Publication Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Kapitalismusanalyse - Soziale Bewegungen / Organisierung - Rassismus / Neonazismus - Bildungspolitik - Erweiterung des Terrains Eine neue soziale Bewegung?

Ulrike Hamann: «Eine Art politische Bildung im Kleinen, selbstständig, nicht organisiert ...»

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Ulrike Hamann,

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May 2017

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Ulrike Hamann
Ulrike Hamann, Foto: Privat

Die Berliner Migrationsforscherin und Mieten-Aktivistin Ulrike Hamann zu den politischen Lernprozessen in der Willkommensbewegung und warum sich die Linke diesen Initiativen mit Demut nähern sollte.

Unter dem Titel «Die Erweiterung des Terrains. Migrationspolitik als Transformationsprojekt. Eine Baustellenbesichtigung» befragt unser Autor Günter Piening zehn ausgewiesene Expert*innen im Bereich der Migrations- und Rassismusforschung zu Perspektiven (post-)migrantischer Interventionen. Die einzelnen Gespräche thematisieren das europäische Grenzregime, globale Bürgerrechte, die Rolle des Wohlfahrtstaates in den Klassenauseinandersetzungen, die Solidarität in betrieblichen Kämpfen, die Geschlechterfrage in postkolonialen Verhältnissen, die Kämpfe der Geflüchteten um Teilhabe und die Stärke (post-)migrantischer Lebenswelten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Migration als ein Vermögen begreifen, die soziale Frage in einem demokratisierenden Sinn zu beantworten. Unser Dossier «Migration» setzt damit der gesellschaftlichen Polarisierung, die gegenwärtig vor allem um die Frage von Einwanderung, Teilhabe und Bürgerrechte kreist, eine linke Position jenseits national-sozialer Kurzschlüsse entgegen.
Bis Ende Juni 2017 veröffentlichen wir jeden Montag eines der insgesamt zehn Expertengespräche.

Günter Piening: Sie haben in Ihrer Forschung das Entstehen und den Charakter der Willkommensinitiativen mit Schwerpunkt Berlin, Brandenburg und Sachsen untersucht1. Handelt es sich dabei, ein wenig schlicht gesprochen, eher um eine karitative oder um eine politische Bewegung? 

Ulrike Hamann: Es gibt seit langer Zeit Solidarität mit Geflüchteten. Früher, in den Neunzigern, haben die Initiativen die Auseinandersetzung mit dem Grenzregime aus einer starken politischen Motivation geführt. Aber es gab auch immer lokale, eher karitativ arbeitende Gruppen. Wie schnell 2015 die vielen neuen Initiativen entstanden und handlungsfähig wurden, war aber für viele überraschend.

Man muss jedoch, wenn man ihren Charakter einschätzen will, die Ebenen, auf denen sie wirken, unterscheiden. Das sind die gesellschaftliche, die kommunale und die persönliche Ebene.

Die neuen Initiativen repräsentieren nach wie vor ein breites Spektrum. Aber der Anteil der mehr aus den bürgerlichen Schichten kommenden, vorher nicht politisch engagierten Menschen ist deutlich gestiegen. In einer repräsentativen Studie2 wurde festgestellt, dass sich 15,6 Prozent der Gesamtbevölkerung mit Hochschulabschluss engagieren, hingegen nur 5,6 Prozent mit einem Volks- oder Hauptschulabschluss. Man kann diese Zahlen damit erklären, dass höher Gebildete womöglich ein stärker ausgeprägtes Verständnis von gesellschaftlicher Teilhabe haben, aber es stellt sich gleichwohl die Frage, inwieweit die Strukturen offen sind für Menschen ohne Hochschulabschluss und wie sie stärker in das Engagement eingebunden werden können. Der Anteil von Engagierten mit Migrationshintergrund von 24 Prozent liegt über dem gesellschaftlichen Durchschnitt und zeigt, dass sich die Migrationserfahrung auf die Bereitschaft zur Solidarität positiv auswirkt.

Insgesamt hat sich jede*r zehnte Bundesbürger*in auf die eine oder andere Weise engagiert, das ist eine beachtliche Zahl. Dabei hat nicht nur die Berichterstattung über Krieg und Flucht und das Sterben im Mittelmeer viele aktiviert, sondern auch das Bedürfnis, Gesellschaft gestalten zu wollen (97 Prozent). Dazu kam, gerade in ostdeutschen Kommunen, der Wunsch, den rechten Parolen und der Anti-Einwanderungsstimmung etwas entgegenzusetzen – etwa 90 Prozent der Engagierten sehen in ihrer Tätigkeit eine Stellungnahme gegen Rassismus. Die Praxis der Willkommensbündnisse hat bis Ende 2015 den Diskurs um Einwanderung und Flucht stark verändert und beinahe ein Selbstverständnis der offenen solidarischen Gesellschaft etabliert. Auch als der Medienhype nachließ und nach den Kölner Ereignissen zu Silvester 2015 die Stimmung endgültig kippte, ließ das Engagement kaum nach. Die Initiativen haben sich davon nicht beeinflussen lassen. Ungeachtet des anhaltenden Engagements konnten die Initiativen allerdings dem Diskurswechsel «nach Köln» nichts entgegensetzen und haben ihre Arbeit im gesellschaftlich unsichtbaren Bereich fortgesetzt. Ihre Stärke der guten lokalen Verankerung ist gesamtgesellschaftlich gesehen gleichzeitig ihre Schwäche, weil sie über eine lokale Hegemonie nicht hinaus kommen.

Politisch sind die Initiativen nicht in einem festen Raster zu verorten. Sie sind zu einem hohen Grad selbst organisiert. Alle zeichnen sich durch ein sehr pragmatisches Gespür für ihre Arbeit aus. Die Initiativen betrachten sich nicht im klassisch linken Sinne, als «autonom» – als unabhängig vom Staat –, sondern sind sehr daran interessiert, mit staatlichen Stellen zusammenzuarbeiten.

Welche Vorstellungen von Einwanderung, von heterogener Gesellschaft, prägt diese Gruppen? Sind es mehr Assimilierungsbilder oder - wenn man so will - postmigrantische?

Die Bewegung ist selbst sehr heterogen, abhängig von den lokalen Gegebenheiten. Heterogenität wird positiv aufgenommen, man geht mit einer großen Neugier in die Begegnung mit Geflüchteten und anderen Engagierten. Das wird  immer wieder betont – 94 Prozent haben Interesse an anderen Kulturen und wollen mehr über die Welt erfahren und 92 Prozent betonen, dass ihnen die offene Gesellschaft und der soziale Zusammenhalt wichtig sind. Gerade die Engagierten, die keine oder wenig Erfahrung mit Migration hatten – etwa in ostdeutschen Kommunen –, sind unheimlich neugierig und erleben einen neuen Umgang mit Differenz, wodurch sie lernen auch eigene Defizite zu erkennen. So berichteten in unserer bundesweiten Befragung von Koordinator*innen der ehrenamtlich Engagierten diese von einer starken Nachfrage von Weiterbildungsangeboten für interkulturelle Bildung.
 

In der Mittler*innen-Position

Nichtsdestotrotz sehen sich viele Engagierte in einer Mittler*innen-Position, in der sie sich die Aufgabe zuschreiben, die für die deutsche Gesellschaft nach ihrer Ansicht relevanten Werte zu vermitteln. Dabei wird beispielsweise viel über Geschlechtervorstellungen von Geflüchteten nachgedacht und häufig eine Differenz unterstellt. Dementsprechend sind dann auch Überraschungsmomente groß, wenn die vorherrschenden Vorurteile durch Geflüchtete nicht bestätigt werden.

Es gibt also beides. Es gibt die Haltung «Wir müssen 'unsere' Werte weitergeben, die diese Gesellschaft ausmachen» und gleichzeitig werden die eigenen Werte hinterfragt, interessiert man sich dafür, wie andere mit Situationen umgehen. Es ist im besten Sinne ein äußerst dynamisches Feld der Verhandlung von Differenz, das, so würde ich es vorsichtig optimistisch ausdrücken, Teil der postmigrantischen Gesellschaft ist, solange es offen für den Irrtum bleibt und nicht versucht, eine dominante Wir-Erzählung zu erzeugen.

Der Eindruck eines die Initiativen prägenden Paternalismus ist also falsch?

Natürlich gibt es das. Wie soll es auch anders sein, denn alle Engagierten sind Teil dieser Gesellschaft, die geprägt ist von Kolonialismus und Rassismus. Aber der Umgang mit Geflüchteten bringt Irritationen, zwingt zur Reflexion der eigenen Standards. Viele Unterstützer*innen kommen aus einem eher bildungsbürgerlichem Milieu und erfahren – womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben – was strukturelle Diskriminierung heißt, und was Menschen, die nicht so gut gestellt sind wie sie selbst, in den Institutionen erleben. Das heißt noch nicht, dass eine Kritik an strukturellem Rassismus artikuliert wird, aber die Ansätze sind da. Eine Begleiterscheinung des Paternalismus ist ja auch eine Erwartung von Dankbarkeit von den Geflüchteten gegenüber den «Helfenden». Interessanterweise ist diese Erwartungshaltung unter den unter 30jährigen viel stärker verbreitet (64 Prozent), als unter den über 60jährigen (39 Prozent), denen man kulturell vielleicht noch eher einen Hang zum Paternalismus unterstellen würde.

Wird der Begriff der «Integration» kritisch reflektiert?

Integration – klar, den Begriff gebrauchen alle, weil er Teil des Diskurses über Migration und Flucht ist. Aber die Vorstellung, was sich dahinter verbirgt, verändert sich. Es entsteht eine Idee davon, dass sich die Gesellschaft ändern muss und dass sie selbst als Subjekte Teil dieser Veränderung sind. Es gibt nicht immer eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff an sich, aber es gibt eine veränderte Vorstellung davon, was «Ankommen» heißen kann, und wer welche Aufgaben übernehmen muss. Integration wird also nicht als Einbahnstraße und auch nicht mehr als einseitiger Imperativ wahrgenommen.

Solche positiven Einschätzungen über die Lernprozesse in der Willkommenskultur gerade auch in Ostdeutschland höre ich immer wieder. Aber wo finde ich dies im öffentlichen Diskurs? Der läuft doch genau in die gegenteilige Richtung ...

Diese Diskursverschiebung hin zu einer negativ geprägten Diskussion über Einwanderung haben diese Initiativen wenig entgegen gesetzt. Das hat auch uns überrascht, dass es kaum Öffentlichkeitsarbeit gab, kein Bedürfnis sich öffentlich zu äußern. Ich habe danach in den Interviews gefragt. Fehlende Zeit, fehlende Ressourcen werden als Ursachen angegeben. Viele gehen in der Eins-zu-Eins-Betreuung auf und erfahren das persönlich als sehr positiv. Es scheint die Kraft oder das Interesse zu fehlen, diese Erfahrung nach außen zu tragen.