Die Veranstaltung wurde vom »Offenen Kanal Berlin« (www.okb.de) aufgezeichnet.
Sendetermin ist der 10. April 2009 um 10.00 Uhr.
„Ob man den Fernseher einschaltet, Radio hört oder die Zeitung aufschlägt: Die Krise ist überall“, eröffnete Moderatorin Bärbel Romanowski die Veranstaltung „Baustelle Europa: Zwischen Krisenstress und Hoffnung“, zu der sie Anfang April 2009 in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung ins Europäische Haus in Berlin europapolitisch versierte Gesprächsteilnehmer eingeladen hatte. Neben ihr nahmen an diesem warmen Frühlingsabend auf dem Podium Platz: Markus Löning, MdB, europapolitischer Sprecher der FDP, Berlin, Holm Theinert, Betriebsrat bei Qimonda, Dresden, und Dr. Helmuth Markov, MdEP, Delegation der Linken in der Konföderalen Fraktion GUE/NGL, Brüssel.
Die Zahl der Arbeitslosen, so Bärbel Romanowski einleitend, sei allein in Deutschland auf weit über 3,5 Millionen geklettert, und für bereits 670.400 Männer und Frauen sei Kurzarbeit angemeldet worden. Die Namen Opel, Schaeffler oder Qimonda stünden beispielhaft für krisengeschüttelte Unternehmen. Gleichzeitig sagen nach einer ARD-Umfrage rund 70 Prozent der Deutschen, „die Krise ist bei mir noch nicht angekommen“.
Die Regierenden eilten von Gipfel zu Gipfel. 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hätten auf nationaler Ebene Konjunkturprogramme in Milliardenhöhe aufgelegt. Die EU-Mitglieder Ungarn und Lettland stünden vor dem Staatsbankrott. Selbst konservative Pressekommentatoren meinten, es werde Zeit, den Saustall auszumisten.
Ganz Europa stöhne unter der Krise der Realwirtschaft. Die Industrieproduktion sei eingebrochen. Bereits im Dezember 2008 habe die Industrie im Euro-Raum 12 Prozent weniger produziert als im Vorjahresmonat. „Rund 16 Jahre nach Schaffung des europäischen Binnenmarktes ist nicht mehr sicher, ob die Regierungen der Versuchung widerstehen, ihre Wirtschaft auf Kosten der Wirtschaft in anderen Staaten zu retten“, habe Werner Balsen am 15. Februar 2009 in der „Berliner Zeitung“ geschrieben. Die Reaktionen der EU-Staaten seien sehr unterschiedlich. So wollte der französische Präsident am liebsten französische Autos nur in Frankreich bauen, mit ausschließlich französischen Zulieferteilen, versteht sich.
Vor diesem Hintergrund arbeitete Bärbel Romanowski als zentrale Fragen der Veranstaltung heraus: Haben wir Chaos in der EU? Wie sehen die Wege aus, um im Interesse der 480 Millionen Menschen in der Europäischen Union Lösungen zu finden? Welche Chancen haben global vernetzte Unternehmen hierzulande, die einst als Hoffnungsträger galten? Was erwarten die Belegschaften und wie gehen sie mit der schwierigen Lage um? Was können die Gewerkschaften tun? Wie ist die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene? Welche Lösungen bietet die EU und was sind die Gefahren des Protektionismus?
Im ersten Teil der Podiumsdiskussion wurden die Ursachen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise und ihre Auswirkungen auf die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union beleuchtet. Während der Berliner FDP-Vorsitzende Markus Löning als Ursache der weltweiten Krise die Immobilienspekulation in den USA bemühte, war Helmuth Markov der Auffassung, dies sei zu kurz gegriffen und stimme so nicht. Der Europa-Abgeordnete verwies auf die in den letzten Jahren rückläufig gewordenen Reallöhne in Deutschland und auf die damit einhergehende Minimierung der Binnennachfrage. Er zeigte auf Fehler im Bankensektor, Fehler auch bei den in öffentlicher Hand befindlichen Banken, die mit faulen Finanzprodukten gehandelt hätten. Dies und anderes habe den Boden für die sich weltweit ausdehnende Krise bereitet.
Betriebsrat Holm Theinert machte als Ursache für den starken Kriseneinbruch auch die Deregulierung der Märkte aus. Ihre neoliberalen Verfechter hätten mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des Abbaus der Bürokratie immer wieder gefordert, der Staat müsse sich zurücknehmen. Damit seien aber auch Regeln außer Kraft gesetzt worden, mit denen die Krise zwar nicht verhindert, aber doch begrenzt hätte werden können.
Im zweiten Teil der Podiumsdiskussion wandte man sich dem Fall der Infineon-Tochter Qimonda in Dresden zu. Holm Theinert berichtete, dass bereits vor Ausbruch der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise auf dem Sektor der Speicherfertigung, auf dem Qimonda aktiv war, eine starke Konkurrenz herrschte und eine Überkapazität von ca. 30 Prozent bestand. Management-Fehler seien durch die Krise verschärft worden. Nun finde eine Marktbereinigung auf dem Rücken der Beschäftigten und der Allgemeinheit statt. Gemeinsam mit portugiesischen Gewerkschaften (auch in Portugal befindet sich ein Infineon-Standort) habe man sich in dieser Situation, in der rund 3.000 Arbeitsplätze auf der Kippe standen, gegen eine Unternehmensschließung (auch mit Unterstützung der LINKEN im Sächsischen Landtag, im Bundestag und im Europa-Parlament) gewehrt. Und man habe auf Hilfe vom Bund und aus Brüssel gehofft – leider vergebens.
Helmuth Markov sah sich hier genötigt, die Europäische Kommission, die er sonst gern und heftig kritisiert, in Schutz zu nehmen. Die EU-Kommission habe entschieden, dass Beihilfen in der gegenwärtigen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise flexibler gehandhabt werden können. Länder wie Frankreich hätten dies auch sofort genutzt. Im Fall Qimonda habe damit der Ball eindeutig bei der deutschen Bundesregierung gelegen, die – auch angesichts des geringen Interesses der sächsischen Landesregierung – die vorhandenen Möglichkeiten nicht genutzt habe.
Markus Löning plädierte generell dafür, in den Pleitestrudel geratene Unternehmen in die Insolvenz zu führen. Die Insolvenz sei die Lösung, um die wirtschaftlich gesunden Teile eines Unternehmens zu retten. Sicher sei dabei der Abbau von Arbeitsplätzen nicht zu vermeiden, müssten Teile der Belegschaft in die Arbeitslosigkeit gehen. Hier sei dann wie in anderen Fällen, wenn es in der Marktwirtschaft nicht klappt, der Sozialstaat als Reparateur gefragt. Eine Aussage, die das Publikum im Saal mit grimmigem Gemurmel quittierte.
An den Fall Qimonda wurde die generelle Frage geknüpft, ob der Staat Unternehmen, die in den Pleitestrudel geraten sind, helfen solle oder nicht. Sei ein VEB Opel oder ein VEB Qimonda die anzustrebende Lösung?
Der FDP-Bundestagsabgeordnete hielt – wie zu erwarten war – überhaupt nichts davon, dass der Staat Unternehmen, die in den Pleitestrudel geraten sind, finanziell unter die Arme greift oder gar Eigentümer oder Miteigentümer wird. Der Staat habe sich aus der Wirtschaft herauszuhalten. Die Zustimmung der FDP im Bundestag zur Bankenrettung sei ein Ausnahmefall gewesen, um Schlimmeres zu verhindern. Wenn der Staat einem, insbesondere großen Unternehmen wie Opel helfe, greife er in den Wettbewerb ein, verzerre er den Wettbewerb zu Lasten anderer Unternehmen. Und Löning fragte: „Wo ist hier die Grenze zu ziehen?“
Doch auch das Mitglied der Partei DIE LINKE, Helmuth Markov, hielt nichts von einer generellen Verstaatlichung der Wirtschaft. Privateigentum sollte dort bestehen, wo es wirtschaftlich sinnvoll ist. Der Europa-Abgeordnete erklärte aber, dass es Bereiche in der Gesellschaft (wie Grundlagenforschung, Gesundheitswesen, Bildungswesen usw.) gebe, die sich marktwirtschaftlich nicht rechnen oder die sich – marktwirtschaftlich betrieben – nicht am Gemeinwohl orientieren. Hier sei kommunales Eigentum oder Eigentum der Bundesländer oder Eigentum der Bundesrepublik Deutschland gefragt.
Holm Theinert plädierte in diesem Kontext für die Kontrolle der Beschäftigten über die Unternehmen und machte sich generell für mehr Wirtschaftsdemokratie stark. Es bedürfe dazu aber einer entsprechenden gesellschaftlichen Bewegung. Nur im Wahljahr 2009 sei davon leider nichts zu sehen.
Im dritten Teil der Podiumsdiskussion wandten sich die Teilnehmer der Frage nach möglichen Wegen aus der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise zu. Markus Löning, seit 2005 Vizepräsident der Europäischen Liberaldemokratischen Partei (ELDR), hielt es für völlig unangebracht, angesichts der derzeitigen Krise die Marktwirtschaft an den Pranger zu stellen und der Verstaatlichung das Wort zu reden, und machte sich für die freie Marktwirtschaft stark. Denn nicht das Versagen des Marktes habe zur jetzigen Krise geführt, sondern staatliches Versagen. Was wir bräuchten, sei nicht weniger Markt und mehr Staat, sondern ein Markt mit mehr Transparenz und besseren Regeln. Diese zu schaffen sei der Staat gefordert. Vertrauen schaffen, kluge Regeln setzen, mehr Transparenz, bessere Kontrolle und gemeinsames Handeln – das seien die Maximen, die aus seiner Sicht den Weg aus der Finanzkrise weisen würden. Staatliche Konjunkturprogramme bräuchten wir hingegen keine. Die Ausreichung von noch mehr Krediten sei der falsche Weg. Markus Löning plädierte hingegen für Steuersenkungen, Investitionen in die Infrastruktur und Investitionen in die Bildung.
Helmuth Markov wollte ihm da keineswegs in allen Punkten folgen. Investitionen in die Infrastruktur und in die Bildung waren dabei unstrittig. In der Steuerpolitik sprach sich der Europa-Abgeordnete zwar für eine Senkung des Eingangssteuersatzes aus, was seine Partei zur Belebung der Binnennachfrage seit langem fordere. Eine Senkung des Spitzensteuersatzes auf 35 Prozent, wie das die FDP in ihrem Bundestagswahlprogramm-Entwurf fordert, lehnte er jedoch mit aller Entschiedenheit ab. Dadurch würden dem Staat zukünftig gerade die Finanzmittel fehlen, die er brauche, um in der Wirtschaftskrise oder zur Bankenrettung eingreifen zu können.
Jochen Weichold
Die Veranstaltung wurde vom Offenen Kanal Berlin (okb.de) aufgezeichnet. Hier Ausschnitte daraus:
Bisherige Veranstaltungen der Reihe »Baustelle Europa« (dokumentiert)
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