Am 30.03.1856 trat der russische Zar Alexander II (1818 – 1881) nicht vor sein Volk, sondern vor die versammelten Adelsvertreter des Moskauer Gouvernements und verkündete: »Es ist besser die Leibeigenschaft von oben heraufzuheben, als darauf zu warten, bis sie beginnt, sich selbst von unten her abzuschaffen.«
Der russische Feudalismus war an eine Grenze gelangt. Es schien Alexander geboten, einen der Grundpfeiler feudaler Herrschaft, die Leibeigenschaft, preiszugeben, um die absolute Herrschaft der Zaren zu sichern. Dagegen regte sich in den eigenen Reihen Widerstand. Deshalb verwundert es nicht, dass fast fünf weitere Jahre vergingen, bis am 19.02.1861 die Aufhebung der Leibeigenschaft verkündet werden konnte.
Fast auf den Tag genau, ein Jahr zuvor, nämlich am 17.01.1860 wurde Anton Pavlovitsch Tschechow als Sohn eines ehemaligen Leibeigenen und jetzigen Kaufmanns in Taganrog geboren.
Am 19.02.1897 lud man auch Tschechow, der gerade in Moskau war, zur alljährlichen Feier der »großen Reform« ein. Er notiert im Tagebuch: »Essen […] zur Erinnerung an die große Reform. Langweilig und unsinnig. Essen, Champagner trinken, herumschreien, Reden halten zum Thema Bewusstsein des Volkes, Freiheit usw., während rund um den Tisch Sklaven im Frack huschen, eben jene Leibeigenen, und auf der Straße im Frost die Kutscher warten – das heißt lügen wider den heiligen Geist.«
In seinen Erzählungen thematisiert Tschechow immer wieder das Verhältnis von Dienern und Bedienten, von vormals Leibeigenen, die nunmehr Lohnarbeit verrichten, zu ihren »Arbeitgebern« und umgekehrt. Da diese ungleichen Partner auf engstem Raum zusammenleben, sind die persönlichen und sozialen Beziehungen für die agierenden Figuren selbst dort oft bis zur Unkenntlichkeit verflochten. Tschechows diagnostische Fähigkeiten bewähren sich im Blick auf die Macht der Beharrungskräfte im Neuen. Tatsächlich blieb das russische Bürgertum bis zum Ende im Oktober 1917 ein Anhängsel des Zarismus. – Der Vortrag untersucht diese Beziehungen anhand unterhaltsamer Beispiele aus Tschechows Erzählungen.
Joachim Gerber (Jahrgang 1951) studierte in Gießen Politik und Germanistik für das Lehramt an Gymnasien. Nach dem Referendariat arbeitete er im DaF-Bereich und kam auf diesem Weg durch Vermittlung der Zentralstelle für Auslandsschulen (ZfA) in die Ukraine, wo er als Bundesprogrammlehrer von 1997 bis 2016 in Lviv und Charkiv arbeitete. Während seiner Tätigkeit entdeckte er Tschechow für sich und trat der Tschechow Gesellschaft in Badenweiler bei. Badenweiler ist der Ort, wo Tschechow 1904 gestorben ist. Gegenwärtig arbeitet er, obwohl Rentner, (immer noch) als DaZ-Lehrer in Gießen.
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