 25. Oktober 100.000 Menschen an öffentlichen Dialogveranstaltungen. 

Die Führung hatte allerdings wenig anzubieten. Zwar wurde die Ausarbeitung eines neuen Reisegesetzes in Auftrag gegeben und am 27. Oktober eine Amnestie verkündet. Das reichte aber nicht, um die Mehrheiten von der Ernsthaftigkeit tiefergehender Veränderungen zu überzeugen. Es ging nicht um eine „Wende“ auf „dem bewährten Weg“, sondern um Anderes. Gleichzeitig gewinnt in den Forderungen die nach der völligen Öffnung der Grenze zur BRD und Westberlin und auch nach der deutschen Einheit in Ost und West zunehmend an Gewicht. Am 31.Oktober sieht sich Hans-Joachim Vogel veranlasst, entsprechende Diskussionen in der Regierung der BRD zu kritisieren.[1]

Auf der ZK-Sitzung, die der als Rücktritt inszenierten Entmachtung Honeckers am 18. Oktober folgte, zeigte sich nochmals die völlige Hilflosigkeit des Gremiums gegenüber diesem Bedürfnis nach dem Neuen und der entstandenen Dynamik – und bestätigte nun wirklich jeden Vorbehalt gegen die SED. Moritz Mebel, einer der führenden Mediziner der DDR, im 2. Weltkrieg Freiwilliger der Roten Armee, seit 1971 Kandidat und 1986 Mitglied des Zentralkomitees der SED, brachte in seinem Diskussionsbeitrag die ganze Tragik der Entwicklungen aus der Sicht seiner Generation zum Ausdruck:

„Wir sind Mitglieder unseres Zentralkomitees und tragen die Entscheidung unseres Politbüros. Aber, aber, Genossen, wir bitten und fordern, daß entsprechend den Statuten unserer Partei das Plenum des Zentralkomitees nicht nur ein Abstimmungsklub wird- entschuldigt, daß ich das sage, -(Beifall)- sondern daß wir offen und ehrlich miteinander diskutieren. Warum können wir das dann nicht? Wir alle würden Tropfen um Tropfen Blut für diese Sache hergeben, wenn es notwendig ist. Ich hoffe, daß es niemals dazu kommen wird. Ich glaube, daß viele, die hier sitzen, mit ihrem Leben es bewiesen haben, daß sie bereit sind, dafür zu kämpfen und ihr Leben einzusetzen. Aber ich muß auch sagen, und das stimmt mich traurig, liebe Genossen des Politbüros: Wir haben heute hier schwere, menschlich schwere, politisch schwere, persönlich schwere Konsequenzen - bei aller Anerkennung der großen Verdienste unseres gewesenen Generalsekretärs der Partei- ziehen müssen.

Ich frage mich aber: Hat sich das Politbüro, haben wir uns gemeinsam rechtzeitig Gedanken darüber gemacht, ob die Aktionen, die Optionen, die wir durchführen, immer die richtigen waren? Warum haben wir geschwiegen? Warum habe ich geschwiegen und habe nicht den Mut gehabt, hier vor­ zutreten und zu sagen: Genossen, das, das und das ist nicht so. Ich habe vor dem Feind- das möchte ich hier sagen, nicht um mich herauszustellen- Mut gezeigt. Ich war an der Front, das wißt ihr. Ich bin Mitstreiter in der Sowjetarmee gewesen. Aber hier habe ich diesen Mut nicht gezeigt. Ich habe in den Korridoren diskutiert, aber hier an dieser Tribüne und auf dieser Tribüne war der Moritz Mebel mit Kritik und positiver Kritik nicht zu hören. Und ich muß euch sagen - ich stehe ja nun nicht mehr am Anfang meines Lebens-, das ist eine Bürde, an der ich ganz schwer zu knabbern habe. Ich möchte von niemandem hier sozusagen bemitleidet werden, das hat ein Kommunist nicht nötig. Aber ich möchte versichern, daß ich in Zukunft, solange ich diesem Zentralkomitee angehören und der Partei dienen kann, immer dem von mir und von uns gemeinsam hier beschlossenen Programm dienen werde… ich habe in den letzten Tagen im Ausland, aber auch hier bei uns in der Republik viele Diskussionen gehabt: Die Partei steht zu uns, die Partei erwartet das Wort, und ich möchte sagen, Egon, das, was du hier gesagt hast, das ist das, was die Partei erwartet…“[2]

Mebel beschreibt hier in treffenden Worten, wie die Situation entstehen konnte – und begründet letztlich, warum es keinen Ausweg in den entstandenen Strukturen mehr gibt.


[1] Möller, Horst/Amos, Heike/Geiger, Tim/Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.) (2015). Dok. 17: Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Außenminister Dumas in Paris, 26. Oktober 1989, in: Die Einheit: das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess, V & R Academic. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 124–127, S. 126

[2] Hertle, Hans-Hermann (Hrsg.) (2014). 9. Tagung des ZK der SED im Plenarsaal des ZK-Gebäudes in Berlin, Mittwoch 18. Oktober 1989, in: Das Ende der SED: die letzten Tage des Zentralkomitees, Forschungen zur DDR-Gesellschaft. Berlin: Links, 103–133, S. 120f.