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Bürgerlicher Ungehorsam oder soziale Protestbewegung?

1. Mai Protest in Belgrad, Foto: Krunoslav Stojaković
1. Mai Proteste in Belgrad, Foto: Krunoslav Stojaković

Die von Aleksandar Vučić mit großem Abstand gewonnenen Präsidentschaftswahlen vom 2. April haben ihm neben dem Präsidentenamt vor allem auch eine sich unerwartet rasch formierende und in ihrer aktionistischen Ausdauer lebendige Protestbewegung beschert.

Keine vierundzwanzig Stunden nach einer gewohnt pathetischen Pressekonferenz, auf welcher er seinen deutlichen Sieg und die politische Dominanz der «Serbischen Fortschrittspartei» verkündet hatte, gingen in zahlreichen Städten Serbiens zunächst vor allem junge Leute auf die Straßen um gegen den vermuteten Wahlbetrug zu protestieren – in Belgrad, Čačak, Kragujevac, Niš, Novi Sad dominierten Banner mit Aufschriften «Wo sind unsere Stimmen?», «Vučić, du Dieb, du hast die Wahlen gestohlen». Wütend waren die Protestierenden zudem über den immer autoritärer werdenden Politik- und Regierungsstil von Aleksandar Vučić und seiner Regierungsmannschaft. Ihren Ausdruck fand diese Wut folgerichtig in Forderungen wie etwa «Stopp der Diktatur» oder «Freiheit den Medien».

Eine politisch kohärente und artikulierte Trägergruppe gab es indes nicht in der Anfangsphase dieser Proteste. Hinter der auf dem sozialen Netzwerk Facebook errichteten Seite «Gegen die Diktatur» verbargen sich bis dahin politisch eher uninteressierte Studierende, aber auch Schülerinnen und Schüler, die angesichts der schlechten Lebensbedingungen und Entwicklungschancen in Serbien zwar grundsätzlich unzufrieden mit der Politik sind, die jedoch erst jetzt durch das virulente Demokratiedefizit, welches sich während der Wahlkampagne offenbarte, aktiv wurden.

Als «kritisches Ereignis» diente somit ein eher prozeduraler Moment, dessen politische Mobilisierungskraft sich in den folgenden Tagen in Form einer immer größer werdenden Protestbewegung manifestierte. Dieser Ursprung ist es denn auch, der eine linke, sich auf sozioökonomische und systemische Fragen abzielende Beteiligung an den Protesten zunächst erschwerte.

Eine Ausnahme stellte die nordserbische Stadt Novi Sad dar. Hier wurden die Proteste überwiegend von politisierten Studierenden der örtlichen Universität getragen und von lokalen linken Organisationen unterstützt. Generell jedoch sah sich die Linke in eine Situation gedrängt, in der sie sich solidarisch mit den Protestierenden zeigen wollte, gleichzeitig aber auch eine eigene politische Agenda formulieren musste um im Kontext der sich ausbreitenden Protestbewegung antisystemische und sozioökonomisch weiterreichende Forderungen zu stellen. Dieser ideologische Spagat, dem sich die maßgeblichen Trägergruppen der Protestbewegung ausgesetzt sahen, war letztlich auch verantwortlich für das politische Auseinanderdriften der Bewegung insgesamt. Bevor dies jedoch konstitutiv und nicht mehr camouflierbar wurde, bewegte sich die Protestbewegung durchaus auf eine sozioökonomisch basierte Kritik des herrschenden neoliberalen Systems in Serbien zu.

Ab dem dritten Protesttag wurden Form und Zusammensetzung der ersten beiden Tage überwunden. Die Proteste wurden – zumindest in Teilen – politischer und umfassten eine breitere gesellschaftliche Basis. Gingen wie erwähnt anfangs noch hauptsächlich SchülerInnen und Studierende auf die Straße, um gegen die mutmaßlichen Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschaftswahlen zu protestieren, wurden spätestens seit dem dritten Tag nicht mehr ausschließlich Wahlunregelmäßgkeiten beanstandet, sondern soziale, ökonomische und weiterreichende politische Forderungen gestellt – und dies im ganzen Land. Während Vučić in Belgrad traditionell einen schwereren Stand hat als im Landesinneren, waren gerade die Proteste in Städten wie Niš, Kraljevo, Čačak, Kragujevac oder Vranje nicht unbedingt zu erwarten und somit für die regierende Elite potentiell besorgniserregend.

Wie schon in deutschen Medien berichtet wurde, befand sich Vučić selbst bei Ausbruch der Proteste im bosnisch-herzegowinischen Mostar auf einem Wirtschaftstreffen, auf dem er in einem Kommentar bemerkte, jeder habe das Recht mit dem Wahlausgang zufrieden oder eben unzufrieden zu sein. Den Protestierenden hingegen warf er unverblümt vor, arbeitsscheu zu sein denn wie sonst hätten sie tagsüber Zeit auf die Straße zu gehen.

Die Proteste wurden unterdessen immer größer, so dass teilweise allein in Belgrad am 6., 7. und 8. April jeweils bis zu 40.000 Menschen auf die Straße gingen. Am 8. April, einem Samstag, fand sogar eine parallele Protestkundgebung der Polizei- und Soldatengewerkschaft statt. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die Proteste an allen Tagen friedlich geblieben – von Teilnehmenden wird zudem mit Verwunderung darüber berichtet, dass fast keine Polizeikräfte sichtbar waren, was sicherlich als Taktik der Regierenden gedeutet werden kann, bloß keine Provokationen hervorzurufen deren Ausgang sie dann kaum kontrollieren könnten.

Das bisher passive Verhalten der serbischen Regierung und ihrer Repressionsorgane hat, Berichten zufolge, schon zu ersten «Erfolgen» geführt – nämlich zu einem graduellen Abflauen und einer gewissen Sättigung.