Documentation Nach der Wahl – vor der Parteiformierung?

Die Linkspartei: Potenziale – Defizite - Erwartungen. Das Ergebnis der Wahl vom 18. September und die Perspektiven der Linkspartei diskutierten wir mit den Parteien- und Wahlforschern Franz Walter und Dietmar Wittich sowie Lydia Krüger (weed).

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Date

21.09.2005

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Prof. Franz Walter, Dr. Dietmar Wittich, Dr. Lydia Krüger (weed), Moderation: Dr. Wolfram Adolphi, Dr. Florian Weis

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Soziale Bewegungen / Organisierung

Was ist das Ergebnis der Wahl? Die Politik und Medien sind von der Neuartigkeit der Lage fasziniert, doch sind Blockadesituationen eigentlich nichts Neues. Eine erste Einschätzung, welche Umbrüche und Kontinuitäten in der deutschen Parteienlandschaft zu dem Patt vom Sonntag führten, lieferte der Göttinger Parteienforscher Franz Walter. Die RLS hatte Walter, dessen Beiträge in vielen Zeitungen und in Fernsehsendungen gegenwärtig starke Beachtung finden, als Hauptreferenten der Veranstaltung „Nach der Wahl – vor der Parteiformierung?“ eingeladen, um nach unseren vielen Diskussionen zur Begleitung des neuen Parteiprojekts, meist besetzt mit Aktiven aus Linkspartei, WASG und außerparlamentarischer Linken, auch einmal den unbeteiligten Beobachter zu Wort kommen zu lassen.

Der Plan ging nur begrenzt auf: Natürlich war das Publikumsinteresse vorwiegend auf die Linkspartei gerichtet, was den Referenten bereits früh zur Frage veranlasste, ob er die richtige Besetzung hier sei. Die Linkspartei interessiere ihn wissenschaftlich nur am Rande und die ausschließliche Fixierung auf die eigene politische Gruppierung sei er etwa von Vorträgen bei den Konservativen nicht gewohnt. Die Freude an der Provokation und Zuspitzung zog sich durch den gesamten Auftritt Walters. Darüber konnte man sich ärgern (ein Teil des Publikums hat dies getan) oder sich auf gelungene Art unterhalten lassen. Durch die für Deutschland ungewöhnliche Situation, dass sich noch keine klare Regierungsmehrheit herausgebildet hat, nahm eine Gesamtbewertung des Wahlergebnisses in längerfristiger Perspektive einen größeren Raum ein. Walter betonte gegen vielfach anzutreffende Einschätzungen, dass die Wählerbindung nach wie vor groß sei, jedenfalls dann, wenn von zwei Großlagern (SPD, Grüne, Linkspartei und CDU/CSU, FDP) ausgegangen werde. Der cäsarische Auftritt Schröders reflektiere hier ein wenig, dass die SPD sicherlich mobilisierungsstärker war als erwartet war und erfolgreich in dem, was man die für Wahlkämpfe typische Rückhol- und Heimholaktionen nennen könnte, die nicht auf neue Wähler aus ist, sondern das Stammpersonal holen will. Die Volksparteien haben gegenwärtig so geringe Anteile am Wahlvolk für sich gewonnen wie seit 1953 nicht, aber in dieser relativ komplizierten Situation ist die SPD laut Walter immer noch besser aufgestellt als die CDU. Im Ost-West-Spektrum ist sie ausgeglichener, nach den Alterskohorten relativ gut gebaut – auch wenn das Ergebnis Schröders schlechter war als das Scharpings, Raus, Vogels, Schmidts oder Brandts. In gewisser Weise sei  die SPD ins Zentrum des politischen Geschehens gerückt, mit der Schwierigkeit für alle anderen Parteien, gegen sie zu regieren – eine These, die Christoph Spehr nach den Wahlen 2002 ebenfalls entwickelte.

Die Grünen haben mittlerweile eine gewisse Ost-West-Proportionalität erreicht. Obwohl von ihrer Wählerstruktur her bürgerlich mit hohem Anteil an Selbständigen und Beamten hatten sie im letzten Vierteljahrhundert keine Austauschbewegungen mit der CDU. Bei dieser Wahl  verloren sie erstmals an die CDU, gleichzeitig von ihrem immer noch vorhandenen linken Flügel an die Linkspartei.

Die CDU endlich verliert ganz langsam den Status der naturgegebenen Partei der Macht, denn sie verliert klassische Ressourcen: bis in die 60er Jahre waren die Frauen die Mehrheitsgarantie; neben der religiösen Ressource verlieren sie nun auch die Alten, beginnend mit den „Adenauer-Rentnern“: bis 1994 fuhr die Union bei den über 60jährigen weit über 50 % hier ein, doch stirbt diese Generation momentan aus: bei den vergangenen zwei Wahlen verzeichnete die Union ein Minus von jeweils einer Million gestorbener Wähler, diesmal waren es 800 000. Gewonnen habe die CDU gewann seit 2003 nur noch, weil es ihr gelang, junge, schlecht qualifizierte Arbeiterwähler für sich zu erschließen. Bei diesen Wahlen brach einerseits die Unterstützung der Arbeiterschicht ein, auf der anderen Seite macht sich der „betriebsame Bürger“ als Bourgeoistypus bemerkbar, dem die Politik nicht schnell genug sein kann und der sich in der FDP mit ihrem überraschenden Wahlergebnis sammelt.

Die Linkspartei steht vor dem Problem, dass ein Teil der sie neuerdings wählenden Menschen schwer zu halten sein wird, so Walter. Neben der Volatilität, mit der in ihrem Wählerspektrum zu rechnen ist, fallen die Ost-West-Ungleichheit, die Männerdominanz und der hohe Anteil der Arbeitslosen als Spezifika ihres Wählerprofils auf. Wie schon in seinem Artikel „Linkspartei in ergrauender Gesellschaft“ (rls Standpunkte 18/2005) wies Walter auf die Chance hin, die die Bindung der Alten an das linke Projekt bietet. Durch gezielte Politikangebote in den Bereichen Gesundheit, Daseinsfürsorge und in der gesamten Debatte um die öffentlichen Güter habe die Linkspartei das Potenzial, die zentrale Wählergruppe der  kommenden Jahrzehnte zu erschließen. Ebenso bestehe die Chance, Arbeitslose und Arbeiter, deren Situation sich unter neoliberalen Vorzeichen nicht sehr schnell ändern wird, dauerhafter als bislang an das linke Parteiprojekt zu binden.

Dietmar Wittich, der seit 15 Jahren Analysen der Wahlen in Deutschland, der die PDS tragenden Gruppen und der politischen Meinungsbildungsprozesse erstellt, verwies darauf, dass die Linkspartei aus allen politischen Lagern hinzugewonnen habe, am stärksten allerdings mit fast einer Million Stimmen von der SPD. Sie bleibt überproportional eine Partei des Osten Deutschlands, hat mittlerweile aber mit 4,9% (=fast 1,9 Millionen ihrer insgesamt knapp 4,1 Millionen Stimmen) im Westen einen großen Sprung getan. Während die Linkspartei in den Altersgruppen relativ gleichmäßige Ergebnisse erzielte, mit einem besonderen Schwerpunkt bei den 45- bis 59-Jährigen und einem leicht unterdurchschnittlichen Resultat bei den über 60-Jährigen, wurde sie in neuartiger Weise weit überproportional von Arbeitern und mehr noch von Arbeitslosen gewählt. Dagegen wählten weniger Frauen die Linkspartei als Männer – keine ganz neue, aber diesmal verstärkt sichtbar gewordene Problematik, die auch in der Diskussion eine Rolle spielte. Wittich wertete das gute Ergebnis der Linkspartei in gewisser Weise als einen Vorschuss, ein Ausdruck von Hoffnung, der nicht als selbstverständlich betrachtet werden dürfe, solle er nicht verspielt werden.

Lydia Krüger von WEED (Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung), einer NGO im Bereich der Globalisierungskritik und internationalen Solidarität, wertete die Existenz der Linkspartei als Bereicherung auch für außerparlamentarische Linke und NGOs. Dabei gehe es nicht um Vereinnahmung oder Stellvertreterpolitik. Viele Aktive in sozialen Bewegungen und Initiativen seien durch die Erfahrungen mit den Grünen grundsätzlich parteienskeptisch geworden. Inhaltlich sprach sie sich dagegen aus, soziale Verteidigungskämpfe auf nationalstaatlicher Ebene gegen internationale (bzw. internationalistische) Zielsetzungen auszuspielen.

Links:

Einige der Argumentationsliniendes Vortrags von Franz Walter finden sich auch seinem Text "German Disease? Eine Exkursion durch die Problemlandschaften der deutschen Gesellschaft und Politik am Vorabend der Großen Koalition."

RLS: Wahl 2005 und die Linke                                                                                               www.rosalux.de/cms/index.php?wahl05

Universität Göttingen, Seminar für Politikwissenschaften, Prof. Franz Walter                www.politikwissenschaft.uni-goettingen.de/professuren/fwalter/fwalter.html

Aufruf von Gewerkschafter/innen                                                                                             www.wir-waehlen-links.de

„Offener Brief“ sozialer und politischer Basisorganisationen an PDS und WASG                     http://offener-brief.kreuzberg36.com

Texthinweise:

- Franz Walter, Aus dem Abseits. Lafontaines und Gysis „Appell an das Volk“, in: Süddeutsche Zeitung, 12. August 2005.

- Interview mit Franz Walter: „Die SPD kann sich bei Lafontaine bedanken“. In: tageszeitung, 7. Juli 2005.

- Franz Walter, Wer gibt Danton an? Süddeutschen Zeitung, 22. März 2004.  

- Dietmar Wittich, Wo, bitte schön, geht es zu Hartz IV? Die Gegenreformen in Deutschland im Spiegel der öffentlichen Meinung. - www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_05_14.pdf

- Dietmar Wittich, In welcher Gesellschaft leben wir? (Utopie 165/166, Juli/August 2004) - www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/165-6/165_166-wittich.pdf

- Christoph Spehr/Rainer Rilling, Guten Tag, Gespenst! Annäherungen an das jähe Erscheinen eines Parteiprojektes - www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_0508.pdf

- - André Brie, Sechs Thesen zur Perspektive der Linkspartei: Offene Fragen, Probleme, Herausforderungen. http://www.rosalux.de/cms/index.php?id=7252

Weitere Texte zum Thema von MitarbeiterInnen und KooperationspartnerInnen der RLS finden sich unter  www.rosalux.de/cms/index.php?wahl05 sowie
http://www.rosalux.de/cms/index.php?standpunkte