Documentation «Jenseits von Kohle und Stahl»

Sozialgeschichte der Arbeit und Transformation der Industriegesellschaft

Information

Date

25.03.2021

Organizer

Florian Weis,

Themes

Deutsche / Europäische Geschichte, Soziale Bewegungen / Organisierung, Arbeit / Gewerkschaften, Wirtschafts- / Sozialpolitik, Industrieumbau, Klasse

Lutz Raphael, Sozialhistoriker und Professur für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier, charakterisiert sein/e wissenschaftsgeschichtliche Verortung und Herkommen in pointiert knapper Form als Mischung aus den Positionen des britischen Sozialhistorikers E.P. Thompson («The Making of the English Working Class») und des französischen Soziologen Pierre Bourdieu («La Distinction. Critique sociale du jugement»/ «Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft»).

Lutz Raphael, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier, behandelt in seinem 2019 veröffentlichten Band «Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom» die Geschichte der Deindustrialisierung bzw. des Umbaus der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften in Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum von 1970 bis 2000. Darüber hinaus widmet er sich auch Fragen des Stellenwertes industrieller und manueller Arbeit und der Arbeiter*innenschaft im Kapitalismus, so etwa 2020 in seinem Beitrag «Arbeit im Kapitalismus» in der Zeitschrift «Arbeit – Bewegung – Geschichte» . 

In seinem Vortrag über die Entwicklung in Großbritannien, Frankreich und Deutschland zwischen 1970 und 2000 widmete er sich im ersten Schritt der «politischen Ökonomie der Deindustrialisierung», die er mit Beschäftigungskrisen infolge der «dritten industriellen Revolution», einer Neuverteilung industrieller Produktionsstandorte, einem Rückzug des Interventionsstaates und dem Durchbruch des Finanzmarktkapitalismus charakterisierte. Der «Abschied von Klassen und festen Sozialstrukturen» wurde in der behandelten Zeit vielfach als Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft beschrieben, in der die Arbeiter*innen gewissermaßen unsichtbar (gemacht) wurden. In der Folge geriet die Sozial- und Industriebürgerschaft unter Druck, was sich im Abbau lohnbasierter Sozialleistungen zeigte, aber auch in einer Krise der kollektiven Partizipation in der Arbeitswelt.

Im vierten Teil seiner Ausführungen («Facharbeit und Bildungskapital») ging Raphael auf die Neuverteilung von Wissen, Kompetenzen und somit auch Einfluss in der «dritten industriellen Revolution» ein. Dabei zeigten sich aber erhebliche Unterschiede zwischen den drei untersuchten Gesellschaften, in denen die je nationalen Bildungssysteme «Filter und Chancenverteiler» gewesen seien. In Deutschland habe das duale System sich als eine teilweise erfolgreiche Sperre gegen die Entwertung beruflicher Qualifikationen erwiesen. Die Betriebe hätten in dieser Phase sowohl als «Sicherheitsinseln» als auch als «Arbeitshäuser» gewirkt, indem einerseits eine stärkere Anerkennung durch eine soziale Mobilisierung festzustellen sei, was auch mit Kooperations- und Co-Management-Formen einhergehen konnte, andererseits «seelenlose Arbeitshäuser» ein wachsendes Konkurrenzwirken verdeutlichten. Die Großbetriebsstätte als Arbeitsort, ein wesentlicher Ort auch der Organisationskraft der Arbeiterbewegung, verlor schrittweise an Bedeutung. Daraus ergab sich auch eine gewisse «Peripherisierung der deindustralisierten Sozialräume». Deren Kennzeichen waren industrielle Brachen und Krisenregionen und eine «Krise der Vorstädte», denen eine industrielle Weiterentwicklung eher in bisherigen Randlagen und auch eine entsprechende Verlagerung der industriellen Beschäftigten in «suburbane Randzonen» gegenüberstand.

Abschließend stellte Raphael fünf zusammenfassende Thesen auf. Der «Fahrstuhleffekt» sei an ein Ende gekommen, statt des Versprechens auf einen allgemeinen Aufstieg gab es sowohl Gewinner*innen als auch viele Verlierer*innen. Betriebe und Unternehmen hatten Spielräume und nutzen sie unterschiedlich, von einer vollkommen einheitlichen und unausweichlichen Entwicklung von «Globalisierung» und «Deindustrialisierung» könne nicht gesprochen werden. Arbeits- und Sozialrecht behielten eine erhebliche Rolle und entwickelten sich keineswegs in eine Richtung aufeinander zu, sondern unterschieden sich erheblich. Demgegenüber sei eine «Ausweitung der Eigentümergesellschaft» in allen drei Gesellschaften festzustellen, wenngleich auf einem individuell vielfach sehr bescheidenen Niveau. Kaum eine Maßnahme der aggressiven Deregulierungs- und Deindustrialisierungspolitik der Regierung Thatcher (1979 bis 1990) war so populär wie der Verkauf der kommunalen Wohnungsbestände an deren Mieter*innen. Im Ergebnisse stand eine «Atomisierung der classes populaires» (oder «working classes»).

Es handelte sich um eine gemeinsame Online-Veranstaltung von Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Redaktion der Zeitschrift «Arbeit-Bewegung-Geschichte».

Moderation: Dr. Florian Weis (Rosa-Luxemburg-Stiftung). Grußwort für die Redaktion der Zeitschrift «Arbeit-Bewegung-Geschichte»: Dr. Dietmar Lange