Documentation Europa – Freier Markt für alle?

Reihe: Baustelle Europa

Information

Event location

Magnus-Haus
Am Kupfergraben 7
10117 Berlin

Date

27.04.2006

With

Sahra Wagenknecht, MdEP; Juraj Solčany, 1. Sekretär der Botschaft der Slowakischen Republik; Moderation: Bärbel Romanowski

Themes

International / Transnational, Westeuropa

„Europa – Freier Markt für alle?“ Zur Diskussion dieses Themas hatte die Rosa-Luxemburg-Stiftung Ende April 2006 ins Berliner Magnushaus eingeladen. Moderatorin Bärbel Romanowski hatte dazu die Europa-Abgeordnete Sahra Wagenknecht von der Linkspartei.PDS (LPDS) und den 1. Sekretär der Botschaft der Slowakischen Republik, Juraj Solčǎny, gewinnen können. In der Podiumsdebatte ging es dezidiert um wirtschafts- und sozialpolitische Fragen im Kontext der weiteren Entwicklung der Europäischen Union.

Juraj Solčǎny skizzierte die wirtschafts- und sozialpolitische Entwicklung der Slowakischen Republik in den letzten Jahren und vertrat dabei den neoliberalen Kurs seiner Regierung. Es sei gelungen, ausländische Unternehmen (z.B. große Autokonzerne) zu beträchtlichen Investitionen in der Slowakei zu veranlassen. Dabei seien nicht die zweifelsohne niedrigen Lohnkosten ausschlaggebend gewesen, sondern die gute Qualifikation der Arbeitskräfte und ihre Flexibilität. Die Einheitssteuer, die Flat Tax von 19 Prozent, habe für den slowakischen Staat mehr Steuer-Einnahmen gebracht als vor deren Einführung, als es einerseits höhere Steuersätze gab, aber andererseits sehr viele Steuerschlupflöcher. Die Arbeitslosenquote betrage heute 11,2 Prozent gegenüber 18,2 Prozent im Durchschnitt des Jahres 2004.

Außenpolitisch wollte Juraj Solčǎny keinen Spagat seines Landes zwischen den USA und der EU erkennen, obwohl sein Land, das der NATO angehört, zu den „Willigen“ im Irak-Krieg gehört hat. Slowakische Soldaten seien im Irak – ebenso wie auf den Golan-Höhen oder auf Zypern – mit humanitären Missionen betraut: im Irak mit dem Räumen von Minen. Die Slowakei sei an ausgezeichneten Beziehungen sowohl zu den Mitgliedsländern der EU als auch zu den USA interessiert. Etwas blauäugig betonte Juraj Solčǎny, im Irak-Krieg sei es im Interesse der Demokratie vor allem um den Sturz des Diktators Saddam Hussein gegangen.

Auf die deutsch-slowakischen Beziehungen angesprochen, betonte der 1. Sekretär der slowakischen Botschaft, dass es in diesen Beziehungen keine offenen Fragen gebe wie dies etwa in den Beziehungen der Bundesrepublik zu Polen oder zur Tschechischen Republik der Fall sei. Die Slowakei habe als eines der 2004 der EU beigetretenen Länder bei den Verhandlungen über die umstrittene Bolkestein-Richtlinie für das Herkunftsland-Prinzip bei Dienstleistungen plädiert, und auch die Einschränkung der Freizügigkeit für Arbeitskräfte der neuen EU-Mitgliedsländer sei immer auf den Widerstand der Slowakei gestoßen.

Auf die Frage nach den Grenzen EU-Europas unterstrich der Diplomat, dass auch für einen Beitritt etwa der Türkei oder Kroatiens zur EU die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien (insbesondere die Respektierung der Menschenrechte) die Grundbedingung sein müsse. Zur Zukunft der europäischen Verfassung äußerte er sich eher optimistisch und sah im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents eher die positiven Aspekte.

Ganz anders als Sahra Wagenknecht, nach deren Meinung sich die Europäische Union insgesamt immer mehr in Richtung eines entfesselten Kapitalismus entwickeln würde. Die EU-Verfassung mit ihrer neoliberalen und militaristischen Ausrichtung und die schon erwähnte Dienstleistungsrichtlinie, aus der das Herkunftslandprinzip zwar als Begriff, aber nicht in der Sache gestrichen worden sei, dienten ihr exemplarisch als Stichworte, um diese These zu untermauern. Eine solche Entwicklung lehne sie als Linke ab. Andererseits könne aber die Lösung des Problems auch nicht in der Rückkehr zum Nationalstaat liegen, in dem sich schließlich auch ein entfesselter Kapitalismus entwickeln könne – und noch dazu mit der Dominanz nationalistischer Kräfte. Unter Verweis auf die Position Oskar Lafontaines wandte sich Wagenknecht entschieden gegen jegliche Privatisierungen öffentlichen Eigentums und verlangte vielmehr, das öffentliche Eigentum auszuweiten.

Im EU-Parlament, betonte die Abgeordnete, könne man als Linke erst etwas erreichen, wenn es in der Öffentlichkeit Widerstand gebe, wenn er dort entwickelt werde. Notwendig sei es also, hinsichtlich dessen, was im Parlament und seinen Ausschüssen verhandelt wird, Öffentlichkeit herzustellen. Auf die von Juraj Solčǎny eingangs thematisierte Steuerpolitik eingehend, wandte sich Sahra Wagenknecht gegen eine „Harmonisierung“ der Unternehmenssteuern, die sich am niedrigsten Level ausrichtet. Sie betonte, dass indirekte Steuern (wie die vergleichsweise hohe Mehrwertsteuer in der Slowakei) sozial ungerecht sind, weil sie Niedrigverdiener prozentual stärker belasten als Großverdiener.

In der anschließenden, für das Publikum geöffneten Diskussion ging es um eine Vision für Europa, um Fragen der Menschenrechte und um das Bild eines künftigen Sozialismus. Sahra Wagenknecht unterschied bei ihrer Vision für die Europäische Union zwischen kurzfristigen und langfristigen Vorstellungen: Kurzfristig gehe es um eine EU-weite Harmonisierung der direkten Steuern nach oben, eine Position, der Juraj Solčǎny sofort widersprach: Die Slowakei wolle ihren eigenen Weg gehen, und eine Flat Tax von 19 Prozent sei für das mittelosteuropäische Land der beste Weg. Langfristig stellte sich Sahra Wagenknecht eine Konzentration der wirtschaftlichen Kernressourcen in gesellschaftlicher Hand als Vision für ein künftiges EU-Europa vor.

Auf ihr Sozialismus-Bild, auf ihre Vorstellungen von einem künftigen Sozialismus im Kontext der Kuba-Debatte in der LPDS angesprochen, erklärte Sahra Wagenknecht, dass das Gesellschaftssystem in der DDR zwar einige Fehler gehabt hätte, dass sie sich aber den künftigen Sozialismus so ähnlich vorstelle, wie sie ihn in der DDR als „real existierenden Sozialismus“ erlebt habe. Der Diplomat Juraj Solčǎny konnte sich da zum Schluss nicht die Bemerkung verkneifen, Frau Wagenknecht möge sich doch einmal überlegen, warum die derart verfassten Gesellschaften in Osteuropa samt und sonders untergegangen sind.

(Bericht: Jochen Weichold)