Documentation "War Hitler vermeidbar?"

Diskussion zum 70. Jahrestag der NS-"Machtergreifung"

Information

Event location

Abgeordnetenhaus von Berlin
Niederkirchnerstrasse 5
10117 Berlin

Date

23.01.2003

With

Prof. Dr. Heinrich August Winkler (HU Berlin), Prof. Dr. Klaus Kinner, Walter Momper, Lothar Bisky

Themes

Kultur / Medien

 

Mehr als 350 Personen unterschiedlichen Alters und verschiedener politischer Heimat interessierten sich für die gleichlautende Podiumsdiskussion am 23. Januar 2003 im Festsaal des Berliner Abgeordnetenhauses. Allein diese hohe Beteiligung bestätigte den Veranstaltern - die parteinahen Stiftungen "August-Bebel-Institut" und "Rosa-Luxemburg" - die Zulässigkeit und das aktuelle Interesse an der Fragestellung, die angesichts eines wachsenden Rechtspopulismus und Radikalismus in Europa durchaus nicht nur von historischer Bedeutung ist. Das war auch den Podiumsgästen klar, die auf altbekannte Totschlag-Argumente - "Blutmai 1929" hier und gemeinsame Sache von KPD und NSDAP beim Streik der Berliner Verkehrsarbeiter dort - bewusst verzichteten. Deshalb ergänzte Walter Momper (SPD) Lothar Biskys (PDS) Forderung, alte Gräben nicht noch tiefer zu ziehen, mit seiner Erwartung an Impulse für die gemeinsame Suche nach realistischen Antworten auf neue Fragen.

Lothar Bisky, Walter Momper, Alfred Eichhorn, Heinrich August Winkler, Klaus Kinner (v.l.n.r.)

Zunächst aber hatten zwei Historiker das Wort. Prof. Klaus Kinner (Geschäftsführer der RLS Sachsen) und Mitglied der Historischen Kommission der PDS charakterisierte das Thema als eine "unabgegoltene" Frage und den 30. Januar 1933 als die schwerste, aber zum Teil selbstverschuldete Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung. Rasche Antworten seien fehl am Platz, eine umfassende Analyse der Fehlentwicklungen vonnöten. Bei aller Unumstrittenheit über die Schuld der alten Eliten habe es in der Arbeiterbewegung erhebliche strukturelle Defizite gegeben. Kinner bezeichnete die Behauptung, die Einheit von KPD und SPD hätte 1933 Hitler verhindern können, als eine "gut gepflegte Legende linker Folklore". Vielmehr sei diese Möglichkeit zu diesem Zeitpunkt schon längst verspielt gewesen. Beide Parteien hätten die reale Gefahr und die Brutalität des Faschismus erheblich unterschätzt und an in ihren Konzepten festgehalten: Die SPD am Glauben an die Demokratie und die KPD am Ziel der Weltrevolution. Insofern hätten die Aufrufe der KPD-Führung zur Einheit einen Doppelcharakter gehabt: Einheit von unten bei gleichzeitigem Verratsvorwurf an die SPD-Führung. Die Möglichkeiten der KPD, an die Masse der Industriearbeiter heranzukommen, seien begrenzt gewesen, da diese unter ihren Mitgliedern nur 11 Prozent betragen habe.

Die KPD habe zudem an der Linie des XII. Plenums des Exekutivkomitees der Komintern festgehalten und ihren Hauptstoß gegen die Sozialdemokratie gerichtet; sie wähnte sich 1932/33 in einem revolutionären Aufschwung. Beides habe Thälmann noch am 27. Januar so an Fritz Heckert nach Moskau geschrieben und Heckert habe einen Tag nach Hitlers Machtantritt an die KI-Führung berichtet, jetzt sei in Deutschland die verdeckte faschistische Diktatur durch die offene ersetzt worden. Dies verleihe der revolutionären Bewegung neue Impulse und die Hitler-Regierung sei nicht von langer Dauer. Diese fundamentalen Fehleinschätzungen hätten die Einsicht in die Niederlage vertuscht und einen strategischen Neuansatz verhindert. Es bedurfte noch vieler Opfer im Kampf gegen den Faschismus in Deutschland und in anderen Ländern, bis der VII. Weltkongress der KI 1935 die "linsfundamentalistischen" Positionen überwinden konnte und zu anderen Schlussfolgerungen gekommen sei.

Prof. Heinrich August Winkler (Humboldt-Universität) antwortete mit Konsens und Polemik. Der Konsens bestand in der Benennung der Kreise der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie, der Großagrarier und Hindenburg als die Hauptschuldigen an Hitlers Aufstieg und Machtübernahme. Hitlers Ziele seien aus seinen Reden und Schriften erkenntlich gewesen, ihn zu verhindern wäre vielleicht ermöglicht worden, wenn Hindenburg auf dem Tiefpunkt der wirtschaftlichen und sozialen Krise im Juli 1932 nicht den Reichstag aufgelöst hätte. Zu diesem Zeitpunkt war die NSDAP in vielen Landtagen schon stark vertreten und die Gefahr, die von ihr ausging, unübersehbar. Von dieser Schuld seien diese Kreise nicht reinzuwaschen. Sie waren zu einem radikalen Bruch mit der Weimarer Demokratie bereit, ohne über ein Krisenmanagement unter verfassungsmäßigen Bedingungen zu verfügen. Der neue Reichstag stärkte die extremen Parteien NSDAP und KPD. In der Bevölkerung saß die Angst vor einem Bürgerkrieg tief und zudem gab es die verbreitete Meinung, Hitler werde sich bald überleben. Die KPD war der Meinung: "Nach Hitler kommen wir." Winkler charakterisierte Kinners Überlegungen, unter "besseren" Voraussetzungen hätten die Arbeiterparteien Hitler verhindern können oder ob nicht eine linkssozialistische Partei möglich gewesen wäre, als unzulässige Wunschvorstellungen. Die Entwicklung in der KPD habe gezeigt, dass für realistischere Einschätzungen als die der stalinistischen Führung, kein Platz in der Partei war. Andersdenkende wurden ausgeschlossen und fanden sich in marginalisierten Splittergruppen wieder. Nach der ultralinken Wende der KPD seien die Gräben zur SPD unüberbrückbar gewesen. Was, so Winkler, sei am Festhalten der SPD an der Demokratie "Verrat" gewesen? Die SPD war die Staatsgründungs- und Verfassungspartei der Weimarer Republik. Sie musste an der Demokratie festhalten und konnte nicht mit der KPD agieren, die den Staat zertrümmern wollte. In diesem Fall hätten sich noch größere Bevölkerungsteile der NSDAP zugewandt. Auch im Falle der SPD-Unterstützung bei der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1932 könne man nicht von Verrat sprechen, andernfalls wäre Hitlers Machtantritt um ein halbes Jahr vorgezogen worden. Winkler endete mit einem Zitat aus der Marxschen Kritik der Hegelschen Philosophie und empfahl der PDS eine radikalere Fehlersuche bei der KPD.

Fehler dieser Partei benannte auch Lothar Bisky, insistierte aber darauf, er sei nicht bereit, alle Fehler der KPD und Thälmanns auf sich zu laden: "Ich möchte nicht in diese Zelle eingesperrt sein." Für ihn stehe nicht die Frage, wer mehr oder weniger Schuld am Machtantritt der Nazis hatte, sondern vielmehr die richtigen Schlussfolgerungen für heutige Politik, in einer Zeit, in der der Kern der Gesellschaft nach rechts dränge, in der der Rechtspopulismus zunimmt. Er erhoffe sich wenigstens in der Bekämpfung des Rechtsradikalismus und in der Kriegsfrage eine gemeinsame Position von SPD und PDS, die bestehenden Regierungskoalitionen sollten daran nicht zerbrechen.

In ähnlichem Tenor verwies Walter Momper auf neue Chancen für das längst nicht beendete "linke Projekt". Immerhin sei durch die gemeinsamen Koalitionen der gesellschaftlichen Rechten eine Konstante abhanden gekommen, auf die sie sich 70 Jahre lang verlassen konnte: die Spaltung der Linken. Historisch bezog sich Momper auf den großen Realitätsverlust der Parteiführungen um 1932/33, der sich insbesondere in einer Überschätzung der eigenen politischen Möglichkeiten und in einer Unterschätzung der Nazis gezeigt habe. Momper warnte sich und die heutigen Politiker vor ähnlichen Realitätsverlusten und unterstrich die konstruktive Zusammenarbeit mit der PDS in der Berliner Koalitionsregierung.

Aus dem Publikum wurden Mompers Äußerung zur Schaffung aktueller Krisenbewältigungsprogramme angesichts der neoliberalen Globalisierung ebenso hinterfragt wie die Bereitschaft der Parteipolitiker, sich neue Impulse bei neuen sozialen Bewegungen zu suchen. Mehrere Teilnehmer hinterfragten mögliche historische Alternativen der Arbeiterparteien. Tilman Fichter etwa fragte, warum die Anhänger der Parteien sowohl im Sommer 1932 wie auch im Januar 1933 keinen militärischen Widerstand geleistet hätten, schon um der Ehre willen. Die Vertreter im Podium antworteten darauf ziemlich einmütig mit dem Verweis auf die Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens, das mit einem ungeheuren Blutvergießen einhergegangen wäre. Der nach der faschistischen Machtübernahme einsetzende Widerstand, so Kinner, resultierte weitgehend aus der Unterschätzung der Brutalität der neuen Machthaber. Der Widerstand sei dennoch ein bleibendes Gut. Gegen eine Verunglimpfung des antifaschistischen Widerstands, als die große Lebenslüge der Linken, wandte sich nachdrücklich auch Bisky.

Zum Schluss gab es noch einige Wünsche. Winkler wünschte sich Historiker-Kollegen, die "das Vetorecht der Quellen" akzeptieren und der Moderator Alfred Eichhorn (InfoRadio Berlin/Brandenburg), die Möglichkeit, ähnliche Veranstaltungen für seinen Sender aufzuzeichnen.