Nachricht | Radikalenbeschluss / Berufsverbote Den Staat vor «Extremisten» schützen?

Deutungen und Hintergründe des «Radikalenbeschlusses»

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Dortmund 1980: Die Gerichtsverhandlung des Landgerichts Dortmund gegen den Zugbegleiter Hans-Jürgen Langmann war begleitet von Protesten anderer Betroffener des Radikalenerlasses. IMAGO / Klaus Rose

Dieser Artikel ist Teil des Themen-Specials «Der Radikalenbeschluss wird 50».

In der breiten Öffentlichkeit wird der Radikalenbeschluss von 1972 oft als mehr oder weniger nachvollziehbare Reaktion auf den «Marsch durch die Institutionen» der Neuen Linken dargestellt. Er hatte aber noch viele weitere und tiefer liegende Ursachen.[1]

Dass in der Bundesrepublik vor allem die Verfassungsschutzämter darüber befanden, wer als «Verfassungsfeind» anzusehen sein sollte und wer nicht, war seit den 1950er Jahren übliche Praxis. Das Bundesverfassungsgericht hatte sie im so genannten Abhör-Urteil von 1970 bei dem es vor allem um Telefonüberwachung ging, sogar ausdrücklich bestätigt: Die Ämter seien verfassungsrechtlich befugt und verfügten zudem über das entsprechende Knowhow. Als «streitbare Demokratie», so die Richter weiter, könne die Bundesrepublik den «Missbrauch der Grundrechte» durch «Verfassungsfeinde» «nicht hinnehmen». Eine Gefahr für die Grundrechte stelle das offensive Vorgehen des Verfassungsschutzes schon deshalb nicht dar, weil die Grundrechte nur Bestand hätten, wenn sich der demokratische Staat erfolgreich vor «Extremisten» schütze. In nuce haben wir hier bereits angelegt, was der spätere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) vor ein paar Jahren einmal als «Supergrundrecht Sicherheit» bezeichnet hat. Viele haben damals gelacht – zu Unrecht, denn im Abhörurteil war dies schon enthalten.

Dominik Rigollist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) und Mitglied des Gesprächskreis Geschichteder RLS.

Verfassungsrechtlich und parteipolitisch

Allerdings veröffentlichten drei Richter zu dem Abhör-Urteil ihre Mindermeinung, einen Widerspruch. Diese Richter, allesamt frühere Gegner des Naziregimes, warnten, dass sich die «streitbare Demokratie» gegen sich selbst wende, wenn sie den Sicherheitsbehörden zu leichtfertig zu viele Befugnisse gebe: «Den Anfängen zu wehren» bedeute eben nicht, «Verfassungsfeinde» offensiv zu bekämpfen, sondern stets aufs Neue abzuwägen zwischen Staatsschutz und Grundrechtsschutz. Denn auch vom Staat und seinen Behörden könne eine Gefahr für die demokratische Grundordnung ausgehen. «Den Anfängen zu wehren» bedeute, auch diese Gefahr stets im Auge zu behalten.

Wenn man die Akten des Bundesinnenministeriums auswertet, fällt auf, dass die Vorarbeiten zum späteren Radikalenbeschluss im Laufe des Jahres 1971 voll und ganz im Geist des Abhör-Urteils stehen. Von der breiten Öffentlichkeit war es zeitgenössisch kaum wahrgenommen worden, sehr wohl aber in den Innenministerien und den Ämtern für Verfassungsschutz. Alle Innenminister, auch diejenigen, die den sozialliberalen Parteien angehörten, machten sich die offensive Auslegung der «streitbaren Demokratie» zu eigen; alle hegten ein fast naiv anmutendes Vertrauen in den Verfassungsschutz und die anderen Institutionen des Rechtsstaats, dass diese in der Lage sein würden, die Demokratie effektiv und rechtsstaatlich zu schützen.

Neben dieser an der verfassungsrechtlichen Perspektive interessierten Deutung des Beschlusses gibt es eine eher parteipolitisch argumentierende. Der Beschluss der Regierungschefs der Bundesländer wird in erster Linie als eine Folge des immensen politischen Drucks interpretiert, der 1972 auf der sozialliberalen Bundesregierung lastete. SPD und FDP hatten nach der Wahl 1969 für ihre Koalition nur eine sehr dünne Mehrheit im Bundestag. Das politische Hauptthema in den Jahren 1970 bis 1972, also in der Zeit unmittelbar vor dem Erlass, war die Neue Ostpolitik: Die Aufnahme oder Vertiefung diplomatischer Beziehungen mit Polen, der CSSR, der Sowjetunion und der DDR. Diese Neue Ostpolitik wurde von der CDU/CSU, aber auch von der organisierten Rechten, heftig bekämpft und als verfassungswidrig angesehen. Ein wichtiger Aspekt dieses Kampfes war, dass der SPD unterstellt wurde, sie wolle sich nicht nur außenpolitisch öffnen, sondern ziele auch innenpolitisch auf eine Kooperation mit Kommunist:innen ab – ein Vorwurf, der mit Blick auf die SPD-Parteiführung völlig haltlos war.

Er war aber nicht ganz an den Haaren herbeigezogen, da Teile der Jusos, also der SPD-Jugendorganisation, damals in der Tat für eine Zusammenarbeit mit der DKP eintraten. Sie konnten dabei auf Frankreich verweisen, wo sich der demokratische Sozialist François Mitterrand mit den Kommunist:innen verbündet hatte, oder auf Italien, wo sogar die Christdemokraten unter Aldo Moro die Fühler nach ganz links ausstreckten. In diesem (inter-)nationalen Kontext war der Radikalenbeschluss ein Zeichen – gerichtet ebenso sehr an die Kritiker aus der CDU/CSU wie an den eigenen Parteinachwuchs.

Die Jusos hatten für eine solche Haltung wenig Verständnis. Sie vertrauten Sozialdemokraten wie Willy Brandt und Horst Ehmke, die Ende der 1960er Jahre dafür geworben hatten, dass die politisch linkspolitisierten jungen Leute ihr Kreuz bei der SPD machen oder noch besser in die Partei eintreten sollten; sie erinnerten insbesondere an Brandts Ankündigung, seine Regierung wolle «mehr Demokratie wagen». Wenn Brandt nun eine klare Trennlinie zwischen SPD und DKP-Umfeld zog, war dies für sie kein Schutz der Demokratie, sondern das Gegenteil. Man muss sich hier vergegenwärtigen, dass nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen westeuropäischen Ländern sozialdemokratische und kommunistische Parteien linke Bündnisse anstrebten – auch aus dem Elan heraus, den die 68er-Protestbewegungen gebracht hatten. Der Erlass von 1972 erschien aus dieser Perspektive klar als Abkehr vom Westen nach einer Phase der intensiven Liberalisierung und Demokratisierung in den 1960ern. Warum sollten junge westdeutsche Kommunist:innen «undemokratischer» sein als französische?

Willy Brandt wiederum trug den Radikalenbeschluss nicht etwa deshalb über Jahre mit, weil er in dem Linksruck der Jugend eine Gefahr für die Demokratie erblickte. Dies tat er nicht. Er trug den Beschluss aus taktischen Gründen mit, um Druck von der SPD zu nehmen. Dieser Punkt scheint auch wichtig für die Forderung nach Rehabilitierung zu sein: Denn wenn jemand wie Willy Brandt, der heute parteiübergreifend als einer der Gründerväter unserer Demokratie respektiert wird, die Maßnahme 1976 ausdrücklich als einen «Fehler» bezeichnete, den er selber begangen habe, so war das nicht einfach so daher gesagt. Welcher Politiker gibt schon Fehler öffentlich zu, noch dazu in einem so heiklen Bereich wie der inneren Sicherheit? Auch Gustav Heinemann (SPD), 1972 amtierender Bundespräsident, äußerte sich nach seiner Amtszeit kritisch zum Radikalenbeschluss.

Unter den Tisch fällt bei der parteipolitischen Deutung des Beschlusses freilich, dass es auch und gerade in der SPD und der FDP viele gab, die voll und ganz hinter dem Beschluss standen und ihn letztlich auch herbeigeführt haben, ohne dass der Druck der CDU/CSU dabei eine große Rolle gespielt hätte. Neben dem Hamburger Verfassungsschutz-Chef und SPD-Rechtsaußen Hans Josef Horchem seien hier beispielhaft nur die SPD-Politiker Kurt Neubauer und Heinz Ruhnau genannt, die 1972 Innensenatoren von Berlin und Hamburg waren, aber natürlich auch Hans-Dietrich Genscher, dem bis 1975 amtierenden FDP-Bundesinnenminister.

Ehemalige Nazis im Sicherheitsapparat

Bei diesen Politikern handelte es sich um Angehörige der so genannten HJ-Generation, die ihr Leben lang überzeugte Antikommunisten gewesen waren: zunächst im Naziregime, das sie noch 1944/45 als Kindersoldaten («Flakhelfer») einsetzte, dann im Kalten Krieg. Genscher brachte zusätzlich noch die Erfahrung der DDR mit, aus der er 1952 übersiedelte. Sie gehörten zu den sozialliberalen Kräften, die seit 1969 den Ausbau der inneren Sicherheitsarchitektur vorantrieben – zunächst gegen «gewöhnliche» Kriminalität, später auch gegen «Radikale im öffentlichen Dienst» und die RAF, wobei die politische Rechte meist verschont blieb. Von der Union wurden diese Sozialliberalen nicht etwa getrieben, sondern unterstützt und geschätzt.

Warum legten Genscher, Neubauer und Ruhnau so viel Wert auf Themen der inneren Sicherheit? Zum einen lässt sich bei ihnen eine Vorstellung von «streitbarer Demokratie» identifizieren, wie sie auch für das Abhör-Urteil von 1970 charakteristisch war: die Überzeugung, dass Demokratie am besten dadurch geschützt wird, wenn «Extremisten» möglichst offensiv bekämpft werden; das große Vertrauen in die Sicherheitsbehörden, die ihren Job schon gut machen werden. Zum anderen waren Genscher, Neubauer und Ruhnau – genau wie ihre Kollegen von der CDU/CSU – fest davon überzeugt, dass der demokratische Staat gegen die organisierte Linke unbedingt «Stärke zeigen» müsse, wolle er in den Augen «der Bevölkerung» nicht an Legitimität verlieren. Im Blick hatten sie dabei nicht nur jenen Teil ihrer Wählerinnen und Wähler, das harte Vorgehen laut Umfragen mehrheitlich guthießen. Sie gingen auch davon aus, dass sich viele Angehörige der Sicherheitsbehörden bei zu hoher Regierungstoleranz gegenüber der Linken nicht mehr loyal verhalten würden.

Vor diesem Hintergrund lohnt es, sich zu vergegenwärtigen, dass in den 1970er Jahren noch immer viele Schlüsselstellungen im Bereich der inneren Sicherheit mit Personen besetzt waren, die selbst aktiv an den Verfolgungsmaßnahmen der Hitlerdiktatur mitgewirkt hatten und trotzdem als «geeignete» Beamte galten. Hubert Schrübbers, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, als der Radikalenbeschluss gefasst wurde, war als Ankläger in Staatsschutzverfahren an NS-Unrecht beteiligt. Willi Geiger, Bundesverfassungsrichter von 1951 bis 1977, der das Abhör-Urteil von 1970 und das Urteil zum Radikalenbeschluss im Jahr 1975 entscheidend beeinflusst hat, arbeitete als Doktorand über «volksschädigenden und kulturzersetzenden Einfluss der jüdischen Rasse auf dem Gebiet der Presse» und hatte Berufsverbote für jüdische Journalisten gutgeheißen. Später war er als Staatsanwalt am Sondergericht Bamberg an fünf Todesurteilen beteiligt. Edmond de Chapeaurouge, erster Berichterstatter des für die Verwaltungspraxis entscheidenden Urteils des Bundesverwaltungsgerichts zum Radikalenbeschluss (1975), hatte an einem «Rasseschande»-Urteil mitgewirkt. Der zweite Berichterstatter, Rudolf Weber-Lortsch, war im Krieg unter anderem Chef des Amts für Verwaltung und Recht beim Höheren SS- und Polizeiführer für Norwegen gewesen. Beide, de Chapeaurouge und Weber-Lortsch, hatten in den 1960er Jahren in so genannten 131er-Verfahren ehemaligen Gestapo-Angehörigen den Weg zurück in den Staatsdienst geebnet. Nun urteilten sie, dass der Staat schon bei kleinen Zweifeln an der Verfassungstreue von Bewerber:innen nicht nur ablehnen dürfe, sondern müsse, wenn er grundgesetzkonform handeln wolle. Konkret hieß dass, dass kommunistische Lehrer:innen auch dann auszuschließen waren, wenn sich ihr Kollegium, ihre Schülerschaft und Elternvertreter für sie einsetzten. Das tatsächliche Verhalten war irrelevant, allein die Organisationsmitgliedschaft zählte.

Ein langer Marsch durch die Institutionen?

Womit wir bei einer weiteren Deutung wären: der Radikalenbeschluss als logische Antwort des demokratischen Staates auf den «langen Marsch durch die Institutionen». Dieser Interpretation zufolge bestand 1972 Gefahr, dass die organisierte Linke, wenn sie erst einmal an den Universitäten und Schulen «die Macht übernommen» habe, eine schleichende «Systemveränderung» durchführen würde – hin zu einem wie auch immer gearteten autoritären Sozialismus. Heute würde man dies als «Verschwörungstheorie» bezeichnen, denn den Linken, die in der Tat in relativ großer Zahl vor allem in die Bildungsinstitutionen strömten, gingen in der Regel überhaupt nicht «subversiv» vor und hatten auch nicht an der Errichtung einer kommunistischen Parteidiktatur gearbeitet. Vielmehr versuchten sie, ihren Job zu machen und dabei linke Akzente zu setzen. Der «Marsch durch die Institutionen» war also keine Verschwörung oder geplante Unterwanderung, die dunkle Mächte in Ost-Berlin, Moskau oder Peking fernsteuerten. Er wurde von rechten und rechtsoffenen Intellektuellen aber regelmäßig so dargestellt, geframed.

Die vielleicht wichtigsten intellektuellen Stichwortgeber in dieser Hinsicht waren der Politologe und Zeithistoriker Theodor Eschenburg, der auch im Bund Freiheit der Wissenschaft (BFW) gegen die vermeintliche Unterwanderung der Hochschulen aktiv war, und Helmut Schelsky, einer der bedeutendsten Soziologen der Republik zu jener Zeit. Eschenburg veröffentlichte im Januar 1971 in der ZEIT einen Artikel, der das vermeintliche Radikalenproblem im öffentlichen Dienst auf die politische Agenda setzte. Schelsky wiederum sekundierte im Dezember 1971 in der FAZ mit einem verschwörungstheoretischen Artikel über die linke «Systemüberwindung», den nicht nur Intellektuelle wie Hermann Lübbe begeistert aufnahmen, sondern auch und gerade die sozialliberale Bundesregierung. Verteidigungsminister Helmut Schmidt ließ den Text in der Bundeswehr-Zeitschrift abdrucken, Hans Dietrich Genscher nahm ihn im Februar 1972 in den Verfassungsschutzbericht seines Ministeriums auf.

Schelskys Text, der im Ganzen sehr vage blieb und kaum konkrete Akteure benannte, lieferte einen Monat vor dem Radikalenbeschluss den pseudosoziologischen Unterbau für das Abhör-Urteil von 1970. Der Soziologe diagnostizierte, dass die bundesdeutsche Demokratie zum einen deshalb in großer Gefahr schwebe, weil der politische Linksruck der 1960er Jahre von einer generationellen Dynamik getragen werde; zum anderen, weil die jungen Revolutionäre so täten, als ginge es ihnen nicht um eine kommunistische Diktatur, sondern um «Demokratisierung». Dabei nutzten junge «Systemüberwinder» geschickt die Freiheitsrechte, die die parlamentarische Demokratie biete. Besonders eindrücklich funktioniere dies schon jetzt an den Schulen und Universitäten. Gebiete ihnen niemand Einhalt, seien auch bald die Polizei und das Militär an der Reihe. Der demokratische Staat müsse nun den Anfängen wehren, wenn er nicht den Weg in den Abgrund gehen wolle, den einst die Weimarer Republik beschritten hatte.

Nun ist es im Rückblick natürlich immer leicht festzustellen, wie falsch Zeitgenossen mit ihren Zukunftsprognosen lagen. Aber der Fall Schelsky scheint doch besonders krass zu sein, schließlich haben wir es mit einem Soziologen zu tun, der sonst durchaus empirisch zu arbeiten wusste. In diesem Fall jedoch kam Schelsky ohne Fußnoten und fast ohne Empirie aus. Man findet bei ihm keine Zahlen über Mitglieder und Anhänger der von ihm als brandgefährlich bezeichneten Gruppen – was vielleicht auch dadurch zu erklären ist, dass die Ämter für Verfassungsschutz, die über dieses Zahlenmaterial verfügten, stets versicherten, dass die radikale Linke viel zu schwach und zersplittert sei, als dass eine «akute Gefahr» von ihr ausgehen könne. Man findet bei ihm aber natürlich auch keine Zahlen über Universitäten und Fakultäten, an denen Konservative auch in den 1970er Jahren noch tonangebend waren; oder über Wahlen, bei denen regelmäßig über 90 Prozent für die «etablierten» Parteien stimmten.

Eine deutsche Besonderheit

Aber die interessante Frage ist im Bereich der inneren Sicherheit ja ohnehin nicht nur, ob eine Gefahrenanalyse korrekt ist, sondern warum sie die Leute glauben, obwohl gewichtige Argumente dagegensprechen. Ein wichtiger Grund ist zweifelsohne, dass die gesellschaftliche Entwicklung in den 1960er Jahren so rasant verlief, dass man es als Angehöriger des «Establishments» schon mit der Angst zu tun bekommen konnte – genau wie es viele junge Linke gab, denen die Revolution zum Greifen nah zu sein schien.

Der zuletzt genannte Aspekt traf freilich auch auf andere Gesellschaften des Westblocks zu, wo es keine mit dem Radikalenbeschluss vergleichbare Maßnahmen gab. Eine deutsche Besonderheit war dagegen die Existenz der DDR – und die in der BRD lange praktizierte generelle Kriminalisierung kommunistischen Engagements. Bis zu der 1968 maßgeblich von Gustav Heinemann vorangetriebenen Tolerierung der DKP und der Einstellung der politischen Strafverfolgung von Komunist:innen (zwei Reformen, mit denen sich die Bundesrepublik anderen liberalen Demokratien politisch annäherte), rief der bundesdeutsche Rechtstaat im Grunde allen, die sich in einer kommunistischen Partei oder in einer anderen (vermeintlich) kommunistischen Organisation engagierten, zu: «Geht doch rüber, wenn es Euch hier nicht passt!» Diese Haltung, die schon hinter dem so genannten Adenauererlass von 1950 gestanden hatte, der vor allem Angehörige der KPD und ihrer Vorfeldorganisationen aus dem Staatsdienst drängen sollte, dürfte denn auch der entscheidende Grund dafür sein, warum nur in der Bundesrepublik ein Radikalenbeschluss gefasst wurde und nicht in anderen Ländern mit 68er-Bewegungen.

Gar nicht mal so sehr, weil die politischen Zugangsbedingungen zum ostdeutschen Staatsdienst um ein vielfaches strenger waren als die in der Bundesrepublik (was in der DDRpassierte interessierte im Westen nur wenige[2]), sondern weil die umfassende Exklusion von Kommunist:innen ebenso zur Staatsräson der alten Bundesrepublik zählte wie die größtmögliche Inklusion von ehemaligen Nazis und aktiven Rechten. Eben weil dies so war, galt ausbürgernder Antikommunismus in Westdeutschland lange als Ausweis einer durchaus demokratischen, «freiheitlichen» Haltung: Demokratisch sein und Kommunist:innen gegenüber tolerant oder gar kooperationsbereit, schloss sich dagegen gegenseitig aus. Sollten die jungen Linken doch in der DDR unterrichten!

Allein, die Zeiten hatten sich gewandelt. Die jungen Leute, denen man in den 1970er Jahren «geh doch rüber» entgegenrief, waren im Westen aufgewachsen; hatten ihre Familie, Freunde und Kinder dort. Mochten sie sich in einer Partei engagieren, deren Vorbild die DDR oder das maoistische China war – sie waren doch «Kinder der Bunderepublik». So hat es der deutsch-französische Intellektuelle Alfred Grosser einmal auf den Punkt gebracht. Grosser wunderte sich darüber, warum es den Westdeutschen so schwerfiel, das linke Engagement der jungen Leute als ein Ergebnis der Verhältnisse in Westdeutschland anzuerkennen und entsprechend zu behandeln. Stattdessen werde das Problem externalisiert, indem man hinter jedem eine fremde Macht witterte.

Die DDR reagierte übrigens auf ihre ganz eigene Weise auf den Radikalenbeschluss: Als sie 1976 den Sänger Wolf Biermann ausbürgerte, begründete sie dies damit, dass dieser seine «Treuepflicht» gegenüber seiner sozialistischen Heimat verletzt habe. War dies bloßer Zufall oder eine direkte Antwort darauf, dass Mitgliedern der DKP im Westen mit Verweis auf eine solche «Treuepflicht» der Zugang zum Staatsdienst verwehrt wurde?


[1] Wenn nicht anders angegeben, basiert dieser Beitrag auf Dominik Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013.

[2] Zur Problematik der «beruflichen Exklusion durch Inklusion» in der DDR vgl. Danuta Kneipp: Im Abseits. Berufliche Diskriminierung und politische Dissidenz in der Honecker-DDR, Köln u.a. 2009.