Europa habe ein Demokratiedefizit, beklagen linke Kritiker des europäischen Verfassungsvertrags. Entscheidungen würden fernab der öffentlichen Debatte von Experten und Fachpolitikern gefällt, den Menschen dagegen bleibe die Europäische Union fern und anonym. Das liegt daran, dass die Bürgerinnen und Bürger zu wenig Mitsprache haben, sagen die einen. Sie haben daran gar kein Interesse, sagen die anderen.
Die Frage der demokratischen Legitimation Europas steht auch im Mittelpunkt der linken Verfassungsbeschwerde gegen den Vertrag von Lissabon. An dem Tag, als das Bundesverfassungsgericht die Verhandlung dieser Beschwerde eröffnete, organisierte die Rosa-Luxemburg-Stiftung im Rahmen ihrer Reihe „Baustelle Europa“ eine Debatte zum Thema. Die Journalistin Bärbel Romanowski moderierte an diesem Abend die Diskussion „Europa – nicht ohne uns!“ mit Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann (MdEP, Delegation der Linken in der Konföderalen Fraktion GUE/NGL), Dr. Jaroslav Šonka, Journalist, Studienleiter an der Europäischen Akademie Berlin, und Moritz Jahnke, Junge Europäische Bewegung Berlin-Brandenburg e.V. (www.jeb-bb.de)
Den Lissabon-Vertrag bewertete Moritz Jahnke insgesamt positiv, stellte jedoch heraus, dass das darin verankerte Aufrüstungsgebot für die EU-Mitgliedsstaaten aus seiner Sicht untragbar sei. Der Vertrag führt unabhängig davon aber zu einer Stärkung des EU-Parlaments und der nationalen Parlamente. Dadurch ergebe sich allerdings nur der Ordnungsrahmen für die eigentliche Politik.
Sylvia-Yvonne Kaufmann erklärte die Ablehnung des Vertrags in der öffentlichen Meinung mit einer mangelhaften Informationspolitik. Der Lissabon-Vertrag sei ein kompliziertes Vertragswerk und erfordere daher eine gewisse Vorbildung. Zudem gäbe es in den 27 Mitgliedsstaaten mit rund 500 Millionen Menschen verschiedenste Vorstellungen von Europa. Europa könne jedoch nur gemeinsam funktionieren. Die Menschen hätten ein Recht auf umfassende Informationen über den Vertrag, so Kaufmann. Hier aber hätten die Nationalregierungen bisher versagt.
Auf die Klage ihrer Partei vor dem Bundesverfassungsgericht angesprochen, sagte Kaufmann, dass sachliche Kritik am Vertrag gerechtfertig sei. Das Grundgesetz sehe sie durch den EU-Reformvertrag von Lissabon jedoch nicht verletzt.
Jaroslav Šonka sieht die europäische Integration vor allem durch einen neuen Hang zum Protektionismus in einigen EU-Staaten gefährdet. Vor dem Hintergrund von Finanz- und Wirtschaftskrise sei es ohnehin schwierig, die Menschen für den Europäischen Gedanken zu gewinnen. Šonka sprach sich gegen nationale Abgrenzungen aus und betonte, dass ein Scheitern des EU-Vertrages für Europa negativ wäre. Angesprochen auf die noch fehlende Ratifizierung des Vertrages durch Tschechien, erklärte er, dass 60 Prozent der Tschechen für den Vertrag seien. Die zum Teil sehr lautstark zu vernehmenden populistischen Parolen einzelner Regierungsvertreter würden nur von einer Minderheit geglaubt.
Der jüngste Vertreter des Podiums, Moritz Jahnke, wurde gebeten seine Sicht auf den EU-Vertrag als Vertreter einer jüngeren Generation zu beschreiben. Vor allem die direkte Beteiligung sei, so Jahnke, für die Jugendlichen wichtig. Ein hervorragendes Beispiel für eine solche Beteiligung sei das Spiel: Simulation Europäisches Parlament (SIMEP - www.simep.eu), welches von der Jungen Europäischen Bewegung Berlin-Brandenburg e.V. angeboten wird. Hier schlüpfen 200 Schülerinnen und Schüler für zwei Tage in die Rolle eines Europa-Abgeordneten und erfahren auf diesem Weg, wie europäische Politik in der parlamentarischen Praxis abläuft. Durch das Besprechen interessanter Teilaspekte könnten viele Jugendliche begeistert werden. Es gehe jedoch nicht um blinde Europaeuphorie, sondern um wirkliche Beteiligung.
Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) war das abschließende Thema der Podiumsdebatte. Sylvia-Yvonne Kaufmann, verantwortliche Berichterstatterin für das Europäische Parlament, erläuterte, mit welchem Ziel dieses Instrument entwickelt worden war. Das Aufforderungsrecht, wie es die beiden Gesetzgebungsorgane der Europäischen Union heute bereits besitzen, sollen künftig auch die Bürgerinnen und Bürger der EU erhalten. Auch dies ist eine Möglichkeit, den „EU-Superstaat“, vor dem man sich in vielen Mitgliedsländer fürchtet, wieder näher an die Menschen zu rücken. (Bericht: Jan Runkwitz)
Die Podiumsgäste:
Sylvia-Yvonne Kaufmann ist seit 1999 Mitglied des EP. Sie ist daran beteiligt, dass eine Europäische Bürgerinitiative für mehr Demokratie eingeführt werden soll. Mit ihr wird es möglich, dass Bürger unterschiedlicher Staaten gemeinsam ihre Stimme erheben können.
Jaroslav Šonka weiß, was die Bürger wollen. Er organisiert Foren u.a. zum Thema Transformationsprozesse in den mittel- und osteuropäischen Staaten und kennt als Journalist die Einstellung und die Fragen zu einem demokratischen Europa aus erster Hand. Dass er als gebürtiger Tscheche die 2009 beginnende tschechische Ratspräsidentschaft besonders verfolgt, versteht sich.
Moritz Jahnke hat als junger Mensch einen Perspektivblick auf Europa. Im Rahmen der Jungen Europäischen Bewegung wird jährlich einmal das Europäische Parlament simuliert. So wird ein tiefgreifendes Verständnis von Mechanismen und Wirkungen von Politik ermöglicht.
Presse zum Thema:
- FAZ, 16. Februar 2009: Europas Feinde Von Oliver Hoischen, Berlin
- taz, 22. Februar 2009: »Meine Haltung missfällt der Partei«, EU-Politiker André Brie über die Linke, Interview mit Stefan Reinecke
- taz, 23. Februar 2009: Die Dissidentin, Linke hadern mit Europa