Nachricht | Radikalenbeschluss / Berufsverbote Fatale Eigendynamik

Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse der GEW in den 1970er-Jahren

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Streikversammlung im Audimax der Technischen Universität Berlin, 11. Januar 1977 CC BY-SA 3.0, W. Hermann / Fotostab am Institut für Publizistik FU Berlin / weltgegend.de

Dieser Artikel ist Teil des Themen-Specials «Der Radikalenbeschluss wird 50».

Im April 1975 erhielt der Hamburger Referendar Arne Andersen Post aus Frankfurt. Erwin Walz, der Bundesgeschäftsführer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), teilte dem 24-jährigen angehenden Lehrer mit, dass er aus der GEW ausgeschlossen werden solle. Andersen hatte bei den Referendarvorstandswahlen für die Sozialistische Studentengruppe kandidiert, eine Vorfeldorganisation des Kommunistischen Bunds Westdeutschlands (KBW). Deren Unterstützung sei mit der Mitgliedschaft in der GEW nicht vereinbar, begründete Walz den geplanten Ausschluss. Andersen protestierte und verwies auf die Unterstützung seiner Dienststelle, die mehrheitlich erklärte, er verhalte sich nicht gewerkschaftsschädigend. Im Gegenteil: Er habe sogar neue Mitglieder für die GEW geworben. Doch den Hauptvorstand beeindruckte das wenig: Am 3. Mai 1975 beschloss das Gremium Andersens Ausschluss.

Hintergrund für diesen Vorgang waren politisch-generationelle Konflikte der 1970er-Jahre. Im Zuge des gesellschaftlichen Aufbruchs um 1968 befanden sich viele jungen Menschen auf der Suche nach Alternativen. Sie schlossen sich den Jusos, der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) oder den zahlreichen linksradikalen Gruppierungen an, die zu dieser Zeit neu entstanden. Letztere, zu denen auch der KBW gehörte, wurden oftmals unter dem Label «K-Gruppen» zusammengefasst. Sie strebten die Überwindung des kapitalistischen Gesellschaftssystems an, viele orientierten sich dabei an Maos China und riefen zum Teil zur «Volksbewaffnung» auf. In politischen Versammlungen traten die jungen Linken gelegentlich recht konfrontativ auf, was beispielsweise in den Gewerkschaften zu Spannungen führte. Anknüpfend an der kommunistischen «Revolutionären Gewerkschafts-Opposition» (RGO) der Weimarer Republik kandidierten die Mitglieder mancher K-Gruppen bei Betriebsratswahlen in der Industrie auf eigenständigen Listen – gegen die DGB-Gewerkschaften. Die IG Metall und die IG Druck und Papier werteten dies als gewerkschaftsfeindliches Verhalten und verabschiedeten im Frühjahr 1973 Unvereinbarkeitsbeschlüsse für die entsprechenden Mitglieder. Ein halbes Jahr später übernahm der DGB diese Regelung.

Marcel Bois ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, und Mitglied des Gesprächskreis Geschichteder RLS. 2020 verfasste er im Auftrag des GEW-Hauptvorstandes die Studie Von den Grenzen der Toleranz(Weinheim 2021).

Auch in der GEW kam es zu Konflikten. Die Gewerkschaft war durch die Bildungsexpansion der 1960er-Jahre massiv gewachsen (von 82.000 auf 120.000 Mitglieder). Viele junge Lehramtsstudierende traten ihr bei und brachten eine neue politische Kultur ein. Hatte die GEW nach Aussage ihres späteren Vorsitzenden Dieter Wunder in den 1960er-Jahren noch «das Image des konservativen Lehrervereins», so gab es nun einen relevanten Teil von Mitgliedern, der durch den studentischen Protest um 1968 geprägt war: Ihre Idole hießen Mao, Che Guevara und Angela Davies. Sit- und teach-ins stellten für sie gängige Aktionsformen dar. Trotzdem war der Umgang mit den jungen linken Mitgliedern in der GEW zunächst ein anderer als in den Industriegewerkschaften. Der Vorsitzende Erich Frister bemühte sich lange Zeit darum, sie zu integrieren und propagierte eine «aktive Toleranz» innerhalb der Organisation – auch wenn ihn die konservative Presse, vor allem die Zeitungen des Springer-Verlags dafür scharf angingen. «Kommunisten und Gewerkschafter: Ihr Ziel ist eine Aktionsgemeinschaft zur Zerstörung unserer Demokratie», titelte beispielsweise die auflagenstarke Illustrierte «Quick». Neben der IG Metall gelte die GEW «als radikalste Einzelgewerkschaft im DGB.» Aber auch innerhalb des DGB stand die GEW als linke Gewerkschaft unter Beobachtung.

Alexandra Jaegerist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Sie hat ihre Dissertation über den Radikalenbeschluss in Hamburg in den 1970er Jahren verfasst und  verfasste im Auftrag der GEW Hamburg die Studie Abgrenzungen und Ausschlüsse. Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse in der GEW Hamburg in den 1970er Jahren (Weinheim 2020).

Unter diesem Druck änderte die GEW-Führung langsam ihre Haltung gegenüber den jungen Linken, vor allem nachdem im Sommer 1972 die bundesweit gesuchten RAF-Mitglieder Ulrike Meinhof und Gerhard Müller in der Wohnung von Fritz Rodewald, dem Bundesvorsitzenden des GEW-Ausschusses Junge Lehrer und Erzieher, festgenommen wurden.

Im Januar 1974 fasste der Hamburger Landesverband der GEW einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit einigen kommunistischen Gruppen. Von zentraler Bedeutung waren dabei die Auseinandersetzungen um den Radikalenbeschluss vom Januar 1972, wonach Mitglieder sogenannter verfassungsfeindlicher Organisationen nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt werden sollten. Die GEW, die den Radikalenbeschluss ablehnte, geriet in die Kritik und versuchte, ihre eigene Verfassungstreue nachzuweisen. Dies sollte durch eine klare Trennlinie zu den K-Gruppen erfolgen, während Mitglieder der DKP in der Gewerkschaft akzeptiert wurden, obwohl auch sie unter den Radikalenbeschluss fielen. Dies lag vor allem am anderen Agieren der DKP in den Gewerkschaften: In der Regel trugen sie die gewerkschaftlichen Beschlüsse mit, stellten keine eigenen Listen auf und bekannten sich im Gegensatz zu den K-Gruppen zum Grundgesetz. Allerdings wurde zeitweise auch diskutiert, die Unvereinbarkeitsbeschlüsse auf die DKP auszuweiten.

Konkreter Anlass für den Hamburger Beschluss war der sich zuspitzende Konflikt mit Mitgliedern der Sozialistischen Studentengruppe (SSG), der Studierendenorganisation des Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW). Diese hatte die Politik der Hamburger Schulbehörde als «volksfeindlich» kritisiert und erklärt, eine «Schule im Dienste des Volkes» sei nur mit dem Bruch der geltenden Gesetze möglich. In der Folge wurden Referendar*innen der SSG, die sich entsprechend geäußert hatten, suspendiert. Auch die GEW kritisierte die SSG: Wer die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehne, könne nicht Mitglied der Gewerkschaft sein. Dabei spielte auch eine Rolle, dass der KBW in seinem Programm zur Fraktionsbildung und konspirativem Verhalten aufrief: «So offen wie möglich, so verdeckt wie nötig.» Auch Mitglieder der DKP kritisierten das Agieren von SSG/KBW als «spalterisch», wenn beispielsweise geltende Gewerkschaftsbeschlüsse nicht anerkannt würden.

Ausgehend vom Hamburger Landesverband verabschiedete dann auch die Bundesorganisation der GEW einen Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber Mitgliedern, die K-Gruppen angehörten oder sie unterstützten. Ein Grund hierfür war auch die Zugehörigkeit zum DGB, der die GEW unter Druck setzte, entsprechende Formulierungen in ihre Satzung zu übernehmen. Eine Nichtbeachtung hätte einen Ausschluss aus dem DGB nach sich ziehen können.

Seit Mai 1975 beriet der Hauptvorstand auf nahezu jeder Sitzung über Maßnahmen gegen Mitglieder, die vermeintlich gegen den Unvereinbarkeitsbeschluss verstoßen hatten. Arne Andersen war dabei kein Einzelfall. In den kommenden drei Jahren wurden fast 300 GEW-Mitglieder ausgeschlossen. Mehr als 80 Prozent von ihnen waren zwischen 20 und 35 Jahre alt, was die generationelle Dimension dieses Konfliktes unterstreicht. Bis heute stehen die Ausgeschlossenen im Fokus der Auseinandersetzungen über die Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Dabei wird oft übersehen, dass die GEW auch noch zu anderen Sanktionen griff: Sie verweigerte linksradikalen Mitgliedern auch den Rechtsschutz oder nahm Personen gar nicht erst auf, die im Verdacht standen, eine K-Gruppe zu unterstützen.

Einzelfälle zeigen, wie problematisch das Verfahren war: Eine Betroffene war alleinerziehend und konnte wegen des Radikalenbeschlusses ihren Beruf als Lehrerin nicht ausüben. Die GEW versagte ihr den Rechtsschutz. In einem anderen Fall hatte sich der Betreffende von einer K-Gruppe bereits getrennt, er wurde als Lehrer eingestellt, aber die Gewerkschaft wollte ihn trotzdem ausschließen. Das gesamte Verfahren entwickelte eine Eigendynamik – mit Folgen, die die Handelnden nicht vorhergesehen hatten. So wurden auch Menschen ausgeschlossen, die nur auf einer Liste für ein Studierendenparlament kandidiert hatten oder vermeintlich Flugblätter einer linken Gruppe verteilt hatten. Als gewerkschaftsschädigend galt es bereits, wenn eine GEW-Gliederung ein ausgeschlossenes Mitglied an einer Gewerkschaftsveranstaltung teilnehmen ließ. Es entstand ein Klima des Misstrauens, eine Verhärtung und Frontenbildung. Einen Höhepunkt erreichten diese innergewerkschaftlichen Verwerfungen im September 1976, als sich der West-Berliner Landesverband weigerte, die Bundessatzung mit den Unvereinbarkeitsbeschlüssen zu übernehmen und deshalb aus der GEW ausgeschlossen wurde.

Gegen diese Stimmung wehrten sich viele jüngere Mitglieder, auch wenn sie K-Gruppen kritisch sahen. Sie wollten den Konflikt politisch und nicht administrativ lösen. Dies führte dazu, dass sich die GEW Ende der 1970er-Jahre von der Ausschlusspraxis verabschiedete, zehn Jahre später hob sie die Regelungen auf. Hierbei spielte auch eine Rolle, dass es im sozialdemokratischen und liberalen Spektrum zu einem Stimmungswandel bezüglich des Radikalenbeschlusses gekommen war. Administrative Maßnahmen galten nun als falsche Antwort auf die Radikalisierung junger Menschen. Außerdem befanden sich die K-Gruppen selbst in einer Krise, die meisten lösten sich bald auf.

Letztendlich stellte die Politik der Unvereinbarkeit nur eine kurze Phase in der Geschichte der GEW dar, doch die Verwerfungen waren groß. Mittlerweile, mit dem Abstand von fast 50 Jahren, hat die Gewerkschaft begonnen, ihre Geschichte an diesem Punkt aufzuarbeiten und entsprechende Studien initiiert. Auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat sich bei ihrem Bundeskongress im Jahr 2019 des Themas angenommen. Es bleibt also zu hoffen, dass nun weitere Gewerkschaften dem Beispiel der GEWfolgen und ähnliche Untersuchungen anstoßen.


Bei diesem Text handelt es sich um die überarbeitete und erweiterte Version eines Beitrags, der erstmalig in der Zeitschrift «mitarbeit», Nr. 25/2021 (hg. vom Vorstand der Freunde des Museums der Arbeitin Hamburg) erschienen ist. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Wiederveröffentlichung.