Documentation Palästina hat gewählt. Eindrücke eines EU-Wahlbeobachters.

Am 9. Januar haben die Palästinenserinnen und Palästinenser einen neuen Präsidenten als Nachfolger des im letzten Jahr verstorbenen Yasser Arafat gewählt. . RLS-Mitarbeiter Fritz Balke, Wahlbeobachter für die EU, diskutiert über Ergebnisse und Perspektiven der Wahl.

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24.01.2005

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Fritz Balke, RLS, EU-Wahlbeobachter

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Krieg / Frieden

Am 9. Januar haben die Palästinenserinnen und Palästinenser einen neuen Präsidenten als Nachfolger des im letzten Jahr verstorbenen Yasser Arafat gewählt. Abgesehen von Kommunalwahlen in einigen Teilen der Westbank vor wenigen Wochen handelt es sich um die ersten Wahlen in den Palästinensergebieten seit 1996.

Mahmoud Abbas (Abu Mazen) hat die Wahlen erwartungsgemäß mit rund 62% der Stimmen gewonnen, während Hamas und andere radikal-islamische Gruppen sie boykottierten. Nach dem Rückzug des in Israel zu lebenslanger Haft verurteilten Fatah-Führers Marwan Barghouti war dessen entfernter Verwandter Mustafa Barghouti der einzige ernstzunehmende der insgesamt sechs Mitbewerber, er kam auf rund 20% der Stimmen der Stimmen. 

Die Wahlen fanden vor dem Hintergrund der israelischen Besatzung unter denkbar schwierigen Bedingungen statt. Neben einer ungebrochenen, wechselseitigen Gewalterfahrung und dem ökonomischen und sozialen Niedergang existieren massive interne Differenzen unter den Palästinensern. Trotzdem knüpfen sich zumindest im Ausland gewisse Hoffnungen an diese Wahlen und eine neue Palästinenserführung.

Fritz Balke, Referent der RLS für die Auslandsarbeit, speziell auch für die Nahost-Tätigkeit der Stiftung, nahm als einer von sieben deutschen und insgesamt knapp 200 EU-WahlbeobachterInnen (unter Einschluss von BeobachterInnen aus Norwegen, der Schweiz und Kanada) an den Präsidentschaftswahlen in den Palästinensergebieten am 9. Januar 2005 teil. Balke schilderte die schwierigen Grundbedingungen dieser Wahlen unter israelischer Besatzung und eingeschränkter Bewegungsfreiheit für die PalästinenserInnen. Israel habe seine zugesagten Lockerungen nur teilweise eingehalten, insbesondere in Ost-Jerusalem sei die Wahl sehr erschwert worden. Andererseits wertete Balke die prinzipielle Möglichkeit der Beteiligung für BürgerInnen aus Ost-Jerusalem als kleinen Erfolg der PalästinenserInnen, weil Israels Regierung damit eine gewisse, indirekte Anerkennung der Zugehörigkeit der Ost-Jerusalemer (wenn auch nicht des Stadtgebietes) zu Palästina ausdrückte. Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten und im Vergleich zu anderen arabischen Ländern wertete er die Wahlen als relativ frei und fair, auch wenn der Kandidat des Establishments und neue Präsident, Mahmoud Abbas (Abu Mazen) teilweise auf administrative Ressourcen zurückgriff und am Wahltag einige Abweichungen von den Wahlregeln festzustellen waren. Im Großen und Ganzen verliefen die Wahlen aber geregelt und hatten auch die anderen Kandidaten im Wahlkampf Möglichkeiten der Selbstdarstellung, weil die Medienlandschaft, speziell im Fernseh- und Radiobereich, relativ vielfältig ist – allemal im Vergleich zu anderen arabischen Ländern. Das Ergebnis von 62% für Abbas und rund 20% für seinen schärfsten Rivalen, Mustafa Barghouti, dessen politische Basis sich neben der Fatah um Abbas und der Hamas als zunächst als dritte Kraft etabliert hat, kann als repräsentativ und korrekt angesehen werden, auch wenn die  genaue Höhe der Wahlbeteiligung (bei rund  800.000 WählerInnen ist offen, ob 1,1 Millionen registrierte oder insgesamt 1,8 Millionen Palästinenser als Bezugsgröße betrachtet werden müssen) schwer zu bestimmen ist. Entscheidende Auskunft über die Kräfteverhältnisse innerhalb der Palästinenser werden die verschiedenen Runden der Kommunalwahlen sowie die wahrscheinlich im Juli stattfindenden Wahlen zum Legislativrat geben, an denen sich die Hamas vermutlich beteiligen wird. Die Präsidentschaftswahlen boykottierte die Hamas, behinderte sie aber nicht aktiv und anerkannte ihre Ergebnisse bis zu einem gewissen Grade. Aktuell laufen gerade Gespräche über  einen Waffenstillstand der militanten palästinensischen Gruppen, eine leichte Entspannung der Lage erscheint nicht ausgeschlossen.

Fritz Balke erläuterte, dass die Wahlwerbung der sieben Kandidaten, darunter auch eines gemäßigten Islamisten, sich nicht sonderlich unterschied. Inhaltlich bestand Konsens über die Gründung eines eigenen Staates mit Ost-Jerusalem als Haupstadt, die Freilassung der Gefangenen aus israelischen Gefängnissen sowie – in allgemeiner Form – das sog. „Rückkehrrecht“ palästinensischer Flüchtlinge. Unterschiede gab es in der Frage der Gewaltanwendung und allgemein der Strategie gegenüber Israel. Abbas vertritt die Auffassung, der Preis einer gewaltsamen Intifada sei für die Palästinenser zu hoch.  

In der Diskussion, die sich zunehmend auf eine generelle Debatte über den palästinensisch-israelischen Konflikt ausweitete, überwogen israelisch-kritische Auffassungen und eine große Skepsis hinsichtlich einer möglichen Entspannung der Lage. Von TeilnehmerInnen wurde u.a. auf die Gefahr hingewiesen, dass dauerhaft ein nicht-existenzfähiger „Flickenteppich“ palästinensischer Gebiete drohe, sowie eine einseitige, auf palästinensischen Terror reduzierte Berichterstattung in Deutschland, Europa und den USA kritisiert. Ferner wurde die Befürchtung geäußert, dass in Israel eine dauerhafte Minderheitenposition der  liberalen, europäisch ausgerichteten, auf Ausgleich bedachten Gruppen drohe. Die EU wurde zu einer aktiveren, Israel-kritischeren Position aufgeordert, da Israel die stärkere der Konfliktparteien sei und nur äußere Einflussnahme Erfolg verspreche. Unterschiedliche Auffassungen gab es hinsichtlich der Berechtigung, des völkerrechtlichen Anspruchs und der Sinnhaftigkeit des sog. „Rückkehrrechtes“ palästinensischer Flüchtlinge bzw. ihrer Nachfahren in mehreren Generationen in das israelische Staatsgebiet in den Grenzen von 1967.

Der Referent wies darauf hin, dass Teile der israelischen Presse und Öffentlichkeit durchaus eine neue Situation nach der Wahl Abbas sehen, die eine Änderung der Regierungspolitik verlange. Auf die arabische Welt könnten die relativ freien Wahlen mittelfristig einen gewissen positiven Einfluss für mehr Demokratie haben.

Der Moderator wies auf die sehr unterschiedlichen Positionen auch im Umfeld der RLS und generell von Linken in Deutschland zum israelisch-palästinensischen Konflikt hin, von denen keineswegs alle in dieser Veranstaltung berücksichtigt werden konnten. Versuche, verschiedene Standpunkte miteinander ins Gespräch zu bringen und zu einer Strukturierung speziell der innerlinken Kontroverse einen kleinen Beitrag zu leisten, seien notwendig, aber äußerst schwierig. Ein ausdrücklicher Dank des Publikums ging an Fritz Balke für seine umfassende und anschauliche Darstellung.