Documentation History is unwritten

Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft: Gestern, Heute und Morgen

Information

Event location

ver.di Bundesverwaltung
Paula-Thiede-Ufer 10
10179 Berlin

Date

06.12.2013 - 08.12.2013

Organizer

Bernd Hüttner,

Themes

Geschichte, Deutsche / Europäische Geschichte, Erinnerungspolitik / Antifaschismus, Parteien- / Bewegungsgeschichte

Der Blick der Geschichtswissenschaft ist ihrem Gegenstand gemäß zunächst in die Vergangenheit gerichtet. Kann der Blick zurück aber darüber hinaus eine kritische politische Perspektive auf die Gegenwart ermöglichen? Das Symposium History is unwritten widmet sich den Möglichkeiten und Fallstricken eines Bezugs auf die Vergangenheit, der sich auch einer besseren Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Gegenwart verpflichtet sieht.

Geschichte von unten, ganz oben
Ein Bericht zur Tagung "history is unwritten" in Berlin, 6.-8. Dezember 2013 
Von Johannes Spohr

Es sind illustre Orte, an denen in diesen Tagen über den Umgang mit Geschichte verhandelt wird. In Hamburg findet eine internationale Tagung zum Umgang mit NS-Täterschaft in der Familie an der Helmut-Schmidt-Universität, der Universität der Bundeswehr, statt. Organisiert wird diese von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Wer sich an einen Konflikt um den Umgang mit der Bundeswehr in Neuengamme vor wenigen Jahren erinnert, wird das mitunter als Provokation empfinden. Darin kein Statement zu sehen, fällt jedenfalls nicht ganz leicht.

An verschiedenen Orten in Berlin fanden am Wochenende um den 7. Dezember Veranstaltungen unter dem Motto „history is unwritten“ statt. Das AutorInnenkollektiv Loukanikos und zahlreiche Kooperationspartner_innen luden dazu ein, über „linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft“ zu diskutieren und knüpften damit an eine in der Analyse & Kritik geführte Debatte an. Es handelt sich um Beiträge zum Kampf um geschichtspolitische Deutungsmacht, gleichzeitig um das Hinterfragen der Grundlagen einer „eigenen“ Geschichtsschreibung linker Akteur_innen. Wie beispielsweise dem gesellschaftlich dominanten Narrativ widersprochen werden kann, Mythen widersprochen wird oder eigene gebildet und reproduziert werden, wird bereits seit einigen Monaten fortlaufend diskutiert. „Nur wenige Linke haben sich an diese Arbeit gemacht“, heißt es treffend in einem der Beiträge, die von der Analyse & Kritik nun gesammelt herausgegeben wurden.

Für einen gelungenen Auftakt sorgte bereits am Freitag das „tippel orchestra“ mit einer Text- und Soundcollage zu „Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Scheiterns zum Kommunismus“ in der Schankwirtschaft Laika. Durch eine Vielzahl gelesener, gesungener und angehörter Beiträge von Brecht bis Goldene Zitronen gelangten die Zuhörer_innen über Innen- und Außenansichten zu den Chancen des Scheiterns und warfen damit Fragen auf, die im Laufe des Wochenendes immer wieder zu diskutieren waren.

Für die samstägliche Tagung wählte man das Bundesgebäude von ver.di zwischen Köpi und Spreeufer. Wer hier die Chance ergriff, zu graben „wo man stand“, konnte auf die zeitgeschichtliche Relevanz des Ortes stoßen: Vor 11 Jahren musste der Wagenplatz Schwarzer Kanal dem Bau des Bundesgebäudes weichen. Auch vom nahe gelegenen Ersatzstandort wurden die Bewohner_innen inzwischen vertrieben. Vom siebten Stock aus lässt sich heute nicht nur die Köpi von oben und das Spreeufer zwischen Industrie- und Glasbauten, sondern auch eine nach wie vor brach liegende Fläche neben dem ver.di-Gebäude begutachten. Es handelt sich also um einen aussichtsreichen wie auch geschichtsträchtigen Ort, an dem heute, biografisch häufig zwischen Karriere und Engagement stehend, über Mythen und Erzählungen von der und über die Linke gesprochen wird.

Einem Eröffnungsvortrag und zwei Panels mit sehr akademisch gehaltenen Vorträgen folgt eine Workshop-Phase, in der viele angereiste Projekte wie die Initiative faites votre jeu Aus Frankfurt oder Audioscript aus Dresden die Gelegenheit nutzen konnten, ihre Arbeit, „kritische Praxen, Interventionen und Irritationen“, vorzustellen und zu diskutieren. Nicht nur das Format, auch die Inhalte der Workshop-Phase unterscheiden sich vom klassisch akademischen Vortrag. Auffallend dabei: ein Großteil der vorgestellten Projekte linker Geschichtsschreibung und -politik haben, im Unterschied zu den in den allermeisten Referaten, nicht die Linke zum Gegenstand. Diese Projekte zusammen zu bringen, erscheint als einer der großen Verdienste der Tagung.

Der deutliche spürbare Gap zwischen Vorträgen und Workshop hätte größer kaum sein können, so ergaben sich leider kaum Bezüge und fortlaufende Diskussionen. Ironischer Weise wurde dadurch – ohne eine tatsächliche Problematisierung – deutlich gemacht, wie schwierig ein Zusammenbringen von linkem Aktivismus und Akademie sein kann. Was die Beitragenden her- und umtreibt, was sie motiviert und was sie machen, kam vor allem im ersten Teil der Tagung nicht zur Sprache. Für eine geschichtspolitische Perspektive, die Grundlage derselben ist, wäre dies jedoch unerlässlich und gleichzeitig eine große Chance der Veranstaltung gewesen. Einen lobenswerten Schritt in diese Richtung hat kürzlich die Zeitschrift Phase2 mit dem Schwerpunkt „Akademisierung der Kritik“ gebracht und deutlich gemacht, dass der Zusammenhang von Biografie, Wissenschaft und Aktivismus maßgeblich relevant auch für geäußerte Kritik ist. Auf der Tagung jedoch wurden diese Faktoren weitestgehend entkoppelt bzw. blieben unbenannt. Zu unentschlossen wirkt somit auch der grundsätzlich lobenswerte Ansatz von Loukanikos, kritische Wissenschaft und linke Politik zusammen zu bringen. So konnte auch die Abschlussdiskussion, gedacht als Möglichkeit, „nach möglichen gemeinsamen Fluchtlinien kritischer Geschichtspolitik“ (Loukanikos) zu suchen, kaum Perspektiven hervorbringen. Für eine „gemeinsame Orientierung auf die Zukunft“ scheint der tatsächliche gemeinsame Nenner (noch) zu fehlen. Grundlage für eine sinnvolle Diskussion wäre jedoch auch, dass den Referierenden der Wille gemein ist, die akademisch-narzisstische Nabelschau zugunsten einer gemeinsam geführten Debatte zu vernachlässigen.

Für kontroverse Diskussionen mochte es an diesem Wochenende teilweise an Dissens oder Dringlichkeit fehlen. Es stellt sich, geht man von einem grundsätzlichen gemeinsamen Interesse jenseits der Selbstinszenierung aus, unweigerlich die Frage, wer die Ergebnisse der Tagung wie verarbeiten wird. Kollektiv vorbereitet durch das AutorInnenkollektiv Loukanikos und am heutigen Tage versuchsweise kollektiv diskutiert, werden sich die Konsequenzen hoffentlich nicht in erster Linie oder nur in den von vielen Beteiligten beackerten Dissertationen niederschlagen. Deutlich wird: Es mangelt an kollektiven Plattformen und Strukturen geschichtspolitischen Engagements, in denen es Raum zum Weiterführen von Diskussionen und der Umsetzung von Ergebnissen gäbe. Wichtige Entscheidungen werden vermutlich weniger beim Kartoffeleintopf in der Sodexho-Kantine gefällt als im Fortgang eines Prozesses, für den es Strukturen und Positionierungen auch jenseits von Akademie und Lebenslauf braucht. Lounanikos hat hier einen wichtigen und außergewöhnlichen Versuch unternommen, geschichtspolitisch in die Offensive zu kommen. Nicht zuletzt wurden an diesem Wochenende wichtige Impulse gegeben, im Blick zurück nach vorn.

Das Tagungsprogramm als PDF-Datei.

Johannes Spohr schreibt. Lebt in Berlin. Siehe auch http://www.preposition.de

Programm

Freitag, 06. Dezember:

Kulturprogramm
Ort: Laika – Kultur-Kiez-Kneipe
Emser Str. 131
12051 Berlin
S+U Neukölln, Hermannstraße (Ringbahn)
Bus 171, 246, 277, N79
(barrierefreier Zugang)

19.30 – das tippel orchestra
»Das Einfache, das schwer zu machen ist.« Eine Text- und Soundcollage zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Scheiterns zum Kommunismus.

Samstag, 07. Dezember:


Vorträge, Workshops, Diskussionen
Ort: ver.di Berlin - Bundesverwaltung
Paula-Thiede-Ufer 10
10179 Berlin
S Ostbahnhof / U Heinrich-Heine-Str.
(barrierefreier Zugang)

9.30 – Eröffnung und Begrüßung
Inhaltliche Begrüßungen
AutorInnenkollektiv Loukanikos
Rosa-Luxemburg-Stiftung
Humboldt-Universitäts-Gesellschaft - Grußwort von Maria Conze, Geschäftsführerin
ver.di - Wolfgang Uellenberg: „Gewerkschaften und Geschichtspolitik“

10.15 – Eröffnungsvortrag
David Mayer (Wien): Zur Geschichte der linken Geschichtsschreibung

11.00 – 11.30 Pause

11.30 – Panel 1
Linke Geschichtsschreibung in der 'Postmoderne': Das Ende der großen Erzählungen?
Postmoderne Theoretiker_innen verkünden seit nunmehr Jahrzehnten das 'Ende der großen Erzählungen'. Welchen Einfluss haben diese Proklamationen auf linke Geschichtsschreibung und -politik? Was wird gewonnen, was geht verloren mit der zunehmenden Verabschiedung von Konzepten wie Identität und Tradition? Wie lässt sich unter 'postmodernen' Bedingungen ein Bezug auf historische 'Traditionen' emanzipatorischer Kämpfe formulieren? Und ist das überhaupt wünschenswert?
Cornelia Siebeck (Berlin): Kein ›Ende der großen Erzählungen‹ in Sicht. Nachdenken über Möglichkeiten emanzipatorischer Gedächtnispolitik
Florian Grams (Hannover): Die Geschichte historischer Befreiungsbewegungen – Lehrstoff aber keine Legenden. Ein Beitrag zu einer Geschichtswissenschaft des Gesamtzusammenhangs

13.00 – 14.00 Mittagspause

14.00 – Panel 2
Zwischen Akademie und Bewegung: Kritische Wissenschaft und ihr Verhältnis zu sozialen Kämpfen und Herrschaftsprojekten
Das Verhältnis zwischen Akademie und sozialen Bewegungen lässt sich als ebenso problematisch wie produktiv begreifen – auch auf dem Terrain der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in politisierten Feldern. Das Panel nähert sich diesem Spannungsverhältnis an: Wie verorten sich Wissenschaftler_innen, die ihre Arbeit innerhalb der akademischen Sphäre mit einem politischen Engagement verbinden? Wie ist das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und sozialen Bewegungen zu denken? Welche Probleme, welche Potenziale existieren hier? Welche Möglichkeiten einer produktiven Verbindung lassen sich ausmachen?
Dominik Nagl (Mannheim): E. P. Thompson, die Neue Linke und die Krise im britischen Marxismus der 1970er Jahre
Susanne Götze (Paris/Berlin): Der Metaphilosoph Henri Lefebvre – linke Krise & Erneuerung in den 1960er Jahren
Anton Tantner (Wien): Sollen kritische HistorikerInnen „Europa Bauen“? Luciano Canfora und Josep Fontana als Vorbilder für eine kritische Geschichtswissenschaft?

15.30 – 16.00 Pause

16.00 – Workshop-Phase
Linke Geschichtspolitik: Kritische Praxen, Interventionen und Irritationen
In der Workshop-Phase stellen geschichtspolitische Initiativen ihre Projekte, Erfahrungen und inhaltlichen Konzepte vor. Die parallel stattfindenden Workshops sollen einen intensiven Austausch und Diskussionen zu den folgenden Fragen ermöglichen: Welche verschiedenen praktischen Ansätze linker Geschichtspolitik gibt es gegenwärtig? Welche Formen kritischer Interventionen im urbanen Raum, in Museen und Gedenkstätten und hegemonialen Erinnerungsorten existieren? Inwiefern verschränken darin sich 'akademische' und 'praktische' Arbeitsweisen? Betreiben geschichtspolitische Initiativen Kritik an der herrschenden Geschichtsschreibung oder widmen sie sich eher der Bereitstellung widerständiger Traditionen?
Mit: audioscript (Dresden), Berlin postkolonial, Bündnis „Rosa & Karl“ (Berlin), Ehemaliges Polizeigefängnis Klapperfeld (Frankfurt/Main), Mahngang Täterspuren, Michael Willenbücher, Ex-Kanak Attak (Berlin), Katharina Morawek, „Smrt Postnazismus!“ (Wien), TOP B3RLIN/um's Ganze, Uckermark-Initiative (Berlin/Hamburg)

17.30 – 18.00 Pause

18.00 – Abschlussdiskussion
Eine andere Gegenerzählung? Konturen einer gemeinsamen kritischen Verortung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Mit Bini Adamczak (Berlin), Renate Hürtgen (Berlin) & Ralf Hoffrogge (Berlin)
Die Abschlussdiskussion wirft die Frage nach möglichen gemeinsamen Fluchtlinien kritischer Geschichtspolitik auf, welche die interne Heterogenität sozialer Bewegungen anerkennt und zugleich eine gemeinsame Orientierung auf die Zukunft denkbar werden lässt. Wie kann ein Bezug auf die Vergangenheit aussehen, der emanzipatorische Zukunftsvisionen befördert, ohne die Vergangenheit für die Gegenwart zu instrumentalisieren?

Sonntag, 08. Dezember:


Kritischer Museumsbesuch
Vormittags
Mit der Initiative „Kolonialismus im Kasten?“: „Wo geht's denn hier zur Kolonialgeschichte?“
Auf der Suche im Deutschen Historischen Museum Berlin.
Im Anschluss Diskussion: Museen hacken - Was bringen kritische Interventionen?
Deutsches Historisches Museum
Unter den Linden 2
10117 Berlin
S+U Friedrichstraße
(barrierefreier Zugang)

Kontakt, Programm und aktuelle Informationen: unwrittenhistory@riseup.net
http://historyisunwritten.wordpress.com/
https://www.facebook.com/events/619890371385735/

Weitere Informationen

History is unwritten. Die Loukanikos-Debatte über linke Geschichtspolitik in ak