Documentation Kapitalismus dot com

Digitale Produktionsverhältnisse und politische Perspektiven.

Information

Event location

Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Str. 4
10405 Berlin

Date

29.05.2010

Themes

Digitaler Wandel, Kultur / Medien

Die Tagung Kapitalismus dot Com beschäftigte sich mit dem Wandel von Ökonomie und Staat durch die Digitalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. In ihrer Eröffnungsrede skizzierte Ursula Huws die Entstehung der Wissensökonomie. Sie ging dabei der Frage nach, inwieweit deren Entstehung als Ausdruck einer neuen globalen Arbeitsteilung zu verstehen ist und warum das Feld der Wissensökonomie von relativ schwachen Widerstandsprozessen durchzogen ist. Dabei verwies sie darauf, dass Wissensarbeit bereits seit Entstehung der kapitalistischen Arbeitsteilung in viele Berufe eingebettet war und nicht als immaterielle Arbeit verstanden werden könne, da eine untrennbare Verbindung mit der stofflichen Materialität gesellschaftlicher Verhältnisse bestehe. Die geringe Ausbildung widerständiger Strategien begründete Huws damit, dass eine hohe Identifizierung von WissensarbeiterInnen mit ihren Berufen bestehe, und unternehmerische Abhängigkeits- und Kontrollstrategien, die von spezifischen Geschlechterverhältnissen durchzogen seien, kollektive Organisierungen verhindern. Widerstand entstehe daher– wenn überhaupt - nur punktuell, in den meisten Fällen führen schädigende Arbeitsverhältnisse jedoch zu individueller Isolation und/oder gesundheitlichen Schäden.


In der im November erschienenen RLS-Publikation Standpunkte 38/2010 knüpft Huws an ihrern Konferenzbeitrag an.

Im Panel „Arbeit & Eigentum“ wurden dann konkreter die Veränderungen gegenwärtiger Arbeits- und Eigentumsverhältnisse durch die Digitalisierung debattiert. Andrea Baukrowitz stellte das Konzept der Informatisierung von Arbeit vor, welches die historische Umwandlung erfahrungsbasierter Planungs- und Kontrollprozesse in formale, informationsbasierte Prozesse beschreibt. Dabei stellte sie heraus, dass nicht nur vermeintliche fordistische „ModernisierungsverliererInnen“ negativ von der Digitalisierung von Arbeitsverhältnissen betroffen seien, sondern sich auch im digitalisierten Dienstleistungssektor eine zunehmende Erosion beruflicher Identitäten vollzieht, da das kreative Potential der digitalen Informationstechnologien zu Gunsten ökonomischer Verwertungsinteressen zurückgedrängt wird. Nadine Müller fokussierte im Anschluss daran auf die Computerisierung von Arbeitsprozessen und stellte dabei die besondere Bedeutung von Software für die Restrukturierung betrieblicher Arbeitsverhältnisse heraus. Dabei unterschied sie zwischen den Bereichen Planung, Kooperation, Qualifikation und der Arbeitsteilung selbst. Letztere wandelt sich von einer Zerlegung von Kompetenzen in der fordistischen Betriebsorganisation hin zu einer individuellen Spezialisierung der Subjekte im Hinblick auf ihre ökonomische Einsetzbarkeit im Postfordismus.  Stefan Meretz beschäftigte sich im Anschluss daran mit der gesellschaftlichen Organisierung von Wissen. Er kritisierte dabei gegenwärtig dominante marktliberale Vorstellung von Wissen als einer knappen Ressource, welche durch geistige Eigentumsrechte verknappt werden müsse. Stattdessen formulierte er die politische Zielperspektive der Commons (gemeinschaftliche Güter), die jenseits von kapitalistischen Markt- und zentralstaatlichen Organisationsformen von den commoners (den NutzerInnen der Wissensressourcen) basisdemokratisch selbstverwaltet werden sollen.

Das zweite Panel „Regieren und Regiert werden 2.0“ ging dann der Frage nach, inwieweit sich staatliche Herrschaft durch den Übergang von einer papierbasierten zu einer internetbasierten Verwaltungspraxis verändert hat. Besonders zu beachten ist dabei die zunehmende Formulierung sicherheitsstaatlicher Projekte wie der Vorratsdatenspeicherung, dem digitalen Personalausweis und der Steuerkarte ELENA gegenwärtiges Regieren verändert. Christoph Engemann konzentrierte sich am Beispiel der elektronischen Gesundheitskarte auf die Digitalisierung von Gesundheitsverhältnissen. Als Kernbegriff stellte er das von ihm und Boris Traue im Anschluss an Michel Foucault entwickelte Konzept der Gouvernemedialität vor, welches das Wechselverhältnis von Selbstverhältnissen, staatlichen Herrschaftsstrategien und ihre Vermittlung über gesellschaftlichen Kommunikationsmedien bezeichnet. Im Anschluss präsentierte Boris Traue das von Jean Stiegler entwickelte Konzept der Psychopolitik. Dieses konzentriert sich auf die Strukturierung von subjektiven Erfahrung durch kapitalistische Programm- und Kulturindustrien sowie staatliche Programmindustrien. Die digitalen Kommunikationstechnologien werden aus dieser Perspektive als Teil neuer Psychotechnologien verstanden, die Aufmerksamkeit binden und neue subjektive Rationalitäten der Weltwahrnehmung schaffen. Albrecht Maurer schloss das Panel mit einem Beitrag über die Rolle digitaler Überwachungs- und Fandungstechnologien im präventiven Sicherheitsstaat. Ausgehend von den papiernen Fahndungsbüchern der 1970er Jahre in Deutschland über die Flut von Sicherheitsgesetzen nach dem 11/09 skizzierte er einen bis heute anhaltenden Trend hin zu einer unübersichtlichen Zahl staatlich verwalteter Datenbanken, deren Verknüpfung und Durchsuchbarkeit ausschließlich den Entscheidungen der Sicherheitsbehörden unterliegt. Digitale staatliche Herrschaft bildet sich somit im Bereich Überwachung und Kontrolle weitgehend als grundrechtlich ungeschützt heraus.

Den Abschluss der Tagung bildete das Panel „Linke Netzpolitik“, welche linke politische Schlussfolgerungen aus der Tagung zog. Norbert Schepers betonte dabei den Querschnittscharakter linker Netzpolitik, die von Bürgerrechten bis zum Bereich Sozialpolitik reicht. Dabei verwies er auf das emanzipatorische Fortschrittselement der digitalen Kommunikationstechnologien, welches in einer linken, netzpolitischen Debatte berücksichtigt werden müsse. Susanne Lang verwies im Anschluss darauf, dass linke Netzpolitik nicht nur nach Außen gestaltet werden müsse, sondern auch im innerlinken Spektrum eine tiefgreifendere Debatte verdiene. Die linke Debatte um die digitalen Informationstechnologien reiche bisher von einer tiefen Netzskepsis zu einer hohen Netzaffinität bis zur desinteressierten Unkenntnis gegenwärtiger digitaler Entwicklungsprozesse. Constanze Kurz betonte die technische Seite digitaler Entwicklungsprozesse, über die linke Politik ebenso Kenntnis habe müsse wie über deren soziale Folgen. Als digitale Kernthemen der näheren Zukunft benannte sie Fragen von Netzneutralität, geistigem Eigentum und Datenschutz. Zum Abschluss des Panels wies Tobias Schulze auf den positiven Effekt gegenwärtiger Digitalisierungsprozesse hinsichtlich der schnelleren und leichteren Verbreitung linker Inhalte durch die Netzmedien hin. Gleichzeitig betonte er die Aufgaben öffentlicher Einrichtungen bei der Archivierung des „kulturelle Erbes“ im digitalen Zeitalter gegenüber privatwirtschaftlichen Archivierungsstrategien von Unternehmen wie google.

Programm

10 Uhr – 11 Uhr Begrüßung und Key-Note
Die globale Wissensökonomie
Ursula Huws, International Labour Studies, London

Dieser Vortrag behandelt Veränderungen in der globalen Arbeitsteilung, die mit der Restrukturierung von Wertschöpfungsketten verbunden sind. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Kommodifizierung von Wissen und dessen Einfluss auf Beschäftigungsmodelle, Arbeitsqualifikationen, Arbeitsbedingungen und berufliche und klassenbezogene Identitäten. Im Anschluss daran wird die höchst widersprüchliche Position von ‘WissensarbeiterInnen‘ in diesen Veränderungsprozessen untersucht, und jene Faktoren bestimmt, die deren Zustimmung oder ihren Widerstand gegen diese Veränderungsprozesse beeinflussen.

11:15 bis 13 Uhr
Panel: Konflikte um Arbeit und Eigentum im „digitalen“ Kapitalismus

Mit der Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien haben sich Arbeitsverhältnisse verändert: dies betrifft betriebliche Hierarchien, Konkurrenzen und Kooperationen, den gestiegenen individuellen Leistungsdruck, das Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit, das Eigentum an Produktionsmitteln und Gütern und viele andere Aspekte der Organisation von Ausbeutung und Lohnarbeit, die andere Formen annehmen. Handelt es sich hierbei um die alten Arbeitsverhältnisse in neuem Gewand oder gibt es qualitativ neue Veränderungen und wenn ja welche? Welche Konflikte zwischen Arbeit und Kapital, welche zwischen Privateigentum und Nutzung der produzierten Güter sind hier aufgebrochen und wie ist all dies miteinander verschränkt? Was bedeutet das für gewerkschaftliche Kämpfe, für neue Aneignungsformen und Produktionsweisen und welches Widerstandspotenzial scheint hier auf? Nach dem einführenden Vortrag von Ursula Huws wollen wir mit den folgenden drei Beiträgen die Analyse der genannten Entwicklungen vertiefen und verschiedene Interpretationen vorstellen und diskutieren.
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Informatisierung und Industrialisierung der Kopfarbeit

Andrea Baukrowitz, Volkswirtin, Frankfurt am Main:
Seit Ende der 1990er Jahre hat die Informatisierung der Arbeit nochmals einen Schub erhalten. Auf Basis des Internets ist ein globaler Informationsraum entstanden, in dem sich für die konstituierenden Momente von Arbeit wie die Form von Arbeitsmitteln und Gegenständen, der Organisation des Arbeitsprozesses sowie seiner Steuerung und Kontrolle paradigmatische Veränderungen vollziehen. Dieser Wandel der Arbeit ist dabei nicht „technikinduziert“. Vielmehr ist die Ursache in den aktuellen tief greifenden Veränderungen in den Geschäftsmodellen vieler Unternehmen zu suchen, in denen Informatisierung als Prozess der Reorganisation von Produktions- und Verwertungsketten sowie ihres Produkt- und Leistungsportfolios vorangetrieben wird. Internetbasierte Informationssysteme schaffen hier veränderte Möglichkeiten der Steuerung und Kontrolle über Organisations- und Landesgrenzen hinweg und knüpfen zudem Finanzmärkte und Unternehmen bis hinein in ihre Steuerungslogik enger zusammen. In dem Beitrag wird die Informatisierung als Perspektive für die Analyse aktueller Entwicklungstendenzen der Arbeit vorgeschlagen. Auf Basis eines kurzen historischen Blicks auf die Informatisierung der Arbeit in der Vor-Computerzeit und danach werden aktuelle Diagnosen zu den Formen und Folgen der Informatisierung am Beispiel der IT-Branche und ihren Beschäftigten vorgestellt. Im Gegensatz zu den 1990er Jahren, in denen noch die Potentiale für Selbstorganisation und Autonomie im Zentrum vieler Analysen stand, müssen dabei heute Stichworte wie Globalisierung, neue Formen (internationaler) Arbeitsteilung, Standardisierung, neue Kontrollformen und Industrialisierung neuen Typs in den Blick genommen werden. Vor diesem Hintergrund wird das aktuelle Spannungsfeld zwischen Individualisierung in der Arbeitssituation und Interessenlage von Beschäftigten und kollektiven Formen der Interessenvertretung konkretisiert und Perspektiven für die betriebliche und gewerkschaftliche Interessenvertretung sowie die berufliche Bildung als Teilsystem in den Arbeitsbeziehungen aufgezeigt.
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Computerisierung und Herrschaft

Nadine Müller, Sozialwissenschaftlerin, Berlin:
Im Prozess der Computerisierung findet ein Dominanzwechsel von körperlicher Arbeit an der Maschine zu geistig-kreativen Tätigkeiten, die vor allem durch Software unterstützt werden, statt. Die vorherrschende Form der Arbeitsteilung als Arbeitszerlegung von manuellen Operationen an der Maschine verändert sich, denn die mechanische Maschine verliert als Kernstück der industriellen Produktion an Bedeutung. An ihre Stelle rückt mehr und mehr Software als das dominante Arbeits- und Produktionsmittel. Dieser Dominanzwechsel ist Ausgangspunkt für die These, dass im Prozess der Computerisierung die Trennung von Leitung (Manager) und Ausführung (Mitarbeiter) ihre produktivitätssteigernde Wirkung einbüsst und ihre herrschaftssichernde Funktion prekär wird. Die Form der Arbeitsteilung ist für Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse zentral. In dem System Arbeitsteilung-Eigentum-Herrschaft werden neue praktische Widersprüche offenbar. Denn die kapitalistische Wirtschaft reagiert aufgrund ihrer – wenn auch sich verändernden – hierarchischen und privatarbeitsteiligen Struktur auf die Anforderungen im Prozess der Computerisierung in lediglich suboptimaler Weise und bewältigt nicht die daraus resultierenden Krisen. Die bestehende praktische Vermittlung zwischen Privateigentum und Herrschaft auf der einen Seite und dem computerisierten Arbeitsprozess auf der anderen Seite als nur relative Selbstorganisation der Arbeitenden ist ineffizient. Es zeigt sich die Notwendigkeit einer Demokratisierung in Form der „Kooperativen Individualität“ zur Entfaltung von Kreativität.
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Die Ideologie des »geistigen Eigentums«

Stefan Meretz, Informatiker, Keimform.de, Berlin:
Der Kapitalismus vollzog drei industrielle Revolutionen: Initial die Vergegenständlichung des Handwerkerwissens in der Maschinerie, dann die ingenieuerwissenschaftlichen Integration der analogen Teilprozesse zur Fließfertigung und schließlich die Trennung von universalisierter Prozessmaschine (z.B. Industrieroboter) und digitaler universeller Algorithmusmaschine (Computer). Das Wissen in seiner algorithmisierbaren Form ist digital und warenförmig geworden. Da Waren knapp und exklusiv sein müssen, muss dies auch für digitalisierte Wissenswaren gelten. Das ideologische Konstrukt des »geistigen Eigentums« erfüllt die Funktion, die künstliche Verknappung und Exklusion zu rechtfertigen. Doch die nahezu aufwandslose Reduplizierbarkeit sperrt sich gegen die Warenform. Freie Digital-Produzent_innen und -Nutzer_innen schöpfen und nutzen, was allen gehört -- das kumulierte Wissen der Menschheit. Die produktive Wiederaneignung der Gemeingüter ist die antikapitalistische Strategie der Zukunft.

Moderation: Sabine Nuss, Rosa-Luxemburg-Stiftung

14 bis 15:30 Uhr
Panel: Regieren und Regiert werden 2.0

Staatlichkeit unterliegt derzeit einem Medienwandel von einer papierbasierten zu einer internetvermittelten digitalen Administration. Gleichzeitig lässt sich auf vielen Feldern eine Zunahme digital vermittelter, autoritärer Staatsprojekte beobachten. Projekte von der Vorratsdatenspeicherung über Internetsperren bis hin zur elektronischen Gesundheitskarte und ELENA legen Zeugnis davon ab. Auch die staatlichen Bildungsinstitutionen versuchen, sich an  neue Anforderungen globalisierter Wirtschaftsweisen anzupassen. Gleichzeitig haben hier sich mit Bloggern und Hackern, Piratenpartei, Wikileaks und Flashmobs im und mit dem Internet neue politische Akteure und Aktionsformen gebildet: Gemeinsam ist hier die Skandalisierung von Überwachung und die Idealisierung der Peer-Produktion einerseits, die Hoffnung auf Steigerung von Transparenz und Partizipation zur Demokratisierung und Politisierung der Gesellschaft andererseits. Jenseits dieser verbreiteten Grundüberzeugungen  fehlt jedoch eine Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken dieser neuen Beteiligungsformate. Entsprechend sollen im Panel Regieren und Regiert werden 2.0 Kontinuität und Wandel von staatlicher Herrschaft & gesellschaftlicher Partizipation untersucht werden. Treten Staat und Gesellschaft bzw. Staat und BürgerInnen in ein qualitativ neues Verhältnis? Gewinnen Individuen und Assoziationen neue Freiheitsräume oder werden sie mehr denn je eingebunden? Wie schließlich könnte eine von solchen Analysen informierte linke Netzpolitik aussehen?!
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Die Gesundheitskarte – Von Gouvernementalität zur Gouvernemedialität in der Gesundheitsversorgung

Christoph Engemann – IKKM Bauhaus Universität Weimar:
Ohne Medien keine Regierung, doch lange galt den Medien des Regierens wenig Aufmerksamkeit. Zu profan waren Papier, Aktenordner und Archiv als das sie von Politik oder Gesellschaftskritik in ihren Formen und Funktionen problematisiert wurden. Mit der Digitalisierung wird die Medialität des Regierens politisch. An der Gesundheitskarte, ein über drei Legislaturen hinweg verfolgtes Projekt zur Digitalisierung der Gesundheitsversorgung, lässt sich zeigen wie das unscheinbare dazwischen der Medien strukturell wirkmächtig wird. Statt mit papierenen Akten sollen Ärzte und Patienten eine digitale Gesundheitsakte nutzen und mit dieser Daten über Gesundheit und Krankheit verwalten. Doch handelt es sich nicht einfach um einen Austausch der Medien, sondern um eine Neugestaltung der Beziehungen zwischen Arzt, Patient, Gesellschaft und Politik.
Jenseits der Skandalisierung von Datenschutzfragen soll dieser Beziehungswandel durch neue Medien hier an der Gesundheitskarte exemplarisch untersucht werden. Dabei wird zu fragen sein, inwieweit offizielle Politik und kritische Diskurse denselben medialen Dispositiven aufsitzen, indem Partizipations- und Verantwortungsformate als emanzipatorisch verabsolutiert werden.
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Die Psychopolitik und ihre Alternativen

Boris Traue – University of London:
Staatliche Administrationen stellten sich erst nach einer Verzögerung, in der globalisierte Unternehmen bereits einen Vorsprung in der Aneignung von IuK-Technologien aufgebaut hatten auf den gegenwärtigen Medienbruch ein. Sie zielen darauf ab, diesen Bruch auf den Politikfeldern zu gestalten, die dem neoliberal umgebauten Staat noch zur Verfügung stehen: Innovationspolitik, Sicherheitspolitik, Wohlfahrtspolitik, Bildungspolitik, Kulturpolitik. Doch es ist zweifelhaft, ob die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Interventionen der psychotechnologischen Mobilmachung der globalen Kultur- und Programmindustrien derzeit wirkungsvoll begegnen können. Die Kultur- und Programmindustrien zielen darauf ab, Humankapital zu vergrößern, Aufmerksamkeit zu kommodifizieren und soziale Konflikte zu therapeutisieren. In diesen Strategien zeigen sich die Umrisse einer ‚gouvernemedialen’ Psychopolitik. Die Techniken des Selbstmanagements, des Marketings und der Konsumption beinhalten zwar partizipatorische Elemente, tragen aber bislang nicht zur Entstehung emanzipatorischer Perspektiven und Handlungsformen bei. Diese These soll am Beispiel von staatlichen und industriellen Interventionen zur Förderung der ‚Medienpartizipation’ verdeutlicht werden. Zur Frage steht dabei, ob die neuen Medien mit Hilfe einer neuen ‚Industriepolitik des Geistes’ umfassender als bisher geschehen gesellschaftlich angeignet werden können?
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Der allseits verwickelte Mensch
Albrecht Maurer, Referent für Innenpolitik, Bundestagsfraktion DIE LINKE:
1. Die repressive Seite
Mit der Behauptung, wir lebten in einem weltweiten  Gefahrenraum werden immer weitergehende staatliche Eingriffe in Privatsphäre und Grundrechte begründet und mit Begriffen wie Gefährder, Kontaktpersonen, Vorbereitungshandlungen und Maßnahmen wie Vorratsdatenspeicherung, Späh- und Lauschangriffen, Online-Durchsuchung, Scoring und Profilerstellung durchgesetzt. Prävention und Gefahrenabwehr haben ihren ursprünglichen Inhalt längst verloren und sind zu Generalschlüsseln einer anlasslosen Verdachtserhebung, Verdachtsverdichtung oder der Profilerstellung zu vielfältigsten sozial-, gesundheits- oder kriminalpolitischen Zwecken geworden. Staatliches Handeln wird in immer mehr Bereichen einer wirkungsvollen Kontrolle und Überprüfbarkeit entzogen – und findet doch in großer Öffentlichkeit statt! Unzählige Gesetze und institutionelle Neuordnungen (Bundespolizei, Gemeinsames Terror Abwehrzentrum, Ausbau des Bundeskriminalamts zu einer geheimen Bundespolizei, Bundesverwaltungsamt als Service- und Kompetenzzentrum der Abhördienste …) mit gravierenden Eingriffen in bisherige verfassungsmäßige und grundrechtliche Essentials wurden in parlamentarischen Hauruckverfahren und unter massiven Angstkampagnen in der Öffentlichkeit als Begleitmusik durchgesetzt.
Angesichts schwindender sozialer und politischer Sicherheiten werden seine Bürgerinnen und Bürger immer mehr zur potenziellen Gefahr und unter Generalverdacht gestellt.
Sichtbar werden auf allen Ebenen die Umrisse eines präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaates, der immer mehr gesellschaftliche Bereiche unmittelbar durchdringt und sich zurechtformt. Soziale und politische Gängelung und Kontrolle gehen ineinander über. Grund- und Bürgerrechte werden – geradezu diametral zu ihrer ursprünglichen Funktion – unter den Vorbehalt der Mitwirkung an ihrer Einschränkung gestellt („Wer nichts zu verbergen hat, lässt sich durchsuchen, gibt seine Daten her, beweist seine Unschuld … wer nicht, der …“).
2. Die digitale Gesellschaft
Dafür stehen staatlich angestoßene Projekte wie eGovernment, biometrische Ausweise, elektronische Gesundheitskarte, Elektronischer Einkommensnachweis (ELENA), einheitliche Steuernummer, der „Zugelassene Wirtschaftsbeteiligte“ und andere, deren unglaubliche Datenmengen durch die allseitige Digitalisierung überhaupt erst handhabbar werden. Internet und seine Großunternehmen, „soziale Netzwerke“, Twitter, Wandlungen (und Zerstörung?) von Privatheit und anderes prägen diese Gesellschaft. Es gipfelt in der tendenziell unbegrenzt möglichen Verknüpfung und Nutzung der einen mit den anderen, der staatlichen Datenbanken und Datenströme mit den nicht-öffentlichen privaten, kommerziellen mit polizeilichen, sozialen mit repressiven Interessen. Und wird doch als Zuwachs an (Bewegungs-) Freiheit, individueller Kontrollkompetenz und Autonomie empfunden!
3. Widerstand und Alternativen?
Sind wir auf dem Stand des „Volkszählungsurteils“ aus dem Jahr 1983 oder wollen wir dort überhaupt sein? Dort heißt es: „Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden.“
Moderation: Lars Bretthauer, Politologe, reflect – Assoziation für politische Bildung und Gesellschaftsforschung

16 bis 17:30 Uhr
Panel: Linke Intervention und Digitalisierung

Die Digitalisierung findet mittlerweile in allen Lebensbereichen statt. Die Spezifik des Netzes und der Digitalisierung führt fast überall zu ganz eigenen Problemen und zu breiten politischen Diskussionen. Beispielhaft seien hier nur Themen wie die Regulierung des Internets, Partizipation oder die Netzkompetenz von Bundestagsabgeordneten genannt. Diese lebhaften Diskussionen machen gleichzeitig deutlich, dass auch neue Verknüpfungen und Verbindungen zwischen «klassischen» Politikfeldern, vor allem aber zwischen ganz unterschiedlichen politischen Akteur_innen entstehen. Während das Politikfeld der «Netzpolitik» als Querschnittsaufgabe bisher vor allem durch außerparlamentarische Akteur_innen getragen wurde, erkennen nunmehr auch Parteien die Leerstellen in diesem Politikfeld. Die Einsetzung einer Enquete-Kommission «Internet und digitale Gesellschaft» im Deutschen Bundestag ist nur ein Anzeichen dafür. Zum Abschluss der Konferenz werden die eingeladenen Referent_innen aus ihren spezifischen Erfahrungen auf die Frage eingehen, welche Konsequenzen und Interventionsmöglichkeiten die netzpolitischen Debatten in der Praxis und im politischen Raum haben: Was ist und kann «linke Netzpolitik» sein? Inwiefern hat das Netz und die Digitalisierung aller Lebensbereiche zu neuen Formen von Unterdrückungsverhältnissen und vor allem Widerstandspotentialen geführt? Was bedeutet das für linke Akteur_innen?

Statements


Norbert Schepers, AG Digitale Demokratie und Rosa-Luxemburg-Stiftung:
Linke Netzpolitik will zum Bereich Informationsgesellschaft einen progressiven und spezifisch linken Politikansatz entwickeln. Umso mehr, als dies bisher eine Leerstelle ist. Bestandteile eines solchen Verständnisses sind natürlich die Anerkennung und aktive  Nutzung der Potentiale und Chancen der Informationstechnologie. Wir brauchen einen Ansatz, der Netzpolitik als eigenständiges Politikfeld versteht und fördert; der die Komplexität der Interessen von Akteuren – privaten NutzerInnen, Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft und Staat – in diesem Bereich analysiert, transparent macht sowie Partizipation ermöglicht; der die Transparenz von Daten der öffentlichen Hand nachdrücklich einfordert und diese zugänglich macht (Informationsfreiheit); der die Daten-Selbstbestimmung aktiv fördert und einem digitalen Überwachungsregime entgegentritt.
Insbesondere aber sollte die Linke die Netzpolitik auch als Sozialpolitik begreifen! Dies wird anhand des eGovernment deutlich; dieses bringt perspektivisch die Digitalisierung aller Transaktionen zwischen Staat und BürgerIn. Hauptfeld der konkreten Projekte ist die Sozialpolitik im weiteren Sinne: Neben dem Pilotprojekt der elektronischen Gesundheitskarte sind dies die Jobcard (ELENA-Verfahren, für die Bereiche Arbeit und Einkommen), die digitale Signatur (s.a. Signaturgesetz), der digitale Personalausweis sowie die Steuer-Identifikationsnummer (womit in der BRD erstmals eine zentrale Personenkennziffer eingeführt wird). Diese Vorhaben verweisen ebenso auf klassische linke Fragen nach dem Eigentum und nach der Aneignung von Produktionsbedingungen wie die inzwischen sichtbar gewordenen Auseinandersetzungen um „Geistiges Eigentum“ bzw. um die Verfügung über die Inhalte in der Digitalen Gesellschaft. Die „soziale Frage“ lässt sich natürlich ebenso an Fragen der Teilhabe und des Zugangs durchdeklinieren.

Susanne Lang, Psychologin, Redakteurin bei „Verbraucher sicher online“:
Die Wahrung und Durchsetzung von Demokratie im Internet ist mit der zunehmenden Verbreitung und damit einhergehenden gesellschaftlichen Bedeutung des Internets eine dringendere Aufgabe von Netzpolitik geworden. Demokratie im Internet ist selbstverständlich nicht von Demokratisierungsbewegungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu trennen. So ist an Internettechnologien, wie auch an Software die Forderung zu richten, offen und transparent zu sein, denn sie regeln Zugang und Handlungsmöglichkeiten von Nutzer_innen und Entwickler_innen gleichermaßen.
Für ein demokratisches Internet ist essentiell,  dass seine Nutzer_innen die Möglichkeit haben, sich frei bewegen zu können. Nur wer sich frei orientieren, bewegen und assoziieren kann, wird partizipieren und eine demokratische Gesellschaft mitgestalten.
Aber die Bewegungsfreiheit ist nur die eine Seite der Medaille: es braucht ebenso mündige Nutzer_innen und Produzenten_innen, soweit sich diese zumindest theoretisch noch voneinander abgrenzen lassen, die selbstbestimmt handeln.
Schließlich steht eine linke Netzpolitik vor der Herausforderung, Formen von Kollektivität und Organisierung (weiter)zuentwickeln. Darin kann eine gemeinsame Identität nicht mehr als Grundlage für gemeinsames Handeln vorausgesetzt werden. Statt dessen sind Netzwerke der Ausgangepunkt für eine neue Kollektivität, die temporär bleibt und an gemeinsamen konkreten Fragen entsteht.

Constanze Kurz, Chaos Computer Club:
Die alltägliche Vernetzung ist für viele Menschen ein Segen, hat aber wie immer im Leben Schattenseiten. Die breiter werdende digitale Spur, die wir alle hinter uns herziehen, gibt viel Persönliches von uns preis - ob wir es merken oder nicht. Kein Wunder, dass sich nicht nur Kommerzielle, sondern auch staatliche Behörden für unsere Datenprofile interessieren. Schleichend droht der früher normale gesellschaftliche Zustand, dass jeder allein entscheiden kann, was er wem gegenüber preisgibt, verlorenzugehen.     Parallel rufen die lauter werdenden Apologeten eines angeblichen neuen sozialen Miteinanders das Ende der Privatsphäre aus.
Zu diesen Entwicklungen muss sich linke Netzpolitik positionieren, Argumente finden, Techniken kennen und verstehen, Potentiale dieser Technologien benennen können. Das wird keine leichte Aufgabe, aber eine, die an Wichtigkeit zunehmen wird.

Tobias Schulze, Referent für Wissenschaft und Technologie, Bundestagsfraktion DIE LINKE:
Digitale Technologie selbst bringt keine Fortschritte im Sinne einer emanzipatorischen Politik. Sie birgt lediglich Gestaltungspotenziale, die politisch gehoben und in vermachteten Sphären erkämpft werden müssen. Dabei hilft der hybride Charakter des Netzes als Kommunikations- und Produktionsinstrument. Zwei Effekte befördern dies:
•    die Senkung der technischen Produktions-, und besonders der Vervielfältigungs- und Distributionskosten nahe Null.
•    der Netzcharakter, der multidirektionale Kommunikation und egalitäre Teilhabe daran ermöglicht
Die Verknappung von wissensbasierten Gütern und die Verengung oder Einschränkung von Kommunikationswegen werden so immer schwieriger. Ökonomische und soziale Konstitutionen von Herrschaft geraten an Grenzen. Eine emanzipatorische Netzpolitik könnte diesen Druck nutzen, um alternative gesellschaftliche Modi zu befördern.
Bürgerrechtspolitik und die strukturell gestaltende Eigentumspolitik sind dabei nur zusammen zu denken. Die Einschränkung von Freiheitsrechten behindern auch die Entfaltung neuer Arbeits- und Eigentumsformen und umgekehrt.
Zentrale politische Felder sind aus meiner Sicht:
1.    Der Erhalt von Netzneutralität, die Vermeidung der digitalen Spaltung sowie der Einsatz gegen jegliche Formen von Zensur.
2.    Die Stärkung und der Ausbau einer öffentlichen Daseinsvorsorge bzw. der Gemeingüter im Netz sowie die Unterstützung kollaborativer Produktionsformen.
3.    Die Anpassung und Erneuerung des Urheberrechtes und weiterer Schutzrechte durch einen Ausgleich von Kreativen und NutzerInnen. Die Rechte von Intermediären sind auf reine Dienstleistungsfunktionen zu beschränken, öffentliche Zwecke wie Bildung und Wissenschaft zu bevorzugen.
4.    Eine Stärkung der NutzerInnenrechte durch Umsetzung in einem neuen Internetrecht, das die informationelle Selbstbestimmung im Netz gegen private und staatliche Interessen schützt.
5.    Die politische Organisation von Kreativen und NutzerInnen.
Netzpolitik ist Politik zur Erarbeitung, Austausch und Diskussion von Wissen, Kultur und Information. Eine Ökonomie des Netzes ist demnach eine Ökonomie von Wissen und Information.

Moderation: Katharina Weise, Rosa-Luxemburg-Stiftung


Linksammlung zu einigen (aber nicht allen) Themen der Tagung:

Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Internet und digitale Gesellschaft“

Vorratsdatenspeicherung

 Netzsperren

 Überwachung