News | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Geschlechterverhältnisse - Osteuropa Das alte Patriarchat als neue «russische» Idee

Russland: Rückkehr zum Konservatismus, gesellschaftliche Resonanz und Widerstand

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Um die Situation der Frauen in Russland besser verstehen zu können, reicht es nicht aus, konkrete Probleme oder Errungenschaften zu thematisieren. Vielmehr ist es notwendig, den allgemeinen Kontext zu erfassen, in dem wir uns bewegen. In den letzten hundert Jahren hat unser Land eine Revolution, Kriege sowie einen vollständigen Wandel gesellschaftlicher Paradigmen durchlebt. So war das Russische Kaiserreich noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein landwirtschaftlich geprägter, patriarchaler Staat mit gesellschaftlichen Institutionen, die diesem Hintergrund entsprangen. Dabei hatte die Revolution des Jahres 1917 die Rechte von Frauen und Männern abrupt gleichgestellt: In den ersten Jahren des Bestehens der sowjetischen Macht bekamen Frauen für die damalige Zeit grundlegende Rechte zugesprochen, wodurch die Sowjetunion andere Länder in ihrer Entwicklung überholte. Das Recht auf Abtreibung, die Beibehaltung des Geburtsnamens in der Ehe, die Vereinfachung von Scheidungen und gleiche politische Rechte – all dies war plötzlich Teil des gesellschaftlichen Lebens geworden. Allerdings stand der deklarierte Stand der Dinge in starkem Kontrast zur vorherrschenden Realität. Wie wir wissen, griff der Staat beständig in die Freiheit von Frauen ein, indem er Abtreibungen verbot oder einschränkte, die Familie zur Keimzelle der sozialistischen Gesellschaft deklarierte und die Traditionen patriarchaler Beziehungen bewahrte. Und aus meiner Sicht sind wir genau zu jener Zeit in eine Falle von Bewusstseinslügen getappt: Einerseits verfügten Frauen über ein ziemlich großes Paket an Rechten, um die in anderen Ländern noch erbittert gekämpft wurde, doch andererseits war die Frauenfrage noch immer nicht geklärt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hörten diese Rechte auf, Möglichkeiten zu sein, und die öffentliche Diskussion darüber brach ab. Eine ähnliche Situation hatten wir in unserem Land zum Beispiel auch mit den Gewerkschaften, die als Sprachrohr der Arbeiter ihre Bedeutung verloren hatten – denn im «Land des siegenden Sozialismus» war ja schließlich kundgetan worden, dass es keine Unterdrücker mehr gäbe. Und mit diesem ganzen Gepäck kamen wir dann in den 90ern an, als das gesamte soziale System zusammenbrach und alle bestehenden sozialen Widersprüche ans Tageslicht kamen.

Viele Leute verbinden diese Phase unseres Landes in ihrer Erinnerung damit, dass das bloße Überleben zum alles bestimmenden Thema wurde. Es herrschte totale Arbeitslosigkeit und wir lebten in einer Krise. Und natürlich waren hiervon vor allem die Frauen betroffen, von denen ein Großteil wieder die Hausfrauenrolle annehmen musste. Der Mann wurde erneut mit der Rolle des Ernährers assoziiert, die Frau hingegen als Erzieherin der Kinder angesehen. Die Kirche kehrte ebenfalls zu ihren gewohnten Standpunkten zurück.

Andererseits – um hier kein allzu grelles Bild zu zeichnen – muss man ebenfalls feststellen, dass in dieser Zeit auch Handlungsfreiheit entstand: Es wurden unterschiedliche Basis-Frauenorganisationen gegründet, NGOs und internationale Beziehungen aufgebaut, und man begann, aktuelle feministische Themen zu diskutieren. Und schlussendlich wurde es auch möglich, ausländische Literatur zu lesen und Vergleiche anzustellen.

Heute vollzieht sich dieser Prozess, wie mir scheint, in den großen Städten noch etwas schneller. Noch vor fünf Jahren gab es nicht ansatzweise so viele feministische Initiativen wie jetzt. Da ich selbst im Moskauer Sitz der Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeite und wir solche Projekte unterstützen, kann ich das auf der Grundlage meiner Erfahrung der letzten Jahre feststellen. In den letzten drei Jahren haben sich unterschiedliche Basisgruppen an uns gewandt, mit denen wir eine Reihe von Kunstausstellungen und Bildungsprogrammen durchgeführt haben, und ich kann daher sagen, dass sich diese Leute Stück für Stück miteinander vernetzen, sodass aus einem kleinen Kreis ein großes Netzwerk an Initiativen wird.

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